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Dunkle Materie: DAMA gegen den Rest der Welt

Seit zwei Jahrzehnten behauptet eine italienische Forschergruppe, die Dunkle Materie aufgespürt zu haben. Doch leider glaubt ihr niemand.
Dunkle Materie (Illustration)

Während sich an der einen Stelle Wissenschaftler noch darüber streiten, ob es die Dunkle Materie überhaupt gibt, ist an anderer Stelle die Sache längst geritzt. Besagte Stelle befindet sich rund 1400 Meter tief unter der Erde im italienischen Gran-Sasso-Nationallabor, besteht aus rund 250 Kilogramm Natriumiodid-Kristallen mit ein bisschen Thallium und nennt sich das DAMA/Libra-Experiment.

Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten stoßen angeblich Teilchen der mysteriösen Dunklen Materie mit Atomen dieser Kristalle zusammen, im Juni mehr, im Dezember weniger. Sie lösen dabei jedes Mal winzige Lichtblitze in den Kristallen aus, die Forscherherzen im Rhythmus der Jahreszeiten höherschlagen lassen.

Leider sind es nur einige wenige Forscherherzen. Sie gehören den Mitgliedern des Teams um Rita Bernabei von der Universität Rom Tor Vergata, das seit 25 Jahren mit dem DAMA/Libra-Detektor (beziehungsweise seinen Vorgängern) arbeitet. Aktuell gehören rund 30 Forscher zu der Gruppe, sie kommen aus Italien, Russland und China. Für sie ist die Sache klar: Kaum war das das Experiment im Jahr 1995 eingeschaltet, da tauchte auch schon das gewünschte Signal der winzigen Lichtblitze im Jahreszeitenrhythmus auf. Jährliche Modulation nennen die Wissenschaftler das.

Ein Nebel aus unsichtbaren Tröpfchen?

Die Dunkle Materie ist das wohl größte Rätsel der modernen Astrophysik. Sie soll ein Stoff sein, der kaum mit sichtbarer Materie wechselwirkt, von dem es aber mehr als viermal so viel geben soll wie von der sichtbaren Materie, also von Sternen, Gasnebeln, Planeten. Er müsste Galaxien vor dem Auseinanderfliegen bewahren – und außerdem Haufen von ihnen in den Weiten des Alls zusammenhalten.

DAMA/LIBRA | Blick in den mit Bleiblöcken abgeschirmten Dunkle-Materie-Detektor in einem Labor unter dem Gran Sasso d'Italia.

Allerdings haben Forscher bis heute keine Ahnung, ob es dieses Wundermaterial ganz sicher gibt und um was es sich dabei wirklich handelt. Wenn die Dunkle Materie aus Teilchen besteht, wie viele Forscher vermuten, müssten diese Teilchen unsere gesamte Galaxie füllen, ähnlich einem feinen, unglaublich weiten Nebel aus Tröpfchen, die niemand sehen kann. Die Erde würde sich laufend durch diesen Nebel hindurchbewegen. Damit würde alles auf unserem Planeten – Menschen, Autos und auch die viertel Tonne Natriumiodid im Gran-Sasso-Nationallabor – zu jedem Zeitpunkt von Dunkle-Materie-Teilchen getroffen.

Wenn das alles so stimmt, dann fliegen mal mehr, mal weniger der Partikel durch den Detektor. Schließlich kreist die Erde nicht nur um die Sonne, sie bewegt sich auch mit ihr rasant durchs Weltall. Denn der Stern vor unserer Haustür ruht nicht etwa, sondern treibt auf einer gigantischen Bahn um das Zentrum unserer Galaxie.

Wie ein Auto im Schneeregen

Je nachdem, ob die Erde im Lauf eines Jahres in derselben Richtung unterwegs ist oder in Gegenrichtung, müssten mehr oder weniger Dunkle-Materie-Teilchen an irdischen Atomen hängen bleiben. Ganz so, als ob man mit dem Auto durch Schneeregen fährt und sich mal mit und mal gegen die Sturmrichtung bewegt. Die Schneeflockenrate auf der Windschutzscheibe wird dabei unterschiedlich groß sein.

Genau nach diesem Prinzip arbeitet DAMA: Die Forscher können damit zwar nicht einzelne Schneeflocken beobachten, aber sie können verfolgen, wie sich die Bedeckung der Windschutzscheibe mit der Fahrtrichtung ändert. Und siehe da: Seit das Experiment eingeschaltet wurde, beobachtet es im Juni mehr und im Dezember weniger Aktivität im Detektor. Das Team um Rita Bernabei kam also recht schnell zu dem Schluss: passt.

