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Cringe: Peinlich, peinlich!

Offene Hosenschlitze, verpatzte Witze, Spinat zwischen den Zähnen: Wenig lässt Menschen schöner erschaudern als fremde Fehltritte. Doch warum ist das so?
Peinlich

Niemand konnte so wundervoll falsch singen wie Florence Foster Jenkins (1868–1944). Als Sopranistin legte die Millionärserbin in den USA der 1920er und 1930er Jahre eine imposante Karriere hin. Dabei traf sie beim Singen weder Takt noch Töne. Das schien die »Diva der Dissonanzen« jedoch kaum zu stören: Selbstbewusst trällerte sie sich durch Werke von Bach, Mozart und Tschaikowski – und tat hämische Reaktionen als Neid ab.

Galt sie zunächst nur als schräger Geheimtipp für Eingeweihte, kam sie mit ihren Schallplatten bald zu Ruhm. Ihr erster großer Auftritt sollte jedoch auch schon der letzte sein: 76-jährig sang sie in einer restlos ausverkauften New Yorker Konzerthalle vor über 2500 Zuschauern, die Tränen lachten. Wenige Wochen später erlitt sie einen Herzinfarkt – aus Gram, vermuteten Freunde. Dabei stand Jenkins zeitlebens hinter ihrer Kunst. »Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann«, erklärte sie. »Aber niemand kann sagen, dass ich nicht gesungen hätte.«

Heute würde man Jenkins' Darbietungen vermutlich mit Cringe etikettieren. Übersetzt bedeutet das »erschaudern« oder »zusammenzucken«. Im weiteren Sinn meint der Begriff die Empfindung, die sich beim Betrachten einer peinlichen oder unangenehmen Situation einstellt: so schauerlich, dass man am liebsten im Erdboden versinken möchte.

Anders als bei Jenkins entstehen die meisten dieser Gruselmomente spontan aus der Situation. Legendär ist der Auftritt von Stasi-Minister Erich Mielke vor der DDR-Volkskammer 1989 (»Ich liebe doch alle Menschen!«), wofür er höhnisches Gelächter erntete. Ein anderes Beispiel: 2017 erklärte ein Moderator der Oscar-Zeremonie den falschen Film zum Gewinner – und musste den Irrtum dann vor Millionen Zuschauern korrigieren. Selbst im Homeoffice lauern reichlich Cringe-Gelegenheiten: etwa, wenn bei einer wichtigen Videokonferenz plötzlich der Partner einer Kollegin im Hintergrund nackt durchs Bild läuft – oder ein Teilnehmer ungeniert in der Nase bohrt, weil er nicht merkt, dass die Kamera noch angeschaltet ist.

Jeder kennt diese Momente, nur die Bezeichnung dafür ist in Deutschland noch relativ neu. Populär ist der Begriff vor allem im Internet. 2020 landete er auf Platz zwei bei der Wahl für das »Jugendwort des Jahres«, ausgelobt von einem Wörterbuchverlag. Auch das ein schönes Beispiel für Cringe – Erwachsene, die sich für eine Werbeaktion mit Begriffen aus der Jugendsprache schmücken.

Cringe ist vielfältig. Das zeigen bereits die genannten Fälle: Läuft der Partner der Mitarbeiterin nackt durchs Bild, ist das für alle sofort ersichtlich. Hier fühlen die anderen also mit der Kollegin. Anders beim Nasebohrer: Hier erschaudern (zunächst) nur die Zuschauer; dem Protagonisten ist die Schmach ja nicht gleich bewusst. Zudem spielt hier die Sympathie für die Hauptperson eine Rolle. Der geschasste Chefspion dürfte viele Menschen eher amüsieren, während der ungeschickte Oscar-Moderator und die dann doch leer ausgegangenen Nominierten mehr Anteilnahme wecken. Von schmerzhaft bis lustvoll sind also eine Menge Empfindungen möglich. Doch warum reagieren wir überhaupt so heftig auf fremde Missgeschicke, die uns eigentlich nichts angehen? Wonach entscheidet sich, was diese Momente in uns auslösen?

