Pandemie-Simulationen: Üben für den Ernstfall
Wie alle Pandemien begann auch diese harmlos. Ein neues Coronavirus tauchte in Brasilien auf, sprang von Fledermäusen auf Schweine über und von dort auf Landwirte. Die Viren erreichten schließlich eine größere Stadt mit einem internationalen Flughafen – und von dort aus trugen infizierte Reisende das Virus in die USA, nach Portugal und nach China. Innerhalb von 18 Monaten hatte sich das Coronavirus über die ganze Welt verteilt, 65 Millionen Menschen waren daran gestorben, und die Weltwirtschaft befand sich im freien Fall.
Dieses als »Event 201« (»Ereignis 201«) bezeichnete Szenario wurde im Oktober 2019 in einem New Yorker Konferenzzentrum einem Gremium aus Wissenschaftlern, Regierungsvertretern und Geschäftsleuten vorgestellt. Die Anwesenden waren erschüttert – und genau das wollte Ryan Morhard erreichen. Der Experte für biologische Sicherheit ist für das Weltwirtschaftsforum in Genf tätig. Die führenden Köpfe der Welt nahmen, so seine Sorge, die Gefahr einer Pandemie nicht ernst genug. Deshalb wollte er sie mit den möglicherweise immensen Verlusten an Menschenleben und den gewaltigen wirtschaftlichen Folgen konfrontieren. »Wir nannten es ›Event 201‹, weil wir bis zu 200 Epidemie-Ereignisse pro Jahr beobachten«, erklärt Morhard, »und wir wissen, dass unter Umständen eins davon zu einer Pandemie führen könnte.«
Der Zeitpunkt der Präsentation und die Wahl eines Coronavirus erwiesen sich als geradezu hellseherisch: Nur zwei Monate später kamen aus China Berichte über einen mysteriösen Ausbruch von Lungenentzündungen in der Stadt Wuhan – es war der Beginn der Covid-19-Pandemie. Bislang sind weltweit rund 800 000 Menschen an den Folgen der Krankheit gestorben.
Morhard war nicht der Einzige, der Alarm schlug. »Event 201« war nur eine von Dutzenden Simulationen und Analysen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, die die Risiken von Pandemien aufzeigten und auf Lücken in den Fähigkeiten von Regierungen und Organisationen, auf Pandemien zu reagieren, hinwiesen.
Diese Planspiele sahen viele Probleme voraus, die bei der Bekämpfung von Covid-19 bislang tatsächlich aufgetreten sind: Verstöße gegen Reiseverbote, fehlende medizinische Ausrüstung, schlechte Organisation, Verbreitung falscher Informationen und das Gerangel um Impfstoffe. Doch es gibt auch unerwartete Probleme, die von den Szenarien nicht berücksichtigt wurden, etwa den Mangel an diagnostischen Tests – und Politiker, die den Rat von Gesundheitsexperten einfach ignorieren.
Vor allem haben die Forscher nicht vorhergesehen, dass die USA zu den am stärksten betroffenen Ländern zählen würden. Im Gegenteil: Noch im Jahr 2019 sahen führende Experten für biologische Sicherheit die USA an der Spitze des »Global Health Security Index«, der auf Basis von mehr als 100 Faktoren vergleicht, wie gut 195 Länder auf die Bekämpfung einer ausbrechenden Epidemie vorbereitet sind. Präsident Trump hielt am 27. Februar 2020 bei einer Besprechung im Weißen Haus eine Kopie dieses Berichts hoch und betonte: »Wir sind die Nummer eins!« Zu diesem Zeitpunkt breitete sich Covid-19 bereits unentdeckt in den USA aus.
Inzwischen haben sich mehr als 5,5, Millionen Menschen in den USA mit Sars-CoV-2 infiziert, mehr als 174 000 sind gestorben – und die USA präsentieren sich als eine der Nationen, die am schlechtesten mit dem Virus zurechtkommen. Morhard und andere Experten fragen sich, was falschgelaufen ist – warum waren Dutzende von Simulationen und Evaluationen nicht in der Lage, die kolossalen Fehler einer der reichsten Nationen der Welt vorherzusagen oder zu verhindern? Länder dagegen, die bei Weitem nicht so hoch bewertet worden waren wie beispielsweise Vietnam, stachen durch rasches, entschlossenes Handeln hervor.
