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Covid-19: Wie Sars-CoV-2 das Gehirn schädigt

Für die häufigen neurologischen Symptome bei Covid-19 sind mehrere Ursachen denkbar. Neben einem direkten Angriff auf Hirnzellen diskutieren Fachleute auch die Rolle von Blutgefäßen und Immunsystem.
Computerbildschirme mit Hirnscans und ein Mikroskop im Vordergrund.

Es wird immer deutlicher, wie Covid-19 dem Gehirn schadet. Neue Indizien legen nahe, dass das Coronavirus das Gehirn auf verschiedene Arten angreifen kann. So könnte es direkt einen bestimmten Typ von Hirnzellen attackieren, den Blutfluss ins Gehirn stören oder die Produktion bestimmter Immunmoleküle auslösen, die Hirngewebe schädigen.

Sicher ist, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 verschiedene Auswirkungen aufs Gehirn haben kann, darunter Gedächtnisstörungen und Schlaganfälle. In einer Studie hatten 80 Prozent aller mit Covid-19 hospitalisierten Patientinnen und Patienten neurologische Symptome. Weil so viele Menschen betroffen sind, hoffen Fachleute, dass die wachsende Datenbasis bald Hinweise auf bessere Behandlungen gibt. Die entscheidende Frage, sagt die Neurologin Serena Spudich von der Yale University, sei aber: »Können wir früh in diese Veränderungen eingreifen, so dass die Betroffenen keine langfristigen Probleme haben?«

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Die Auswirkungen von Sars-CoV-2 können schwer wiegend sein. In einer Vorabveröffentlichung vom Februar 2021 verglich eine Arbeitsgruppe die Gehirne Infizierter vor und nach Covid-19 und stellte in mehreren Hirnregionen einen Verlust grauer Substanz fest.

Neurone sind wohl nicht betroffen

Zu Anfang der Pandemie spekulierten Fachleute, dass das Virus womöglich Schaden anrichtet, indem es irgendwie ins Gehirn gelangt und Neurone infiziert – jene Zellen, die Informationen übertragen und verarbeiten. Doch seitdem haben Untersuchungen nahegelegt, dass das Virus Schwierigkeiten hat, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen; und außerdem, dass es nicht notwendigerweise die Neurone selbst angreift.

Ein anderer Weg für das Virus ins Gehirn könnte die Riechschleimhaut der Nase sein. Diese kleidet die Nasenhöhle aus, und das Virus ist dort oft zu finden. Dennoch »sind nicht massenhaft Viruspartikel im Gehirn«, sagt Spudich, die Koautorin eines im April 2021 veröffentlichten Übersichtsartikels über Daten und Anhaltspunkte zum Thema ist. Doch das heißt nicht, dass das Virus überhaupt keine Hirnzellen infizieren würde.

Inzwischen deuten Studien darauf hin, dass Sars-CoV-2 Astrozyten infizieren kann. Die Zellen kommen im Gehirn häufig vor und haben dort viele verschiedene Funktionen. »Astrozyten machen viel, das die normalen Gehirnfunktionen unterstützt«, unter anderem lieferten sie den Neuronen Nährstoffe, um sie am Laufen zu halten, erklärt Arnold Kriegstein, Neurologe an der University of California in San Francisco.

In einer im Januar 2021 erschienenen Vorabveröffentlichung berichteten Kriegstein und sein Team, dass Sars-CoV-2 unter den Hirnzellen bevorzugt Astrozyten infiziert. Die Fachleute setzten Hirnorganoide – aus Stammzellen gezüchtete kleine hirnartige Strukturen – dem Virus aus, das daraufhin fast ausschließlich die Astrozyten in den »Minihirnen« befiel.

Warum Astrozyten so wichtig sind

Untersuchungen einer Gruppe um Daniel Martins-de-Souza, den Leiter der Abteilung für Proteomik an der Landesuniversität Campinas in Brasilien, stützen die Ergebnisse aus dem Labor. In einer Vorabveröffentlichung vom Februar 2021 berichtete das Team über Proben aus den Gehirnen von 26 an Covid-19 Verstorbenen. Bei fünf von ihnen fand es Spuren von Sars-CoV-2 in Gehirnzellen, und 66 Prozent der betroffenen Zellen waren Astrozyten.

Infizierte Astrozyten könnten einige der neurologischen Symptome in Verbindung mit Covid-19 erklären. Besonders Erschöpfung, Depression und »brain fog«, eine Sammlung von Symptomen wie Verwirrung und Vergesslichkeit, erklärt Kriegstein. »Diese Symptome würden dann nicht auf Schäden an den Neuronen zurückgehen, sondern auf irgendeine Art Dysfunktion. Das könnte zu einer Anfälligkeit der Astrozyten passen.«

Astrozyten könnten sogar dann vom Virus gestört werden, wenn sie gar nicht direkt befallen werden. Eine am 21. Juni 2021 veröffentlichte Studie verglich die Gehirne von acht an Covid-19 verstorbenen Personen mit 14 Gehirnen von nicht infizierten Toten. Die Fachleute fanden in den Gehirnen der Infizierten keine Spur des Virus, doch bei einigen Astrozyten war das Auslesen bestimmter Gene in der Art verändert, dass sie nicht mehr normal funktionierten.