»Wir brauchen mehr Daten, bevor wir eine Aussage über Dunkle Materie im Allgemeinen treffen können«
William Thompson, Yale University

Leider – und hier entspinnt sich das Zeug für ein mittelgroßes Wissenschaftsdrama – sind die Forscher mit dieser Interpretation ziemlich allein. Obwohl sie erstmals 1997 an die Öffentlichkeit traten, zwischendurch ihr Experiment ausbauten und seit 20 Jahren nichts anderes behaupten, als die Dunkle Materie nachgewiesen zu haben, blieb all das aus, was so eine Entdeckung eigentlich nach sich ziehen sollte: Weder gab es weltweite Pressekonferenzen noch wissenschaftlichen Freudentaumel, überarbeitete Physiklehrbücher oder den unweigerlichen Nobelpreis.

Kein anderes Experiment sieht dasselbe wie DAMA

Die Dunkle Materie gilt nach wie vor als rätselhaft, als »nicht entdeckt«. Stellt sich die Frage: Was ist da los? Anruf bei Manfred Lindner, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Er kann das Problem klar benennen: Kein anderes Experiment der Welt habe bislang beobachtet, was DAMA beobachtet hat. Noch nicht einmal ansatzweise. »Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass das nicht passt«, sagt er.

Man sollte an dieser Stelle dazusagen: Lindner arbeitet an XENON1T, seinerseits ein Experiment zum Nachweis der Dunklen Materie. Statt Natriumiodid als Detektormaterial verwendet es flüssiges Xenon. Die Kollaboration, zu der Lindner gehört, ist so etwas wie der historische Gegenspieler von DAMA. »Wir sehen sozusagen überhaupt keine Schneeflocken«, sagt Lindner.

Xenon-Detektoren funktionieren ein wenig anders als das italienisch-russisch-chinesische Experiment. DAMA misst eine Rate und muss daher den störenden Untergrund als mehr oder weniger gegeben hinnehmen. Die Forscher können bei einem einzelnen Lichtblitz nicht sagen, ob es sich dabei um Dunkle Materie oder um einen Störeffekt handelt. Lindner und seine Kollegen haben sich hingegen darauf spezialisiert, gnadenlos alles aus ihrem Experiment herauszufiltern, was da nicht hingehört. Mit solch einem Detektor ließe sich nicht nur der Schneesturm nachweisen, sondern einzelne Schneeflocken.

Nach mehreren Ausbauten läuft das XENON-Experiment nun seit 13 Jahren. Genauso lange warten die Forscher auf einen Lichtblitz, der sich eindeutig der Dunklen Materie zuordnen ließe. Bislang: Dunkelheit.

»So eine Entdeckung sollte von einem unabhängigen Experiment überprüft werden«
Federica Petricca, MPI für Physik

Und XENON ist nicht allein. »Auch wir können zwischen Hintergrund und potenziellen Dunkle-Materie-Ereignissen unterscheiden«, sagt Federica Petricca vom Max-Planck-Institut für Physik in München. Petricca ist Sprecherin des CRESST-Experiments. CRESST ist auch ein Experiment zum Nachweis Dunkler Materie, hält im Gegensatz zu DAMA/Libra und XENON1T allerdings nicht nur nach Lichtblitzen auf Grund einer Kollision Ausschau, sondern ist zusätzlich auf die winzigen Temperaturschwankungen spezialisiert, die sich dadurch ergeben würden.

Kein Signal, nirgends

CRESST-I ging noch vor der Jahrtausendwende online. Seitdem: nichts. Derzeit suchen die Forscher mit CRESST-III weiter, ein Nachfolgeexperiment ist bereits geplant. Das Kuriose an der Geschichte: DAMA/Libra, XENON1T und CRESST-III befinden sich alle an derselben besagten Stelle, nämlich im italienischen Gran-Sasso-Nationallabor. Ein Experiment sieht Dunkle Materie. Die anderen beiden nicht. Und auch kein anderes Team hat bislang einen Fund verkündet, der die Jahre und die bohrenden Fragen anderer Wissenschaftler überdauert hätte.

Das erklärt, warum die Dunkle Materie bislang nicht als gefunden gilt. Damit bleibt jedoch offen, was genau DAMA seit bald einem Vierteljahrhundert so schön regelmäßig misst. Ist es wirklich nur eine Fehlerquelle hier auf der Erde, deren Intensität im Lauf der Jahreszeiten schwankt? Oder ist es am Ende doch die Dunkle Materie, die jedoch ganz anders daherkommt, als viele Forscher erwarten?

»Die DAMA-Kollaboration hat zweifelsohne ein Signal entdeckt, das mit der Erwartung für Dunkle Materie kompatibel wäre«, bestätigt CRESST-Forscherin Petricca. »Aber so eine Entdeckung sollte von einem unabhängigen Experiment überprüft werden.« Man könnte auch sagen: Einmal ist keinmal – gerade wenn es um wissenschaftlich bahnbrechende Entdeckungen geht.