Trotz allem liefern die Szenarien wichtige Hinweise darauf, wie sich die aktuelle Pandemie eindämmen lässt – und was man beim nächsten Mal besser machen kann. Tödliche Pandemien lassen sich nicht verhindern, sagt Tom Frieden, ehemaliger Leiter der US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC): »Was sich dagegen verhindern lässt, ist, dass wir weiterhin unvorbereitet sind.«
Mehr als nur ein Spiel
Pandemie-Simulationen wurden erstmals in den 2000er Jahren populär. Spezialisten für biologische Sicherheit und Experten aus dem Gesundheitswesen schauten sich die Idee von militärischen Planspielen ab. Sie wollten das Gesundheitswesen einem Stresstest unterziehen, schauen, wo Probleme auftreten und was Politikern genug Angst einjagt, damit sie diese Probleme beheben. Bei der Durchführung der Planspiele sitzen Wissenschaftler, Geschäftsleute und Regierungsvertreter beieinander und müssen in Echtzeit Entscheidungen treffen, um mit einer sich ausweitenden Krise umzugehen, die ihnen im Stil von Fernsehnachrichten präsentiert wird.
Zwei der ersten derartigen Planspiele simulierten biologische Angriffe, bei denen feindliche Staaten Pockenviren in den USA freisetzen: »Dark Winter« und »Atlantic Storm« wurden 2001 und 2005 von Biosicherheits-Denkfabriken in den USA durchgeführt. Einflussreiche Entscheidungsträger nahmen an ihnen teil, beispielsweise die frühere Leiterin der Weltgesundheitsorganisation WHO, Gro Harlem Brundtland, sowie Madeleine Albright, Außenministerin der USA unter Präsident Bill Clinton.
Im Verlauf von »Dark Winter« und »Atlantic Storm« erlebten die Teilnehmer, wie Machtkämpfe zwischen Politikern auf unterschiedlichen Ebenen Maßnahmen gegen eine Epidemie mit rasant steigenden Infektionszahlen behindern können. Krankenhäuser waren vom Zustrom an Patienten überfordert, und die nationalen Impfstoffvorräte reichten nicht aus. Die Ergebnisse der Simulationen führten zusammen mit den noch frischen Erinnerungen an terroristische Anschläge und Milzbrand-Attentate im Jahr 2001 dazu, dass der US-Kongress handelte, sagt Tom Inglesby, Leiter des Center for Health Security an der Johns Hopkins University in Baltimore, der auch an der Leitung beider Planspiele beteiligt war. Bereits kurz nach »Dark Winter« verpflichtete sich die US-Regierung, einen nationalen Vorrat an Impfstoffen gegen Pocken aufzubauen. Und 2006 verabschiedete der Kongress den »Pandemic and All-Hazards Preparedness Act«, um die Reaktionsfähigkeit des nationalen Gesundheitssystems im Ernstfall zu verbessern. Dazu gehörte auch die verstärkte Förderung der Erforschung neu auftretender Infektionskrankheiten.
»Es zeigte sich, dass all die Dinge, an denen wir arbeiteten, nicht dem entsprachen, was wir wirklich benötigten«
Ryan Morhard, Experte für Biosicherheit
Auch international sorgte man sich um Pandemien. Nicht lange nach dem Ausbruch von Sars im Jahr 2003, bei dem das Virus in zwei Dutzend Länder gelangte und 721 Menschen in China, Hongkong und Taiwan tötete, entschlossen sich die 194 Mitgliedstaaten der WHO dazu, sich besser gegen Gesundheitsgefahren zu wappnen. Dazu setzen sie einen Satz von Vorschriften auf, der auch als International Health Regulations (IHR) bekannt ist. Die IHR verpflichten die beteiligten Länder unter anderem dazu, sich auf den Ausbruch von Pandemien vorzubereiten und Ausbrüche unverzüglich der WHO zu melden, damit andere Nationen rechtzeitig gewarnt werden können. Die Vorschriften mussten sich 2009 bewähren, als das Grippevirus H1N1 (»Schweinegrippe«) weltweit mehr als 100 000 Menschenleben forderte, sowie 2013, als sich das Middle-East Respiratory Syndrome (Mers) ausbreitete. Dann kam in den Jahren 2014 bis 2016 der bislang größte Ebola-Ausbruch, bei dem mit 11 000 Menschen etwa die Hälfte aller Infizierten starben.