Es gibt verschiedene Wege, mit den Fehltritten anderer umzugehen. Man kann sich in die jeweilige Person hineinversetzen und für sie schämen. Oder man macht sich über den Betreffenden lustig – und spürt dann Schadenfreude. Beide Empfindungen haben einiges gemeinsam: Erstens handelt es sich um stellvertretende Emotionen. Wir reagieren damit auf ein Ereignis, dem wir nur beiwohnen, das uns aber nicht direkt betrifft. Außerdem sind beides Reaktionen auf einen drohenden Verlust der sozialen Integrität. Unser Gegenüber verletzt die Etikette, fällt aus dem Rahmen. In milden Fällen sorgt das nur für ein Schmunzeln. Bei ernsteren Verstößen steht hingegen sein Ansehen auf dem Spiel.

Diva der Dissonanzen | Mit einer guten Portion Eigensinn und Selbstironie avancierte die notorisch falsch singende Florence Foster Jenkins zu einem Opernstar der anderen Art.

Wenn fremdes und eigenes Gefühl nicht zusammenpassen

Eine dritte Gemeinsamkeit: Sowohl Schadenfreude als auch Fremdscham sind häufig diskordante Reaktionen. Das heißt, die eigenen Emotionen passen nicht unbedingt zum Gefühlshaushalt der Protagonisten. Dann nämlich, wenn wir uns über den Lapsus heimlich freuen – oder innerlich leiden, während der andere sein Vertun überhaupt nicht bemerkt.

Ein Team um Frieder Paulus und Sören Krach von der Universität Lübeck hat den Umgang mit fremden Peinlichkeiten genauer untersucht. Die Neuroforscher konnten spezifische Antwortmuster im Gehirn ausmachen – je nachdem, ob ihre Versuchspersonen eher mit Schadenfreude oder Fremdscham auf einen Fauxpas reagierten. Während die Probanden im MRT-Scanner lagen, betrachteten sie Zeichnungen. Die Bilder zeigten beispielsweise eine Frau, die beim Kopfsprung im Schwimmbad ihren Bikini verliert – oder einen Redner, der beim Vortrag seinen offenen Hosenschlitz nicht bemerkt.

Die Hälfte der Teilnehmer sollte sich auf die komischen Aspekte konzentrieren und bewerten, wie sehr die Situation sie amüsierte. Die übrigen wurden auf den schmerzhaften Aspekt der Bildgeschichten gelenkt. Sie gaben an, wie sehr sie sich für die abgebildete Person schämten.

Fremdscham hängt vom Kontext ab: Ein und dieselbe Sachlage finden wir mal tragisch und mal komisch

Schon diese simple Variation der Aufgabenstellung genügte, um bei den Teilnehmern verschiedene neuronale Antworten hervorzurufen. Zwar gab es eine große Überlappung; einige Hirnareale waren also in beiden Versuchsgruppen gleichermaßen aktiv. Aber es gab auch spezifische Reaktionsmuster: Teilnehmer, die besonders schadenfroh reagierten, zeigten eine stärkere Aktivierung im Nucleus accumbens, der zum Belohnungszentrum des Gehirns gehört. Anders jene Teilnehmer, die auf Fremdscham getrimmt worden waren. Bei ihnen war ein Bereich in der linken Inselrinde besonders aktiv, die frühere Studien häufig mit affektiver Erregung in Verbindung brachten. Diese sprach also für ein Mitfühlen mit dem Unglücksraben. Die Studie zeigte, wie stark die Reaktion vom Kontext abhängt: Ein und dieselbe Sachlage finden wir mal tragisch und mal komisch.

