Covid-19: »Die steigenden Infektionszahlen widersprechen der eigenen Erfahrung«
Die Corona-Impfung und damit die Chance auf Lockerung ist in Sicht. Durchhalten fällt vielen Menschen dennoch schwer. Auf den letzten Metern sinkt die Bereitschaft, sich an die AHA-Regeln zu halten. Das zeigen aktuelle Erhebungen der Universität Erfurt sowie Umfragen eines Teams um Johannes Leder von der Universität Bamberg. Im Interview erklärt der Psychologe, woher das kommt und warum vielen der eigene Schutz wichtiger ist als der von anderen.
Obwohl die Infektionszahlen wieder steigen, haben die Menschen immer weniger Lust, Abstand zu halten und Kontakte zu reduzieren. Woran liegt das?
Vor einem Jahr war die Besorgnis viel höher. Die Leute blieben zu Hause, hielten sich an die Regeln. Mittlerweile haben wir uns an die Situation gewöhnt. Die Angst, sich mit dem Virus anzustecken, hat bei vielen nachgelassen, weil sie sich nicht angesteckt haben. Die steigenden Infektionszahlen widersprechen damit der persönlichen Erfahrung. In der Psychologie ist das ein altbekanntes Phänomen. Wir nennen es das »Seltene Ereignis«-Paradox.
Was heißt das konkret?
Nehmen wir Flugreisen als Beispiel. Anfangs habe ich vielleicht Angst abzustürzen – besonders, wenn ich selten fliege oder zuvor viel über Flugzeugabstürze berichtet wurde. Auch nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 gingen die Passagierzahlen nach unten. Je häufiger ich dann aber in ein Flugzeug steige, desto häufiger erlebe ich, dass es nicht abstürzt. Das »seltene Ereignis«, vor dem ich zuvor Angst hatte, verliert seine Bedrohung. Anschaulich war das auch während der zweiten Intifada in Israel.
Sie meinen den gewaltsamen Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis im Jahr 2000.
Richtig. Den Menschen wurde damals gesagt, dass es extrem gefährlich sei, in Cafés zu gehen, weil dort das Risiko eines Terroranschlags sehr hoch sei. Für einige Zeit blieben die Cafés fast leer, die Touristen und Einheimischen mieden sie. Bei der einheimischen Bevölkerung hielt das jedoch nicht lange an, und bald schon waren die Plätze wieder voll. Die Menschen wussten zwar, dass Terrorangriffe auf Cafés stattfanden. Mit der Zeit nahmen sie aber das Risiko als geringer wahr, weil es selten zu Anschlägen kam. Ähnliches sehen wir nun beim Coronavirus.
Im Gegensatz zu einem Flugzeugabsturz oder Terrorangriff sind Ansteckungen mit Sars-CoV-2 jedoch nicht selten. Selbst wenn ich mich persönlich nicht angesteckt habe, kennen die meisten inzwischen Menschen, die eine Covid-Erkrankung durchgemacht haben. Reicht das nicht, um uns vor Augen zu führen, dass das Risiko für eine Infektion nach wie vor hoch ist?
Werfen wir doch einen Blick in die Statistik: Wir haben in Deutschland rund 83 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Laut dem Worldometer, einem öffentlichen Statistiktool zur Messung der Pandemie, gab es in Deutschland bislang 2 509 218 Infektionen. Davon verliefen 75 270 tödlich (Stand 22. März 2021; Stand 11. Mai 2021: 3535354 Infektionen, 85481 Tote). Es sind also gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen, gestorben sind 0,1 Prozent. Die Chance, davon jemanden persönlich zu kennen, ist nicht so groß.
Ich selbst lebe beispielsweise in Bamberg. Hier hatten wir bis vor wenigen Tagen gerade mal 80 aktive Fälle, und ich kenne tatsächlich niemanden, der sich infiziert hat. Bei den meisten Verstorbenen handelt es sich außerdem um Ältere, und die leben in Deutschland in der Regel in Pflegeheimen. Von ihrem Sterben bekommt ein Großteil der Bevölkerung also nichts mit. Kenne ich einen Menschen, der das Virus gut – vielleicht sogar asymptomatisch – überstanden hat, führt das ebenfalls dazu, dass meine Angst vor einer Ansteckung beziehungsweise vor der Krankheit selbst sinkt. Und damit auch meine Bereitschaft, mich an die Regeln zu halten. Das geht aus unserer Studie hervor.
Sie und Ihr Team haben zwei Online-Befragungen durchgeführt. Darin wollten Sie von den Menschen wissen, welche Schutzmaßnahmen sie umsetzen. Die erste Umfrage mit 419 Personen fand im März 2020 während des Lockdowns statt, die zweite mit 253 Personen nach dem Lockdown im Mai und Juni 2020. Was war das Ergebnis?
Zu Beginn des Lockdowns schätzten die Befragten die Schutzmaßnahmen häufig als wirksam ein und setzten sie auch um. Mit den Lockerungen sank die angenommene Wirksamkeit jedoch und damit auch die Motivation, sie anzuwenden. Allein Gesichtsmasken nutzten die Befragten nach dem Lockdown mehr – was auch daran lag, dass diese dann endlich verfügbar waren und die Politik das Tragen teilweise verordnete. Die Hände waschen sich die meisten, weil es einfach ist. Das Abstandhalten nahm hingegen immer weiter ab.
