Bakterielle Kommunikation: Der Ozean ist vernetzter als bislang gedacht

Bakterien der Gattung Prochlorococcus sind so klein, dass man etwa 1000 von ihnen aneinanderreihen müsste, um die Dicke eines menschlichen Daumennagels zu erreichen. Im Ozean wimmelt es nur so vor ihnen: Die Mikroben gehören wahrscheinlich zu den häufigsten fotosynthetisch aktiven Organismen dieses Planeten. Die Gesamtzahl dieser Einzeller wird auf 3 000 000 000 000 000 000 000 000 000 geschätzt – drei Quadrilliarden oder 3 x 1027. Rund fünf Prozent allen Sauerstoffs, den wir atmen, stammt von ihnen.
Lange Zeit betrachteten Biologen diese Organismen als isolierte Einzelgänger, die in der unergründlichen Weite des Ozeans umhertreiben. Doch die Prochlorococcus-Population ist untereinander wohl stärker vernetzt, als man bislang dachte. Möglicherweise sind die Mikroben, die zu den Cyanobakterien gehören, nicht nur mit Informationen und Nährstoffen gefüllte Hüllen, sondern unterhalten sich über weite Entfernungen miteinander und bilden ein hochkomplexes Schwarmwesen.
Einen ersten Hinweis darauf bemerkte 2024 ein spanisches Forschungsteam von der Universidad de Córdoba. Unter dem Mikroskop sahen die Wissenschaftler, dass aus einer Cyanobakterienzelle ein langer, dünner Schlauch gewachsen war, mit dem diese sich an ihren Nachbarn klammerte. Das Bild ließ die Forscher aufmerken. Schnell dämmerte ihnen, dass dies kein Zufall war.
»Wir erkannten, dass die Cyanobakterien über diese Schläuche miteinander verbunden waren«, erklärt die Mikrobiologin María del Carmen Muñoz-Marín. Es seien Verbindungen zwischen Prochlorococcus-Zellen nachweisbar gewesen und sogar welche mit anderen Cyanobakterien aus der Gattung Synechococcus, die oft in der Nähe leben. Auf den Bildern sind silbrige Fäden zu erkennen, die drei, vier und manchmal zehn oder mehr Zellen miteinander verknüpfen.
Muñoz-Marín hatte sofort eine Vermutung zur Identität der mysteriösen Gebilde: Nach einer Reihe von Tests stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Brücken um bakterielle Nanoröhren handelt. Diese Strukturen, die vor 14 Jahren bei einem gewöhnlichen Laborbakterium das erste Mal beobachtet wurden, ermöglichen den Fluss von Nährstoffen und Ressourcen zwischen zwei oder mehreren Zellen.
Bakterien haben ein äußerst aktives Sozialleben
Bakterielle Nanoröhren riefen in letzter Zeit sowohl Faszination als auch Kontroversen unter Fachleuten hervor: Warum bilden sie sich? Und was genau fließt zwischen diesen vernetzten Zellen hin und her? Die Bilder aus Muñoz-Maríns Labor lieferten den ersten Beweis für diese ungewöhnlichen Ausstülpungen der Cyanobakterien. Sie erschüttern grundlegende Vorstellungen über Bakterien und werfen zahlreiche Fragen auf: Wie viel teilt Prochlorococcus mit den umliegenden Zellen? Lassen sich diese und andere Bakterien immer noch als einzellig betrachten?
Etliche Bakterien haben ein äußerst aktives Sozialleben. Einige bilden so genannte Pili, haarähnliche Wucherungen aus Protein, die zwei Zellen miteinander verbinden, damit sie DNA austauschen können. Manche formieren sich zu dichten Plaques, die als Biofilme bekannt sind. Und wieder andere stoßen winzige Bläschen aus, so genannte Vesikel, die wie eine Art Flaschenpost Botschaften aus DNA, RNA oder anderen Stoffen enthalten.
Bakterien haben diese Strukturen wohl schon immer hergestellt; sie wurden bloß nicht bemerkt oder ihre Bedeutung blieb unerkannt
Ursprünglich suchten Muñoz-Marín und ihre Kollegen, darunter der Mikrobiologe José Manuel García-Fernández, bei Prochlorococcus und Synechococcus nach diesen Bläschen. Die Nanoröhrchen waren eine völlig unerwartete Entdeckung.