Als Antwort auf die immer neuen Pandemien setzten die Vereinten Nationen eine Kommission ein, die nach Wegen suchen sollte, wie sich die Menschheit besser auf solche Bedrohungen vorbereiten kann. Der 2016 vorgelegte Abschlussbericht enthielt zahlreiche Empfehlungen, darunter Investitionen in die Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und diagnostischen Tests für neu auftretende Infektionskrankheiten – und die Aufforderung, dass künftig alle für die Bekämpfung von Epidemien relevanten Personen und Organisationen an Pandemie-Simulationen teilnehmen sollten.
Im Januar 2017 fand im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos – eines jährlichen Treffens von führenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft – eine von der Weltbank und der Bill & Melinda Gates-Stiftung unterstützte Pandemie-Simulation statt. Das Planspiel verdeutlichte, dass Unternehmen, Regierungen und gemeinnützige Organisationen sich besser vernetzen müssen, wenn es darum geht, die weltweiten Versorgungsketten für medizinisches Equipment, diagnostische Tests, Medikamente und Impfstoffe zu managen. Die Simulation fiel mit der Gründung einer in Oslo ansässigen Stiftung für die Entwicklung und Verteilung von Impfstoffen für neuartige Infektionskrankheiten zusammen, der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI). CEPI erhält ihre Mittel von der Gates-Stiftung, der gemeinnützigen biomedizinischen Organisation »Wellcome« in Großbritannien sowie von verschiedenen Ländern wie Deutschland und Japan. Ebenfalls zur gleichen Zeit begannen Morhard und seine Kollegen damit, ein Netzwerk aufzubauen, das Logistik und Regulierungen weltweit koordinieren soll, etwa bei der Nutzung neuer Behandlungsmethoden gegen eine Epidemie. »Wir waren gerade damit beschäftigt, als diese Pandemie zuschlug«, sagt Morhard. »Doch es zeigte sich, dass all die Dinge, an denen wir arbeiteten, nicht dem entsprachen, was wir wirklich benötigten.«
Trügerische Sicherheit
Während die Welt begann, sich auf künftige Pandemien vorzubereiten, hatte Inglesby das Gefühl, dass sein Land dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Die Tatsache, dass in den USA nur relativ wenige Menschen an Mers und Ebola starben, habe den Politikern möglicherweise ein trügerisches Gefühl der Sicherheit gegeben, sagt der Experte.
Im Mai 2018 führten Inglesby und seine Kollegen an der Johns Hopkins University das Planspiel »Clade X« durch – mit Mitgliedern des Weißen Hauses und des US-Kongresses, die nie zuvor Verantwortung während einer großen Epidemie getragen hatten. Die Simulation ging von einer Atemwegserkrankung aus, deren auslösendes Virus künstlich in einem Labor hergestellt worden war. Ein Ergebnis der Simulation war, dass Reiseverbote die Ausbreitung des Virus nicht verhindern konnten. Das Virus breitete sich unbemerkt aus, weil die Hälfte der Infizierten nur wenige oder gar keine Symptome zeigte. Die medizinischen Vorräte gingen zur Neige, die Krankenhäuser waren überfordert. Die Verantwortlichen auf nationaler Ebene und in den einzelnen Bundesstaaten gaben widersprüchliche Erklärungen ab. Es dauerte mehr als 20 Monate, bis ein Impfstoff zur Verfügung stand.