Außerdem fällt hier das eigene Verhältnis zum anderen ins Gewicht. Je näher er uns ist, desto heftiger die Reaktion. Ein Grund dafür ist der so genannte Kontaktschuld-Effekt. Wir fürchten, der Regelbruch könnte auf uns selbst zurückfallen. Eltern von kleinen Kindern können ein Lied davon singen. Einen empirischen Nachweis dieses Effekts liefert die kanadische Forscherin Jennifer Fortune von der University of Toronto: Ihre Versuchspersonen sollten sich vorstellen, wie sich ihr guter Freund Rob auf einer Hausparty direkt vor der Gastgeberin erbricht. Sofort fürchteten sie, das könnte ihrem eigenen Ansehen schaden. Handelte es sich bei Rob jedoch um einen Fremden, sorgten sich die Teilnehmer keineswegs um ihren Ruf.

Die Lübecker Arbeitsgruppe hat darüber hinaus untersucht, wie sich die soziale Nähe zum Protagonisten auf die erlebte Fremdscham auswirkt. Im MRT-Scanner sollten die Probanden wieder Illustrationen von peinlichen Momenten betrachten – etwa, wie jemandem in der Postfiliale die Hose reißt oder der Sitznachbar im Kino laut telefoniert. »Wir haben die Versuchspersonen in zwei Gruppen unterteilt«, erklärt Sören Krach. »Die einen sollten sich vorstellen, dass ein Freund oder eine Freundin die Situation verursacht. Bei der anderen Gruppe war eine fremde Person für die Peinlichkeit verantwortlich.« Je nachdem fiel die emotionale Reaktion verschieden stark aus: Für Freunde schämten sich die Teilnehmer intensiver als für Unbekannte.

Der Effekt schlug sich auch im Hirnscan nieder. Zwei Areale waren stärker aktiv, wenn in der Bildgeschichte ein Freund (statt eines Unbekannten) hinter dem Missgeschick steckte: der vordere zinguläre Kortex und die vordere Inselrinde. Beide gehören zu einem Netzwerk, das sonst körperlichen Schmerz verarbeitet – und zwar eigenen ebenso wie nur beobachteten. Ob sich jemand einen sozialen Fehltritt erlaubt oder auf eine Reißzwecke tritt – beides wird vom Betrachter ähnlich interpretiert. Manche Dinge tun eben schon vom Zusehen weh.

Doch warum kratzen uns fremde Peinlichkeiten überhaupt so sehr? Psychologen und Hirnforscher vermuten, dass die Theory of Mind eine Schlüsselrolle spielt. Gemeint ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Überzeugungen und Wünsche nachzuvollziehen. Bemerkt der Protagonist den Lapsus selbst, ist der Fall klar: Die Umstehenden teilen dessen Scham und spiegeln seine Gefühle auf empathische Weise. Komplizierter wird es, wenn der Protagonist das Fettnäpfchen selbst nicht bemerkt. »Streng genommen handelt es sich um einen Fehler in der Perspektivübernahme«, meint Sören Krach. »Wenn man sich 100-prozentig in die andere Person hineinversetzt, dürfte man sich gar nicht fremdschämen. Schließlich weiß die Person ja nicht, dass ihr Spinat zwischen den Zähnen klebt oder ihre Hose offen ist.« Die Gefühle der Zuschauer passen nicht zu denen des Redners. Statt die Emotionen zu spiegeln, beziehen die Umstehenden ihr Privatwissen und ihre persönlichen Wertvorstellungen mit ein. Sie stellen sich vor, wie sich der andere fühlen würde, wenn er von dem Versehen wüsste. Eine Perspektive übernehmen, die eigentlich fiktiv ist? Klingt ganz schön kompliziert.

Wie vertrackt die stellvertretende Scham ist, zeigt sich an Menschen, die Probleme im sozialen Austausch haben. In einer weiteren Studie verglich Krachs Arbeitsgruppe die Reaktionen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung mit denen einer Kontrollgruppe aus Schülern und Studenten. Wieder sollten die Versuchspersonen Bilder von peinlichen Situationen betrachten. »Die Teilnehmer mit Autismusdiagnose konnten ebenso gut wie die gesunden Personen einschätzen, ob eine Situation peinlich war oder nicht«, stellt Krach fest. Das galt aber nur für versehentliche Normverstöße – etwa, wenn der Protagonist der Geschichte im Schlafanzug zur Schule ging. Schwieriger war es, wenn sich die Figuren absichtlich über soziale Normen hinwegsetzten, etwa in einem Vortrag ungeniert mit ihren Erfolgen prahlten. Hier erlebten die autistischen Probanden messbar weniger Fremdscham – anders als Kontrollpersonen, die solche Momente als unangenehm erlebten. Beim Beurteilen von peinlichen Momenten geht es also nicht nur um eindeutige Normverstöße. Das vermutete Motiv dahinter (in diesem Fall: Eitelkeit) spielt eine Rolle.