Diese stellen somit ein neues Element im Portfolio der bakteriellen Kommunikation dar. 2011 hatten die Molekularbiologin Sigal Ben-Yehuda und ihr Mitarbeiter Gyanendra Dubey von der Hebräischen Universität Jerusalem erstmals Bilder von winzigen Membranbrücken zwischen Bakterien der Art Bacillus subtilis veröffentlicht. Darüber transportierten die Bakterien aktiv Material: Wie die beiden Forscher beobachteten, sickerten grün fluoreszierende Proteine, die in einer Zelle des Netzwerks produziert wurden, schnell durch die anderen Zellen hindurch. Das gleiche Ergebnis zeigte sich mit Calcein, einem kleinen Molekül, das nicht in der Lage ist, bakterielle Membranen allein zu durchqueren. Diese Zellen existierten somit nicht einfach bloß nebeneinander, sondern ihr Inneres war miteinander verbunden. Es handelte sich offenbar eher um Zimmer in einem großen Haus als um frei stehende, voneinander abgetrennte Behausungen.
Diese verblüffende Nachricht veranlasste andere Biologen, ihre eigenen Aufnahmen von Bakterienzellen daraufhin zu überprüfen. Bald zeigte sich, dass B. subtilis nicht die einzige Spezies ist, die Nanoröhrchen produziert. In Populationen von Escherichia coli und zahlreichen anderen Bakterien wurden ebenfalls kleine Gruppen von Zellen mit Nanoröhrchen gesichtet. In Experimenten analysierten die Fachleute, wie die Zellen die Röhren bilden und was sie enthalten. Über diese Verbindungen wandern Stoffe wie Aminosäuren, Enzyme sowie Toxine von Zelle zu Zelle. Somit scheint klar: Bakterien haben diese Strukturen wohl schon immer hergestellt; sie wurden bloß nicht bemerkt, oder ihre Bedeutung blieb unerkannt.
Kommen die Nanoröhren überall vor?
Es erwies sich allerdings oft als knifflig, Bakterien dazu zu bewegen, Nanoröhren herzustellen. So bekam eine Arbeitsgruppe der Tschechischen Akademie der Wissenschaften die Strukturen nur dann zu Gesicht, wenn Zellen abstarben. Ihre naheliegende Vermutung, dass die Röhren eine Erscheinungsform des Zelltods seien, ließ Zweifel daran aufkommen, ob die Gebilde wirklich zu einem wichtigen Bestandteil der normalen Biologie von Bakterien gehören. Inzwischen haben jedoch weitere Forschungsarbeiten sorgfältig dokumentiert, dass auch gesunde, lebende Zellen diese Strukturen bilden. All das deutet darauf hin, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Bakterien diesen Schritt vollziehen können. Ben-Yehuda schränkt jedoch ein: »Ich glaube, dass sie überall vorkommen.«
Die neuesten Erkenntnisse gelten als besonders aufschlussreich, weil es sich bei Prochlorococcus und Synechococcus um keine gewöhnlichen Bakterien handelt. Sie leben in einer äußerst turbulenten Umgebung: dem offenen Ozean, wo die Wasserbewegungen die zerbrechlichen Röhrchen jederzeit zerstören können. Außerdem sind sie fotosynthetisch aktiv; sie beziehen also das meiste, was sie zum Überleben brauchen, von der Sonne. Welchen Bedarf könnten sie für Handelsbeziehungen über Röhrennetze haben? Tatsächlich wurden auch in anderen marinen Bakteriengesellschaften Nanoröhren gesichtet. Doch diese Mikroben leben nicht fotosynthetisch, sondern nehmen Nährstoffe aus ihrer unmittelbaren Umgebung auf – eine Lebensweise, bei welcher der Austausch von Substanzen mit Nachbarn einen offensichtlicheren Nutzen haben könnte.
Als Muñoz-Marín und ihr Team die Nanoröhrchen entdeckten, blieben sie zunächst skeptisch. Sie wollten sichergehen, dass es sich nicht um einen Zufall bei der Aufbereitung der Zellen oder bei der Aufnahme der Bilder handelte, sondern um eine natürliche Struktur.