Das Planspiel führte zu sechs wichtigen Empfehlungen. Dazu zählte der Rat, die Zeit für die Impfstoffproduktion zu verkürzen und ein »robustes, leistungsfähiges nationales Gesundheitssystem zu schaffen, das den Herausforderungen einer Pandemie-Bekämpfung gewachsen ist«. Manche sind jedoch der Meinung, dass die Hervorhebung dieser Maßnahmen in der nachfolgenden Diskussion fehl am Platz war. So bemängelt Jeremy Konyndyk, leitender Mitarbeiter des Center for Global Development in Washington, dass Experten für Biosicherheit den Schwerpunkt häufig zu sehr auf Impfstoffe legen, statt auf die komplexen, systemischen Mängel des Gesundheitssystems. Dadurch übersehen sie häufig die Maßnahmen, die in der mittleren Phase eines Ausbruch wichtig sind.
Spiel ohne Grenzen
Simulationen und reale Ereignisse halfen der Politik in den vergangenen Jahrzehnten dabei, sich auf Pandemien vorzubereiten.
- 2001: Im Rahmen von »Dark Winter« simulieren Forscher eine Pocken-Attacke auf die USA – wenige Monate vor einer Serie von Milzbrand-Anschlägen in den USA.
- 2003: Ausbruch des Schweren Akuten Respiratorischen Syndroms (Sars) in Asien. Ausgelöst durch ein Coronavirus breitet sich Sars in einem Dutzend Ländern aus.
- 2005: Die WHO revidiert ihre International Health Regulations (IHR). Die Länder sichern zu, Krankheitsausbrüche besser zu überwachen und unverzüglich zu melden.
- 2009: Die Schweinegrippe H1N1 taucht in den USA auf.
- 2014: In Westafrika wird ein Ebola-Ausbruch gemeldet.
- 2015: In Brasilien breitet sich das Zikavirus aus.
- 2017: Im Rahmen des Weltwirtschaftsgipfels in Davos wird eine Pandemie-Simulation durchgeführt.
- 2018: In der Demokratischen Republik Kongo bricht zweimal unabhängig voneinander Ebola aus.
- 2019: In New York City findet »Event 201« statt, die Simulation einer neuartigen Coronaviruspandemie.
- 2020: An der Sars-CoV-2-Pandemie sterben allein in der ersten Hälfte des Jahres 2020 670 000 Menschen.
»Wir haben eine starke Endphase, sobald es einen Impfstoff gibt, und wir haben eine starke Anfangsphase, wenn Länder bei niedrigen Fallzahlen die Ausbreitung eindämmen könnten«, sagt Konyndyk. Doch der Tatsache, dass man auch genügend Personal im Gesundheitswesen vorhalten und dieses anschließend koordinieren müsse, bekäme ebenso zu wenig Aufmerksamkeit wie biomedizinische Ressourcen, die notwendig sind, um genug Menschen zu testen, zu behandeln, ihre Kontakte nachzuverfolgen und unter Quarantäne zu stellen. Und genau vor diesem Problem stehen die USA gerade.
Dabei ist es nicht so, als hätten »Clade X« und andere Simulationen die Herausforderungen, die in der mittleren Phase einer Pandemie auf Staaten zukommen, nicht aufgezeigt. In der vom US-Gesundheitsministerium 2019 durchgeführten Übung »Crimson Contagion« kehrten beispielsweise Touristen mit einem neuartigen Grippevirus in die USA zurück. Dieses breitete sich zunächst in Chicago aus und infizierte schließlich 110 Millionen US-Amerikaner. (Die Forscher gingen in der Simulation von einem Virus aus, das ansteckender als Sars-CoV-2 war.) Während die Verantwortlichen darüber stritten, wie geeignete Maßnahmen durchzusetzen seien und auf welche Weise Equipment verfügbar zu machen sei, vergrößerten sich die organisatorischen Probleme auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene.