Kurz erklärt: Cringe

(englisch für erschaudern, zusammenzucken) bezeichnet ein unangenehmes Gefühl, das viele Menschen empfinden, wenn sie Zeuge einer peinlichen Situation werden – auch wenn sie selbst gar nicht betroffen oder beteiligt sind. Oft schämt sich ein Beobachter dabei stellvertretend für den Verursacher der Blamage. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob sich der Protagonist der Peinlichkeit bewusst ist – vielmehr ist der eigene Anspruch des Zuschauers in Sachen Moral oder Kompetenz ausschlaggebend.

Nicht immer lässt sich eindeutig beschreiben, worin die Pikanterie einer Situation liegt. Viele Cringe-Momente drehen sich um subtile soziale Codes, die sich auf persönliche Werturteile stützen und sich kaum in Verhaltensregeln ausdrücken lassen. Sören Krach gibt ein Beispiel: »Vor zwei Jahren habe ich erlebt, wie ein Mann seinen gelben Ferrari auf dem Bürgersteig vor einem Café parkte, um sich ein Eis zu kaufen«, erzählt er. »Einige der Gäste wendeten ihren Blick ab, weil ihnen die Selbstinszenierung peinlich war. Nur ein kleiner Junge rief: Mama, schau mal, was für ein tolles Auto!« Was die einen begeistert, belustigt andere – und lässt wieder andere zusammenzucken. »Ein und dieselbe Situation kann sehr verschiedene Reaktionen auslösen. Menschen lassen ihre persönlichen Einstellungen, Normen und Lernerfahrungen in die Bewertung einfließen«, so Krach.

Das Versagen der anderen genießen

Nicht alle schrecken vor Cringe-Momenten zurück, im Gegenteil. Viele Menschen reagieren mit Neugier oder sogar Entzücken auf die Fettnäpfchen anderer. Verschiedene Fernsehserien und Internetseiten haben die heimliche Lust an fremden Peinlichkeiten als Quotengarant entdeckt. Ähnlich wie bei Horrorfilmen liegen Genuss und Erschaudern dicht beieinander. Die Komik von Formaten wie »Mr. Bean« oder »Borat« liegt darin, unangenehme Situationen auf die Spitze zu treiben. Castingshows wie »Deutschland sucht den Superstar« führen die talentlosen Kandidaten genüsslich vor – und lassen sie aus voller Kehle schräg singen.

Bei Youtube, Instagram und in einschlägigen Internetforen finden sich zahlreiche Cringe-Kollektionen, die teils millionenfach geklickt werden. Einige sind auf ein bestimmtes Publikum zugeschnitten – und lassen den Rest der Welt eher ratlos zurück. Diese Seiten sammeln beispielsweise Aufnahmen von Fußballfans, Esoterikern, Feministinnen, Männerrechtlern, Partyvolk, Corona-Querdenkern und so weiter – was immer in den Augen der Zielgruppe gerade als peinlich gilt.

Für nichts zu schade | Um seinen Anhängern zu signalisieren, wie wenig er auf andere Meinungen gibt, verhöhnt Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro schon mal Covid-Opfer.