»Wir haben viel Zeit damit verbracht, sicherzustellen, dass das, was wir auf den Bildern sahen, tatsächlich physiologisch ist und nicht irgendein Artefakt«, erzählt García-Fernández. »Die Ergebnisse sind für marine Cyanobakterien so verblüffend, dass wir einerseits erstaunt waren und andererseits ganz auf Nummer sicher gehen wollten.«
Die Forscher analysierten die Zellen mit vier verschiedenen Methoden der Bildgebung: nicht nur mit dem Transmissionselektronenmikroskop, mit dem sie die Strukturen zum ersten Mal entdeckt hatten, sondern auch mit einem Fluoreszenzmikroskop, einem Rasterelektronenmikroskop sowie einem bildgebenden Durchflusszytometer, das lebende Zellen abbildet, während sie vorbeiziehen. Die Wissenschaftler untersuchten Prochlorococcus und Synechococcus einzeln und in ihren jeweiligen Kulturen. Sie untersuchten tote Zellen und lebende Zellen. Sie untersuchten sogar frische Meerwasserproben, die aus der Bucht von Cádiz stammten. In allen Proben entdeckten sie Nanoröhrchen, die etwa fünf Prozent der Zellen miteinander verbanden. Es schienen also keine Artefakte zu sein.
»Wenn man zu Beginn dieses Jahrhunderts über Phytoplankton im Meer sprach, dachte man an unabhängige, isolierte Zellen. Aber jetzt müssen wir meiner Meinung nach davon ausgehen, dass diese Wesen nicht allein agieren«José Manuel García-Fernández, Mikrobiologe
Um herauszufinden, ob es sich bei den Verbindungen wirklich um Nanoröhren handelt, führten die Wissenschaftler als Nächstes Versionen der Experimente mit grün fluoreszierendem Protein und Calcein durch, die bereits von Ben-Yehuda und Dubey beschrieben worden waren. Ergebnis: Die vernetzten Zellen leuchteten grün auf. Ebenfalls bestätigte das Team, dass die Verbindungen aus Membranlipiden und nicht aus Proteinen bestehen, was eher auf Pili hingedeutet hätte. Schließlich waren die Forscher überzeugt davon, dass es unzweifelhaft bakterielle Nanoröhren sind.
Diese Schläuche verbinden demnach einige der am häufigsten vorkommenden Organismen auf dem Planeten. Und damit war sofort etwas klar, was den Forschern noch immer im Kopf herumspukt: »Wenn man zu Beginn dieses Jahrhunderts über Phytoplankton im Meer sprach, dachte man an unabhängige, isolierte Zellen«, sagt García-Fernández. »Aber jetzt – und nicht nur auf Grund unserer Ergebnisse, sondern auch auf Basis der Ergebnisse anderer – müssen wir meiner Meinung nach davon ausgehen, dass diese Wesen nicht allein agieren.«
Ein zelluläres Netzwerk
Es gibt bereits eine gute Hypothese, was der Grund dafür sein könnte, dass sich Cyanobakterien zusammenschließen. »Sie haben merkwürdigerweise extrem kleine Genome«, sagt der Mikrobenforscher Christian Kost von der Universität Osnabrück. Mit nur etwa 1700 Genen besitzt Prochlorococcusdas kleinste Erbgut aller bekannten frei lebenden fotosynthetischen Zellen; Synechococcus folgt mit geringem Abstand.
Kleine Genome entlasten die Organismen von dem Druck, eine umfangreiche DNA zu unterhalten. Doch dieser Umstand erfordert auch, dass sie viele grundlegende Nährstoffe und Stoffwechselprodukte nicht selbst herstellen können, sondern aus ihrer Umgebung beziehen müssen. Bakterien mit sehr schlanken Genomen bilden manchmal symbiotische Gemeinschaften mit anderen Organismen, die produzieren, was Erstere brauchen, und wiederum selbst brauchen, was jene produzieren.
»Das kann viel effizienter sein, als zu versuchen, alle Stoffwechselprodukte selbst herzustellen«, erklärt Kost. »Wenn man jedoch in einer Flüssigkeit lebt, hat man ein Problem: Wie tauscht man diese Stoffwechselprodukte mit anderen Organismen aus?«
Nanoröhren könnten eine Lösung hierfür sein. Die auf diese Weise geteilten Nährstoffe werden nicht von der Strömung weggeschwemmt, verdünnt oder von Trittbrettfahrern aufgefressen. In Computersimulationen fanden Kost und seine Kollegen heraus, dass Nanoröhren dabei helfen könnten, die Fähigkeit zur Kooperation zwischen Bakteriengruppen auszubilden.