Woran liegt das?
Ich denke, auch hier passen das persönliche Erleben und die Realität nicht zusammen. Wie effektiv Abstandhalten ist, können wir schließlich nicht sehen. Stattdessen merken wir: Ich treffe mich draußen mit Freunden, vielleicht sogar im eigenen Wohnzimmer, und stecke mich trotzdem nicht an. Das führt zur Unterschätzung des Risikos und zur Risikokompensation.
Was meinen Sie mit Risikokompensation?
Eine Schutzmaßnahme wird zu Gunsten einer anderen weggelassen. Statt Abstandhalten wird die Maske getragen, statt die Maske zu tragen, wird der Schnelltest benutzt. Das heißt, viele Menschen denken, sie können eine Schutzmaßnahme durch eine andere ersetzen – was ein Trugschluss ist. Um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, brauchen wir den kumulierten Schutz aus vielen Maßnahmen: Hände waschen, Abstand halten, lüften, Maske tragen, Schnelltests machen. Viele Menschen wissen zudem nicht, dass bei einem Schnelltest ein negatives Ergebnis herauskommen kann, sie nach einigen Stunden möglicherweise aber dennoch ansteckend sind. Ein Schnelltest misst lediglich die aktuelle Viruslast. Darüber, ob ich mich angesteckt habe, sagt er nichts aus. Das heißt, am Freitagmorgen kann ich nicht ansteckend sein, am Samstag, wenn ich meine Oma besuche, hingegen schon.
»Viele Menschen wissen nicht, dass bei einem Schnelltest ein negatives Ergebnis herauskommen kann, sie nach einigen Stunden möglicherweise aber dennoch ansteckend sind«
In Ihrer Studie zeigte sich auch, dass Menschen eher Maßnahmen umsetzen, die sie selbst schützen – etwa das Händewaschen.
Ja, das hat mich auch etwas erschreckt. Besonders, weil unsere Stichprobe nicht repräsentativ ist. An der Studie nahmen tatsächlich überdurchschnittlich viele »prosoziale« Personen teil – also Menschen, die gewillt sind zu kooperieren und die sich normalerweise an die Regeln halten. In der Allgemeinbevölkerung dürfte dieses Phänomen daher noch ausgeprägter sein.
Am Anfang der Pandemie wurde für das Pflegepersonal auf den Balkonen geklatscht, junge Menschen gingen für ältere Nachbarn einkaufen. Was ist mit dieser Solidarität geschehen?
Teilweise ist sie sicher noch da. Solidarität mit anderen schenkt uns etwas: Das Gefühl, etwas Gutes zu tun – vielleicht gar einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten –, steigert unseren Selbstwert. Wir helfen anderen Menschen also auch deshalb, weil wir uns dadurch selbst besser fühlen. Wenn es uns aber etwas kostet, zum Beispiel unsere eigene Sicherheit, dann sinkt unsere Bereitschaft, solidarisch mit anderen zu sein.
Wie lassen sich die Menschen motivieren, die Schutzmaßnahmen wieder ernst zu nehmen?
Etwa, indem sie mehr über die negativen Folgen der Erkrankung erfahren. Das soll kein Aufruf an die Medien sein, nonstop über tragische Todesfälle zu berichten. Aus wissenschaftlicher Sicht würde dies aber sicherlich helfen. Ebenso wie weitere Vorschriften und Sanktionen. In den Supermarkt und in die Bahn kommen wir bereits jetzt nur noch mit Mund-Nasen-Schutz. Wer keinen trägt, muss eine Strafe zahlen. Anfangs regt man sich vielleicht darüber auf, mit der Zeit wird aus der ungewohnten Vorschrift dann aber eine Gewohnheit. Denken Sie nur an den Sitzgurt im Auto: In den frühen Siebzigern nutzte den kaum jemand, heute legen wir ihn automatisch an. Auch die Statistik sollten wir alltagstauglicher machen.
Wir benötigen also vor allem eine bessere Risikokommunikation?
Genau. Statt von abstrakten Zahlen zu reden, könnten wir zum Beispiel Bilder nutzen. Wenn das Robert Koch-Institut (RKI) vor einem exponentiellen Wachstum warnt, können viele Menschen damit nichts anfangen. Einfacher wäre das Bild eines Teiches mit Seerosen. Anfangs vermehren die Rosen sich nur langsam: Aus einer werden zwei, aus zwei werden vier. Der See beginnt sich ganz allmählich zu füllen. Ist die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint noch immer alles okay zu sein und man geht beruhigt schlafen. Am nächsten Tag kommt man zurück und der See ist zugewachsen. Das ist exponentielles Wachstum. Erst passiert lange nichts, und dann geht es plötzlich superschnell.
Wie viele Seerosen schwimmen in unserem Teich?
In Zahlen kann ich das nicht sagen. Bis zur Hälfte zugewachsen ist er sicher noch nicht. Damit das so bleibt, müssen wir uns jedoch weiter an die Regeln halten.
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