Deutschlands Drogenproblem in Zahlen: Higher denn je

Deutschlands Drogenproblem
Wie abhängig ist Deutschland – und wovon genau? Diese Themenwoche wirft einen kritischen Blick auf den Konsumtrend, erklärt, wie Sucht entsteht, und fragt, wie eine moderne Drogenpolitik mit offenen Szenen und neuen Substanzen umgehen sollte.
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Ich sehe es jeden Tag, wenn ich meine Wohnung in Berlin-Neukölln verlasse. Eine Zeit lang traf ich die Crack-Raucher bereits im Treppenhaus, ihre Löffel über einer Kerze. Entlang des Kanals vor der Haustür leben manche in Zelten, wo junge Leute in angesagten Bars und Pizzerien am Ufer sitzen.
Man sieht das Comeback der Drogen nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Zahlen. Da ist zum Beispiel die Kriminalstatistik, die längste Datenreihe zum Thema. Ab den 1980er Jahren stieg die Zahl der Drogendelikte, vor allem wegen Cannabis und Heroin. Später kamen Kokain und Amphetamine hinzu. In den frühen 2000er Jahren jedoch sanken die Delikte markant, bis sie in den letzten zehn Jahren wieder zu steigen begannen – in bislang unbekannte Höhen.
Andere Daten zeichnen ein ähnliches Bild. Sowohl das Epidemiologische Suchtsurvey, das in Deutschland seit den 1980er Jahren durchgeführt wird, als auch die Erhebungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die unter Jugendlichen gemacht werden, zeigen bei fast allen illegalen Drogen eine Bewegung vom Rückgang zur Rückkehr. Außer beim Cannabis ist das Wachstum zwar immer auf niedrigem Niveau: Die Drogen werden von kaum mehr als einem Prozent der deutschen Bevölkerung konsumiert. Entsprechend unsicher sind hier die Zahlen. Aber das Muster ist doch deutlich.
Und schließlich ist da noch die Zahl der Drogentoten. 2012 war es gelungen, sie durch Hilfsangebote und Ersatzstoffe auf weniger als 1000 pro Jahr zu reduzieren. Heute sind es weit über 2000 – und damit mehr als je zuvor.
Luxusdroge zum Discountpreis
»Einen ganz klaren und starken Anstieg gab es beim Kokain. Hier erleben wir einen Dominoeffekt«, sagt Frank Zobel, der den Forschungssektor bei der Stiftung Sucht Schweiz mitverantwortet und Veränderungen in ganz Europa beobachtet: Die Kokainproduktion durch Drogenkartelle in Lateinamerika ist stark gestiegen, die Ware kam zu uns. Der europäische Markt wurde praktisch überflutet. Allein die Mengen, die an Europas Zollgrenzen sichergestellt werden, haben sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht. »Das sind Mengen, die man nie, nie gesehen hatte«, so der Experte.
Mit der Masse sanken die Preise. Einst eine teure Luxusdroge, die 200 Euro pro Gramm kostete, wird Kokain heute für 50 Euro gehandelt. Gekocht wird es als Crack geraucht. Längst hat die Droge den Weg von den Klubs auf die Straße gefunden – beziehungsweise in mein Treppenhaus. Die Zielgruppe hat sich verändert. »Kokain ist kein Phänomen mehr von drogenaffinen jungen Leuten, sondern erfasst heute alle gesellschaftlichen Schichten«, erläutert Dirk Schäffer, Drogenexperte bei der Deutschen Aidshilfe in Berlin: »Es wird auch nicht nur genommen, um sich zu berauschen, sondern um leistungsfähiger zu werden. Das passt in unsere Zeit.«
Anders als die vielleicht bekannteste harte Droge Heroin, deren Beliebtheit in Deutschland etwa seit der Jahrtausendwende sinkt, wirken Kokain und Crack stimulierend. Heroin unterdrückt Schmerzen und entspannt. Man fühlt sich geborgen und der Effekt hält Stunden an. Kokain und Crack verursachen ein starkes Hochgefühl, machen wach und euphorisch, die Wirkung aber lässt nach kurzer Zeit wieder nach: Auf ein starkes Hoch folgt ein schneller Absturz. »Beim Crack hat man deutlich mehr Konsum als beim Heroin – teilweise bis zu 20 Konsumvorgänge am Tag«, sagt Daniel Deimel, Suchtforscher an der Technischen Hochschule Nürnberg: »Man schafft es dadurch häufig nicht, weiter gehende Versorgung in Anspruch zu nehmen.«
Produktvielfalt aus dem Internet
Doch nicht nur beim Kokain und Crack beobachtet man einen Anstieg. Auch einstige Nischendrogen wie LSD oder Ecstasy sind plötzlich wieder gefragt. Das halluzinogene LSD etwa schien fast ausgestorben, eine antiquierte Hippiedroge, die einen auf wundersame Reisen (oder Horrortrips) mitnimmt. Heute gibt wieder fast eine von 100 Personen in Deutschland an, LSD im letzten Jahr konsumiert zu haben. »Wir hatten in den Nullerjahren zwar eine ausgeprägte Klub- und Festivalkultur, aber der Drogenkonsum dort war nicht die Regel«, weiß Dirk Schäffer: »Die neue Generation ist überaus experimentierfreudig in Bezug auf illegale psychoaktive Substanzen, das haben wir so vorher nicht erlebt.«
Wie beim Kokain könnte auch bei den Festival- und Partydrogen das Angebot den Konsum verändert haben, wenn auch auf etwas andere Weise. Nicht in Containern zwischen Kaffeesäcken verladen kamen sie nach Europa, sondern einfach im Luftpolsterkuvert per Post. In den 2010er Jahren entstand der Handel über die damals neuen anonymen Netzwerk-Technologien Darknet und Bitcoin. Der Onlinehandel ermöglichte es illegalen Laboren weltweit, neue synthetische Drogen auf den Markt zu bringen. Just zur gleichen Zeit, als immer mehr Leute den Darknet-Browser Tor googelten, entdeckte die Europäische Drogenaufsicht in Lissabon bis zu 100 neue Designerdrogen pro Jahr. Um gesetzliche Kontrollen zu umgehen, werden sie teils als »Badesalze« oder »Research Chemicals« verkauft.