»Darüber hinaus zeigt die Arbeit der spanischen Gruppe, dass dieser Transfer sowohl innerhalb als auch zwischen den Arten stattfindet«, erläutert Kost. »Das ist wirklich hochinteressant.« 2015 hatten er und seine Kollegen ebenfalls festgestellt, dass verschiedene Bakterienarten durch Nanoröhren miteinander verknüpft sind.
»Diese Art der Zusammenarbeit ist wahrscheinlich verbreiteter, als uns bewusst ist«, sagt der Mikrobiologe Conrad Mullineaux von der Queen Mary University of London. Offenbar gibt es sie sogar in Umgebungen wie dem offenen Ozean, wo die Bakterien nicht immer nahe genug beieinander sind, um die Strukturen zu bilden.
Bakterien scheinen auf den ersten Blick einfach und einzellig zu sein. Dabei können Bakterienkolonien, Biofilme und Verbünde verschiedener Mikroorganismen gemeinsam komplizierte technische Leistungen und Verhaltensweisen vollbringen, die denjenigen von Mehrzellern in mancherlei Hinsicht in nichts nachstehen. »Wenn ich mich streitlustig fühle, versuche ich die Leute manchmal davon zu überzeugen, dass sie einfach nur ein Biofilm sind«, sagt Mullineaux. Wenn das Meer voller Cyanobakterien steckt, die über Nanoröhrchen und Bläschen miteinander kommunizieren, dann könnte dieser Ressourcenaustausch vielleicht etwas so Grundlegendes wie die Sauerstoffmenge in der Atmosphäre oder die Menge des im Ozean gebundenen Kohlenstoffs beeinflussen.
Schwarmorganismus statt Individuen
Christian Kost, Sigal Ben-Yehuda und Conrad Mullineaux halten die Ergebnisse der neuen Studie für faszinierend. Ihrer Ansicht nach hätten die Autoren alle bekannten Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass es sich bei den beobachteten Strukturen tatsächlich um Nanoröhren handelt. Es bedarf jedoch noch einiges an weiterer Forschungsarbeit, um die Tragweite der Ergebnisse zu verstehen. Eine große offene Frage ist insbesondere, was genau Prochlorococcus und Synechococcus in freier Natur eigentlich miteinander teilen. Die Fotosynthese ermöglicht es diesen Bakterien zwar, Energie von der Sonne zu beziehen; Nährstoffe wie Stickstoff oder Phosphor müssen aber auch sie aus der Umwelt aufnehmen. Rachel Ann Foster von der Universität Stockholm, die als Spezialistin für Nährstoffflüsse im Meer gilt, will das nun klären und dabei helfen, diese Stoffe in den miteinander vernetzten Zellen aufzuspüren.
Eine weitere Frage ist, wie und unter welchen Bedingungen die Bakterien diese Röhren bilden. Sie sind nicht viel länger als eine einzelne Zelle, und man nimmt an, dass sich vor allem Prochlorococcus in allen Wasserschichten ausbreitet. Die einzelnen Zellen sind entsprechend so weit verstreut, dass sie einander möglicherweise gar nicht nahe genug gekommen, um sich zu vernetzen – anders als im Reagenzglas im Labor. Das Team von María del Carmen Muñoz-Marín will wissen, welche Konzentrationen von Bakterien erforderlich sind, damit sich ein Netzwerk bildet. »Wie oft könnten sich diese zunächst unabhängigen Zellen nahe genug kommen, um diese Nanoröhren zu entwickeln?«, fragt García-Fernández. Die aktuelle Studie zeige, dass sich Nanoröhren zwar zwischen im Meer lebenden Zellen bilden, doch die genauen Voraussetzungen seien unklar.
Wenn José Manuel García-Fernández zurückblickt, was über bakterielle Kommunikation bekannt war, als er vor 25 Jahren begann, marine Cyanobakterien zu studieren, wird ihm bewusst, wie stark sich das Feld inzwischen gewandelt hat. Früher hätten die Fachleute geglaubt, sie sähen Myriaden von Individuen, die in einem riesigen Raum nebeneinander schwimmen und mit benachbarten Arten um die Ressourcen konkurrieren. »Die Tatsache, dass es eine physische Kommunikation zwischen verschiedenen Arten von Organismen gibt, verändert meiner Meinung nach sehr viele frühere Vorstellungen darüber, wie das Leben im Ozean funktioniert«, sagt er. Die Unterwasserwelt ist eben viel vernetzter, als man bisher dachte.

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