Fettnäpfchen als politisches Werkzeug

Selbst auf der politischen Bühne hat Cringe seinen Platz gefunden. Populisten etwa arbeiten gern mit kalkulierten Schamlosigkeiten. Niemand beherrschte dieses Spiel besser als der frühere US-Präsident Donald Trump, der die Normbrüche regelrecht suchte: Er gab Angela Merkel nicht die Hand, machte sich über einen körperbehinderten Journalisten lustig und klopfte Sprüche über Emmanuel Macrons Ehefrau. »Damit signalisierte er seinen Anhängern, dass er die Regeln der vermeintlichen politischen Elite ignoriert«, erklärt Schamforscher Sören Krach. Seine Gegner wiederum fühlten sich in ihrer Integrität als US-Bürger verletzt, welche der Präsident repräsentierte.

Diesen Effekt konnte Krachs Team in einer Analyse von Twitter-Daten belegen: Die Forscher analysierten sämtliche US-Tweets von Juni 2015 bis Dezember 2017 auf die Erwähnung von Scham und Verlegenheit hin. Das Ergebnis: Seit Beginn von Trumps Präsidentschaft stieg der Anteil solcher Äußerungen um 45 Prozent, wobei ein Großteil der Posts direkt auf den damaligen US-Präsidenten Bezug nahm. Manche vermuten, dass die Obsession von Trumps Gegnern mit dessen Schamlosigkeiten sogar zu seinem Aufstieg beitrug. Schließlich stand Trump bereits während der Vorwahlen ständig für seine Entgleisungen im Rampenlicht – und wusste die Aufmerksamkeit geschickt für sich zu nutzen.

Trump mag (vorerst) Geschichte sein, doch das Prinzip hat Schule gemacht. Autoritäre Politiker wie Jair Bolsonaro oder Recep Erdoğan arbeiten ebenfalls mit gezielten Normverstößen – etwa, als bei einer Pressekonferenz in Ankara im April 2021 für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kein Sessel, sondern nur ein weit entferntes Sofa parat stand.

Paulus, F. M. et al.: The politics of embarrassment: Considerations on how norm-transgressions of political representatives shape nation-wide communication of emotions on social media.

Frontiers in Communication 4, 2019

Doch was macht diese Schaudermomente so attraktiv, dass Menschen sie sich freiwillig in ihrer Freizeit bereiten? »Durch Fremdscham positioniert man sich als moralisch empfindsames Mitglied der Gesellschaft«, erklärt der Soziologe Patrick Wöhrle von der Technischen Universität Dresden, der unter anderem zu »Cringe Comedy« forscht. »Man erschauert zwar ob des Fehlverhaltens anderer. Dabei merkt man aber, dass die eigene moralische Grammatik funktioniert.« Das zeigt sich gut an Reality-Formaten wie »Diagnose: Messie«, »Mein Leben mit 300 Kilo« oder »Frauentausch«. Diese Sendungen ziehen ihren Unterhaltungswert aus fremder Blamage. Es geht um die Unzulänglichkeiten der Protagonisten, die oft aus unteren Schichten der Gesellschaft stammen: Fettleibigkeit, mangelnde Hygiene, Sprachfehler, Wissenslücken, eskalierende Streitigkeiten. Die Zuschauer ergötzen sich daran, frei nach dem Motto »Vielleicht läuft bei mir nicht alles glatt, aber so schlimm wie bei denen ist es auch wieder nicht«.

»Im Alltag bearbeiten wir peinliche Situationen häufig gemeinsam. So zeigen wir uns solidarisch mit den anderen«, erklärt Wöhrle. Etwa, wenn ein Referent beim Vortrag versehentlich sein Wasserglas umstößt: Vielleicht fängt er die Situation mit einem schlagfertigen Witz auf und hat die Lacher auf seiner Seite – oder die Moderatorin entschuldigt sich dafür, dass sie das Wasserglas zu nah bei ihm abgestellt habe. Genau diese Reparaturmechanismen funktionieren in Reality-Formaten nicht mehr – dafür sorgt bereits der Schnitt. »Die Protagonisten können ihre Fehltritte kaum korrigieren und ihre Würde nicht zurückgewinnen. Die Situationen erscheint nicht mehr kollektiv bewältigbar, sondern als individuell verschuldet«, erklärt Wöhrle.