Zwar zeigen Untersuchungen, dass die meisten Konsumenten ihre Drogen nach wie vor auf der Straße oder über Freunde kaufen. Aber der Onlinehandel bereitete den Boden für lauter neue Produkte, etwa synthetische Cannabis-Wirkstoffe. »Sie sind oft billig und vielfach hoch dosiert, für jede Art von Rausch die passende Substanz«, erklärt Schäffer. Das habe auch die Spielarten des Konsums verändert. »Männer, die mit Männern Sex haben, hatten immer schon eine eigene Szene. Aber in den letzten zehn Jahren entstanden hier Phänomene wie ›Chem-Sex‹, also Sexualität verbunden mit Drogenkonsum.«
Drogen zwischen Moden und Märkten
»Wir haben den Krieg gegen das Angebot verloren«, konstatiert Frank Zobel in Lausanne in der Schweiz, einem Land, dessen Strategie in Sachen Drogen als sehr progressiv gilt. »Vor allem Kokain hat gezeigt, dass unsere Drogenpolitik so nicht funktioniert. Wir haben Riesenmittel in die Bekämpfung investiert und es ist trotzdem überall leicht erhältlich. Drogenmafias machen dazu große Gewinne und agieren in vielen Ländern mit steigender Gewalt.« Trotz aller Kampagnen von Gesundheitsbehörden, trotz aller Verfolgung durch Zoll und Polizei gelang es Kartellen oder Internet-Laboren, alte Märkte zu revitalisieren und neue zu schaffen.
Für die Hilfseinrichtungen auf der Straße wurde das zum Problem, denn sie waren kaum vorbereitet auf eine Droge wie das aufputschende Crack, das nur kurze Zeit wirkt und den Tag-Nacht-Rhythmus völlig auf den Kopf stellt. Statt Notschlafstellen bräuchten Abhängige Tagesruhebetten und eine aufwändige und teure Versorgung rund um die Uhr.
Hinzu kommt, dass es kein Substitut für Stimulanzien wie Kokain und Crack gibt. Heroin kann man mit Methadon ersetzen. Für Kokain-Ersatzstoffe gibt es dagegen nur Off-Label-Versuche, deren Effektivität noch immer unklar ist. »Die Evidenz aus Studien ist nicht besonders gut«, resümiert Suchtforscher Daniel Deimel. »Und die Studien wurden mit einer Patientenkohorte durchgeführt, die gut situiert ist, nicht derjenigen auf der Straße.«
Gefährlicher als Heroin
Und dann ist da noch die ständige Gefahr, dass Fentanyl nach Europa herüberschwappen könnte. Das synthetische Opioid ist 50-mal stärker als Heroin und treibt die USA derzeit immer tiefer in eine Drogenkrise. Dort drücken die Todesopfer inzwischen sogar die nationale Lebenserwartung. Die Deutsche Aidshilfe fand Fentanyl in Untersuchungen jüngst auch in verschiedenen deutschen Städten, vermischt mit Heroin. Der Heroinrohstoff Opium, der aus Schlafmohn gewonnen wird, könnte in Zukunft knapp werden. Denn in Afghanistan, das lange als wichtigstes Ursprungsland galt, haben die Taliban den Mohnanbau 2022 verboten. Neben Fentanyl warnen Experten auch vor dem Alternativprodukt Nitazen. Da beide deutlich potenter sind als Heroin, braucht es weniger für eine tödliche Überdosis.
»Heute sieht man so viele Crack-Konsumierende auf der Straße, dass es einen präventiven Effekt haben könnte«Frank Zobel, Suchtforscher
»Das ist jetzt wie in der Therapie«, stellt Frank Zobel fest. Wie in der Suchtbehandlung müsse man sich eingestehen, dass es so nicht weitergeht. »Irgendwann sollten wir zugeben, dass die bisherige Verbotspolitik gescheitert ist, dass der illegale Markt den im 20. Jahrhundert entstandenen Drogenkrieg gewonnen hat. Und wir müssen uns fragen: Was können wir anders machen?« Zobel sieht es so: Wenn der Staat das Angebot nicht in den Griff bekommt, muss er es stattdessen irgendwie schaffen, die Leute vom Schwarzmarkt fernzuhalten, wo Stoffe teils mit gefährlicheren Substanzen gestreckt werden – zu ihrer eigenen Sicherheit und der von uns allen. Deshalb wird mittlerweile erwogen, neben Heroin auch Kokain als Originalstoff kontrolliert abzugeben.
Den Schaden minimieren sollen außerdem Konsumräume, in denen Abhängige ihre Drogen hygienisch und unter Aufsicht einnehmen können, um Infektionen und Überdosen zu vermeiden. Neben pragmatischen Maßnahmen braucht es aber mehr Behandlungsangebote, die leicht zugänglich und auf die neuen Konsumtrends zugeschnitten sind – und natürlich Prävention, damit Menschen gar nicht erst abhängig werden. Frank Zobel hofft, dass die aktuelle Krise, die immer sichtbarer wird, auch abschreckt: »Heute sieht man so viele Crack-Konsumierende auf der Straße, dass es vielleicht indirekt einen präventiven Effekt haben könnte – wie damals beim Heroin.«
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