Vor dem Hintergrund dieser Befunde möchten Fachleute nun wissen, wie viele Hirnzellen entweder infiziert oder anderweitig geschädigt sein müssen, damit Symptome auftreten, sagt Ricardo Costa, Physiologe an der Louisiana State University in Shreveport, dessen Arbeitsgruppe die Wirkung von Sars-CoV-2 auf Gehirnzellen untersucht.

Vielleicht sind die Blutgefäße beteiligt

Unglücklicherweise gebe es wohl nicht die eine einfache Antwort, sagt Kriegstein. Er weist darauf hin, dass Neurone und andere Zellen in bestimmten Teilen des Gehirns stärkere Ausfälle verursachen, wenn sie beschädigt werden, als in anderen.

Zudem mehren sich Indizien dafür, dass Sars-CoV-2 das Gehirn beeinflusst, indem es den Blutfluss einschränkt. Dadurch beeinträchtigt es die Funktion der Neurone oder tötet sie gar. Perizyten sind Zellen der als Kapillaren bezeichneten feinen Blutgefäße, die den ganzen Körper durchziehen – auch das Gehirn. In einer Vorabveröffentlichung im Februar 2021 berichtete eine Arbeitsgruppe, dass das Coronavirus perizytenähnliche Zellen in Gehirnorganoiden infizieren könne.

Im April 2021 wiederum veröffentlichte der Neurowissenschaftler David Attwell vom University College London mit seinem Team eine vorläufige Analyse, laut derer Sars-CoV-2 das Verhalten von Perizyten beeinflusst. Die Fachleute beobachteten in Scheiben von Hamsterhirnen, dass das Coronavirus bestimmte Rezeptoren dieser Zellen blockiert, so dass sich die Kapillaren zusammenziehen. »Es zeigte sich, dass das ein großer Effekt ist«, sagt Attwell.

Die Rolle der Autoantikörper

Das sei eine »echt coole« Studie, sagt Spudich. »Das könnte etwas sein, das einige der dauerhaften Schäden bedingt, die wir so sehen – einige der Schlaganfälle in kleinen Blutgefäßen.« Attwell schlägt vor, dass Medikamente gegen hohen Blutdruck – bei dem kontrahierte Blutgefäße auch eine Rolle spielen – bei einigen an Covid-19 erkrankten Menschen nützlich sein könnten. Derzeit untersuchen zwei klinische Studien den Effekt des Blutdrucksenkers Losartan auf die Erkrankung.

Zusätzlich gibt es Anzeichen dafür, dass ein Teil der Symptome und Schäden das Ergebnis einer Überreaktion oder gar Fehlregulation des Immunsystems sind. In den letzten 15 Jahren sei deutlich geworden, dass bei einigen Menschen das Immunsystem während einer Infektion unbeabsichtigt »Autoantikörper« produziert und mit ihnen die eigenen Gewebe angreift, sagt Harald Prüß vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-Gemeinschaft.

Das kann auch Langzeitfolgen haben, zum Beispiel Neuromyelitis optica, bei der Betroffene Symptome wie Sehverlust und Muskelschwäche entwickeln. In einem Übersichtsartikel von Mai 2021 trug Prüß Indizien zusammen, dass diese Autoantikörper auch die Blut-Hirn-Schranke durchdringen können und dann zu neurologischen Problemen beitragen, etwa Gedächtnisstörungen oder gar Psychosen.

Der Mechanismus könnte auch bei Covid-19 zu Beschwerden beitragen. In einer Studie von 2020 isolierten Prüß und sein Team Antikörper gegen Sars-CoV-2 und fanden einen, der Hamster vor Ansteckung und Lungenschäden schützte. Das Ziel war, eine neue Behandlung zu entwickeln. Doch die Arbeitsgruppe stellte fest, dass die Antikörper auch an Hirngewebe binden – was andeutet, dass sie es schädigen könnten. »Derzeit versuchen wir, das klinisch und experimentell zu belegen«, sagt Prüß.

In einer zweiten Veröffentlichung von Dezember 2020, an der Prüß beteiligt war, untersuchte eine Arbeitsgruppe Blut und Liquor von elf kritisch an Covid-19 erkrankten Personen, die alle neurologische Symptome zeigten. Sie alle produzierten Autoantikörper, die an Neurone binden können. Außerdem gibt es Indizien, dass die Wirkungen der Autoantikörper unterdrückt werden, wenn man Patienten bestimmte Immunglobuline – also Antikörper – intravenös verabreicht. Das sei »recht erfolgreich«, sagt Prüß.

Diese Mechanismen – vermittelt durch Astrozyten, Perizyten und Autoantikörper – schließen einander nicht gegenseitig aus. Möglicherweise sind sie auch nicht die ganze Erklärung. Es ist wahrscheinlich, dass an Covid-19 erkrankte Personen durch eine ganze Reihe von Ursachen neurologische Probleme bekommen. Entscheidend sei, welcher Anteil der Fälle auf welche Weise zu Stande komme, sagt Prüß. »Das wird letztendlich über die Behandlung entscheiden.«

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