In einem nach der Simulation erschienenen Bericht wurde hervorgehoben, dass das US-Gesundheitsministerium – das die Oberaufsicht über die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und die Food and Drug Administration (FDA) hat – keine ausdrückliche Befugnis dafür besitzt, nationale Maßnahmen gegen eine Pandemie einzuleiten und auch über keine finanziellen Mittel für solche Maßnahmen verfügt. Doch wie bei »Clade X« konzentrierte sich die Diskussion auf naheliegende Strategien für die Endphase des Planspiels wie die Entwicklung von Impfstoffen und nicht auf die deutlich kompliziertere Aufgabe, das nationalen Gesundheitssystems zu stärken.
Doch immerhin zeigten sowohl »Clade X« als auch »Crimson Contagion« die staatlichen und behördlichen Schwächen auf. Im Global Health Security Index und auf einer ähnlichen Bewertungsskala der WHO, der Joint Health Evaluation, sind diese Schwächen jedoch weniger sichtbar. Soweit es um die Entdeckung neuer Pathogene geht, stehen die USA danach dank ihres Netzes von Laboratorien und »eines extensiven kommerziellen Marktes« hervorragend da. Doch als die Corona-Pandemie 2020 immer weiter um sich griff, zeigte sich, dass die USA mehr benötigen als Laborkapazitäten und Legionen von Epidemiologen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Die Abrechnung
Ende Januar 2020 wurde Inglesby unruhig. Der Corona-Ausbruch eskalierte in China mit beängstigender Geschwindigkeit und griff auf immer mehr Länder über, darunter auch auf die USA. Das entsprach genau den düsteren Vorhersagen, die er in seine Simulationen implementiert hatte. Doch die Trump-Regierung schien den Ausbruch als ein rein chinesisches Problem anzusehen, sagt Inglesby. In der dritten Januarwoche setzte Trump genau einen beruhigenden Tweet zum Coronavirus ab – und 40 zu seinen Impeachment-Anhörungen, seinen Wahlkampfveranstaltungen und darüber, wie er gegen die Demokraten gewinnen würde. Die einzige öffentliche Maßnahme der US-Regierung war die Einführung eines Screenings von Reisenden aus China auf Symptome an einigen internationalen Flughäfen.
Für Inglesby war klar, dass Reiseverbote und Kontrollen am Flughafen nicht ausreichen würden, um die Ausbreitung eines ansteckenden Pathogens zu verhindern. Am 26. Januar schlug er daher über Twitter eine Reihe von notwendigen Maßnahmen vor, um die USA auf die Pandemie vorzubereiten. »Die Verantwortlichen der Welt und der Nationen sollten für den Fall vorausplanen, dass sich das neue Coronavirus nicht aufhalten lässt«, schrieb er. Die Liste enthielt die Themen Impfstoffentwicklung, Ausweitung der Schutzausrüstung für Angestellte im Gesundheitswesen und »eine sehr hohe Anzahl von zuverlässigen diagnostischen Tests«.
Diese Maßnahmen sind zur Bekämpfung fast aller Infektionskrankheiten wichtig, aber im Fall eines neuartigen Ausbruchs müssen sie mit Höchstgeschwindigkeit umgesetzt werden. Sicherheitsexperten haben dieses Lernziel deshalb in jede Simulation eingearbeitet – denn wenn eine Epidemie nicht gleich in den ersten Monaten richtig bekämpft wird, hat das später katastrophale Folgen. Stephen Morrison, Leiter der Abteilung für globale Gesundheitspolitik am Center for Strategic and Internationale Studies in Washington, drückt es so aus: »Man kann nicht wochenlang herummurksen und dann konfuse, halbgare und nicht besonders ernst gemeinte Maßnahmen starten.«
»Man benötigt Benzin im Motor und Bremsen, die funktionieren – aber wenn der Fahrer das Auto nicht benutzen will, dann kommt man nirgendwo hin«
anonymer Wissenschaftler
Auch Epidemiologen zeigten sich besorgt. Da sie für die USA eine große Zahl unentdeckter Übertragungen befürchteten, begannen Wissenschaftler in den Bundesstaaten Washington, New York und Kalifornien Ende Januar 2020 damit, Tests zu prüfen, mit denen sich die genetische Sequenz des Virus nachweisen lassen sollte – darunter auch ein von deutschen Forschern entwickeltes und von der WHO empfohlenes Protokoll. Doch ihre Bemühungen, diese Tests für die öffentliche Nutzung frei zu geben, scheiterte an der FDA: Die Behörde war nicht bereit, die Tests zu genehmigen. Inzwischen verlangen offizielle Vertreter der Centers for Disease Control and Prevention von Laboratorien, ausschließlich Tests zu verwenden, die von den CDC entwickelt worden waren.