»Fun ist ein Stahlbad«

Diese Art der Komik scheint eine normierende Funktion zu haben: Statt die (oft willkürlichen oder ausgrenzenden) sozialen Normen zu hinterfragen, geht es darum, sich abzugrenzen und auf der richtigen Seite zu wähnen. Das erinnert an einen Slogan von Max Horkheimer und Theodor Adorno: »Fun ist ein Stahlbad«. Die beiden Philosophen meinten damit eine Art des Lachens, das sich über fremdes Unglück erhebt und die ungerechten Zustände so zementiert: »Der Triumph übers Schöne wird vom Humor vollstreckt, der Schadenfreude über jede gelungene Versagung«, schrieben sie in ihrer »Dialektik der Aufklärung«. »Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt.«

Zur Ehrenrettung des Cringe-Humors sei gesagt: Längst nicht alle seine Vertreter folgen dieser Logik. »Es ist zunächst nur ein Erschaudern. Das heißt, man fühlt etwas, kann aber sein Unwohlsein noch nicht zuordnen«, meint Wöhrle. Intelligente Comedy versuche oft, dieses schwer ertragbare Gefühl zu forcieren, ohne die Peinlichkeit konkret einer Person anzulasten. »Die Frage ist, in welche Richtung das Gefühl aufgelöst wird. Wir können feststellen, dass sich da jemand falsch verhalten hat. Wir könnten aber auch fragen: Warum fühle ich mich beim Betrachten überhaupt unwohl? Ist das Problem vielleicht nicht die konkrete Handlung, sondern meine eigene moralische Apparatur?«

Ein Beispiel dafür ist die beliebte TV-Serie »Stromberg«, die die Tragikomik des Bürolebens einfängt und dabei immer neue Schammomente evoziert. Dabei bleibt allerdings offen, worin die Peinlichkeit genau liegt: Im Rampenlicht steht der selbstherrliche Abteilungsleiter Bernd Stromberg, der mit seiner unsensiblen Art kein Fettnäpfchen auslässt. Gleichzeitig stellen die Szenen aber die Normen und Strukturen bloß, nach denen der Unternehmensalltag funktioniert. Was die Zuschauer mit ihrem Erschaudern machen, bleibt ihnen selbst überlassen.

Darin liegt die Faszination des Phänomens Cringe: Es lässt sich schwer neutralisieren und entzieht sich einem eindeutigen Schuldspruch. Das empfundene Unbehagen lässt sich auf verschiedene Weise verarbeiten. Dann kann die Fremdscham sehr lehrreich sein. Oder sie führt dazu, dass alle Beteiligten gemeinsam lachen – über den kuriosen Zwischenfall, die oft willkürlichen Regeln des Zusammenlebens und die absurden Seiten des menschlichen Daseins.

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  • Quellen

LITERATURTIPP

Wöhrle, P., Ziemann, A.: Anflirten, Ablachen, Fremdschämen – kultursoziologische Überlegungen zur Krise des sozialen Sinns. In: Kultursoziologie im 21. Jahrhundert. Springer VS, 2014, S. 255–268

Gedanken zur heutigen Konjunktur des Fremdschämens

QUELLEN

Mayer, A. V. et al.: Spinach in the teeth: How ego-and allocentric perspectives modulate neural correlates of embarrassment in the face of others’ public mishaps. Cortex 130, 2020

Melchers, M. et al.: Reality TV and vicarious embarrassment: An fMRI study. Neuroimage 109, 2015

Müller-Pinzler, L. et al.: When your friends make you cringe: Social closeness modulates vicarious embarrassment-related neural activity. Social Cognitive and Affective Neuroscience 11, 2016

Paulus, F. M. et al.: Demands in reflecting about another’s motives and intentions modulate vicarious embarrassment in autism spectrum disorders. Research in Developmental Disabilities 34, 2013

Paulus, F. M. et al.: Laugh or cringe? Common and distinct processes of reward-based schadenfreude and empathy-based fremdscham. Neuropsychologia 116, 2018

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