Die CDC begannen am 6. Februar damit, Testsätze an die Gesundheitsämter zu verschicken. Drei Tage später, an einem Sonntagmorgen, erhielt Kelly Wroblewski, Abteilungsleiterin für Infektionskrankheiten der Association of Public Health Laboratories in Silver Springs im US-Bundesstaat Maryland, eine Flut von E-Mails, alle mit der gleichen Aussage: Die Tests funktionieren nicht. »Wir waren uns immer darüber im Klaren, dass Labortests kompliziert sind, doch diese Tatsache wurde bei den Simulationen oft übersehen«, sagt Wroblewski, die erst Monate zuvor an »Crimson Contagion« teilgenommen hatte.
Während sich die CDC abmühten, die fehlerhaften Tests zu verbessern, kämpften die Laboratorien bei der FDA um eine Freigabe der von ihnen selbst entwickelten Tests. Einige erhielten tatsächlich am 29. Februar grünes Licht. Doch ohne eine Koordinierung auf Bundesebene blieben die Tests unorganisiert und limitiert. Und trotz der Aufforderungen der WHO, die Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen, sparten sich viele städtische Gesundheitsämter diesen Aufwand – und auch die US-Regierung bot dazu keinen nationalen Plan an. Beth Cameron von der Nuclear Threat Initiative, einer US-amerikanischen Organisation, die sich für die internationale Friedenssicherung durch den Abbau von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen einsetzt und sich mit Problemen der nationalen Sicherheit befasst, sagt, die Koordination der Tests hätte von der für die Pandemie-Bekämpfung zuständigen Stelle im Weißen Haus unterstützt werden müssen. Cameron leitete unter Präsident Barack Obama eine solche Gruppe, die jedoch 2018 von Trump aufgelöst wurde.
Ab März 2020 hielten die CDC keine Pressekonferenzen mehr ab und sahen ihre Rolle durch die Trump-Regierung beeinträchtigt, die erklärte, das Virus sei weniger schlimm als von den Gesundheitsexperten behauptet. In einem Leitartikel in der »Washington Post« beschrieben im Juli vier ehemalige CDC-Direktoren, darunter auch Frieden, wie die Trump-Regierung die CDC zum Schweigen brachte, ihre Leitlinien revidierte und ihre Kompetenz im Umgang mit der Pandemie unterminierte. Trump stellte auch das Urteilsvermögen von Anthony Fauci in Frage, dem Leiter des National Institute of Allergy and Infectious Diseases, einem führenden Wissenschaftler der Corona-Krisenstabs des Weißen Hauses.
Die meisten Pandemie-Simulationen beziehen mit ein, dass es Verwirrung gibt – doch keine befasste sich mit den Folgen einer US-Regierung, die an den Empfehlungen ihrer eigenen Gesundheitsbehörden vorbeiagiert. Vielleicht hätten sie das tun sollen, sagt ein Wissenschaftler, der seit Jahrzehnten im US-Gesundheitssystem tätig ist. Er möchte lieber anonym bleiben, da er keine Erlaubnis erhalten hat, mit der Presse zu sprechen. »Man benötigt Benzin im Motor und Bremsen, die funktionieren – aber wenn der Fahrer das Auto nicht benutzen will, dann kommt man nirgendwo hin.«
Im Gegensatz dazu gelang es Neuseeland, Taiwan und Südkorea, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, sagt Scott Dowell, der als Spezialist für Infektionskrankheiten für die Gates-Stiftung arbeitet, 21 Jahre lang für die CDC tätig war und an mehreren Simulationen teilgenommen hat. In den Ländern, die gegen Covid-19 erfolgreich sind, haben »die Regierungen frühzeitig und entschieden gehandelt«, so Dowell. Cameron stimmt dem zu: »Es ist ja nicht so, dass die USA nicht die richtigen Werkzeuge hätten – wir haben uns nur nicht dazu entschieden, sie auch zu benutzen.«
Das Endspiel naht
Das größte Problem der Simulationsübungen war vermutlich, dass sie Politiker nicht dazu bewegt haben, ihre Aufmerksamkeit stärker auf die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems zu lenken und mehr finanzielle Mittel dafür aufzuwenden. Morrison bezweifelt inzwischen, dass sich so etwas allein durch Simulationen erreichen lässt – möglicherweise müssen die Entscheidungsträger erst eine echte Epidemie erleben.
Nachdem 2003 in Taiwan mehr als 70 Personen an Sars verstarben, arbeitete die Regierung des Landes einen Plan für derartige Notfälle aus. »Seit 17 Jahren führen sie jedes Jahr eine Übung für einen Krankheitsausbruch durch und üben, üben, üben«, sagt Morrison. Als die ersten Corona-Fälle aus der Volksrepublik China gemeldet wurden, kam Taiwans gut geschmiertes System sofort in Schwung. Trotz der geografischen Nähe zum Herd der Pandemie hat Taiwan bislang kaum Tote durch Covid-19 zu beklagen.
Jetzt erleben die USA eine Tragödie. Die tägliche Zahl der neuen Coronavirusinfektionen brach im Verlauf des Monats Juli immer neue Rekorde, nachdem viele Bundesstaaten versuchten, ihre Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Eine der wichtigsten Maßnahmen sei jetzt, so Frieden, die Gesundheitsbehörden in die Lage zu versetzen, Daten in Echtzeit zu analysieren, um ihre Maßnahmen besser auf die aktuelle Situation zuzuschneiden.
»Es ist ja nicht so, dass die USA nicht die richtigen Werkzeuge hätten – wir haben uns nur nicht dazu entschieden, sie auch zu benutzen«
Scott Dowell, Spezialist für Infektionskrankheiten
Doch das Endspiel, das in den Simulationen stets die meiste Aufmerksamkeit erhalten hat – mit Medikamenten und Impfstoffen –, könnte für Länder wie die USA und Brasilien, die es nicht geschafft haben, das Virus einzudämmen, nun tatsächlich der einzige Ausweg sein. Auch hier haben die Simulationen vor schlecht abgestimmten Anstrengungen von Regierungen und Unternehmen gewarnt. Experten für Biosicherheit hoffen, dass CEPI und andere Initiativen für die Koordinierung und die Unterstützung der Impfstoffentwicklung sich nun endlich bezahlt machen.
Mit Blick auf die Zukunft hoffen viele Experten, dass US-Politiker aus den Fehlern lernen werden, die im Zuge der Bekämpfung der Coronaviruspandemie gemacht wurden. Dass Umstrukturierungen im Gesundheitssystem stattfinden werden, die es den Verantwortlichen ermöglichen, entschieden zu agieren, und die dafür sorgen, dass dann alle Komponenten im Fall des Falles reibungslos ineinandergreifen.
Zum Ende der Simulation »Event 201« sahen die Teilnehmer 2019 in New York City einen Nachrichtenbericht, in dem es um die finanziellen Konsequenzen der Krise ging. Sie würden mehrere Jahre lang anhalten, vielleicht sogar ein ganzes Jahrzehnt, hieß es darin. Die gesellschaftlichen Folgen jedoch – darunter auch der Vertrauensverlust in Regierungen und Medien – könnte sogar noch länger anhalten. Der Fernsehreporter beendete seinen Beitrag mit den Worten: »Sind wir als Weltgemeinschaft nun endlich bereit dazu, die harte Arbeit zu leisten, die nötig ist, um uns auf die nächste Pandemie vorzubereiten?«
Die Pandemie in der Simulation überzeugte die Politiker nicht davon, entsprechend zu handeln. Es bleibt abzuwarten, ob die Covid-19-Pandemie es schaffen wird.
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