Wassertank und Gerätehaus von XENON1T

Nun sind XENON1T und CRESST zwar unabhängige Experimente. Aber was, wenn die Dunkle Materie wählerisch ist, was ihre Wechselwirkungen angeht? Dann würden ihre Teilchen an einem Natriumiodid vielleicht eher hängen bleiben als an Xenon und anderen Materialien. Allzu wahrscheinlich ist das nicht. Doch wer weiß?

DAMA entdeckt sein Signal inzwischen mit einer Signifikanz von 12,9 Sigma. Das sind weit mehr als jene fünf Sigma, die in der Teilchenphysik als Schwelle für eine Entdeckung gelten. Dass das DAMA-Experiment etwas entdeckt, steht also außer Frage. Nur: wenn nicht Dunkle Materie, was dann?

»Man muss fairerweise sagen, dass bislang noch keine Erklärung gefunden wurde«, sagt Lindner. Denkbare Erklärungen gibt es dabei viele. Von Verunreinigungen über unbekannte saisonale Störeffekte, von Myonen aus der Erdatmosphäre oder dem Edelgas Argon bis hin zum Edelgas Helium, das Fehlsignale in den Photomultipliern auslösen könnte.

»Das ist Quatsch«, teilt hingegen Rita Bernabei, Sprecherin der DAMA-Kollaboration, auf Anfrage mit. »Bislang wurden weder systematische Fehlerquellen noch irgendwelche Nebeneffekte vorgeschlagen, die erklären könnten, wie das von DAMA beobachtete Signal und seine Eigenschaften zu Stande kommen.« Bernabei lässt sich auch nicht davon irritieren, dass alle anderen Dunkle-Materie-Detektoren bislang, nun, gar nichts entdeckt haben. »Es sind keine direkten, modellunabhängigen Vergleiche mit Experimenten möglich, die andere Detektormaterialien oder Ansätze verwenden oder nicht so empfindlich sind wie DAMA.«

Das heißt wohl, dass bislang eben nur das DAMA-Experiment genau so aufgebaut und genau so sensitiv ist, dass es als einziges Experiment auf der ganzen Welt die Dunkle Materie nachweisen kann und alle anderen eben nicht. Dass die wissenschaftliche Community so einen Fund weder auf sich noch auf ihrer Neugier sitzen lässt, ist klar. Sie ist auch nicht gerade angetan davon, dass die DAMA-Kollaboration nicht mit den Rohdaten ihres Experiments herausrückt. Stattdessen präsentieren Rita Bernabei und ihre Kollegen immer wieder die Ergebnisse ihrer Analysen mit der jährlichen Modulation. Aber welche Daten genau sie analysiert haben und vor allem wie, weiß niemand außer ihnen selbst.

DAMA mal zwei und 1,5 Antworten

Auch deshalb gibt es nun zwei Experimente, die das DAMA-Experiment so genau wie möglich kopieren, was den prinzipiellen Ansatz und das Detektormaterial angeht. Jahrelang wurden sie geplant und gebaut, inzwischen laufen sie. Und: Sie liefern eine Antwort – oder besser gesagt, anderthalb Antworten. Da wäre einerseits ANAIS, ein Detektor im unterirdischen Canfranc-Laboratorium in den spanischen Pyrenäen, der seit 2017 Lichtblitze aufzeichnet. Genau wie DAMA/Libra setzt er auf Natriumiodid-Kristalle und sucht nach dem gleichen Prinzip nach Dunkler Materie. »Bislang sehen wir keine jährliche Modulation in unseren Daten«, sagt ANAIS-Forscherin Marisa Sarsa von der Universität Saragossa. »Derzeit ist unser Signal zu 1,7 Sigma – oder zu rund 90 Prozent – inkompatibel mit dem von DAMA/Libra.«

Wem das zu wenig definitiv und nach zu wenigen Sigma klingt, muss sich noch etwas gedulden: »Unsere gegenwärtige Empfindlichkeit reicht nicht aus, um eine endgültige Antwort zu liefern«, sagt Sarsa. Aber in rund drei Jahren wird ANAIS genügend weitere Daten gesammelt haben, um genau das zu können. »Wir freuen uns darauf, etwas Licht auf dieses Rätsel scheinen zu lassen.«

Andererseits wäre da COSINE. Es wurde ebenfalls dem DAMA-Experiment nachempfunden, nur steht der Detektor in Südkorea. Auch COSINE hat kürzlich seine ersten Ergebnisse nach etwas mehr als anderthalb Jahren Betrieb vorgestellt. Und bislang schaut die Schneeflockenrate ganz normal aus – zumindest wenn man annimmt, dass es sich bei den Schneeflocken um die von vielen Theoretikern favorisierten Dunkle-Materie-Teilchen handelt, die so genannten WIMPs.

»Damit konnten wir die üblichste Sorte von WIMPs als Verursacher des Signals schon einmal ausschließen«, stellt William Thompson von der Yale University fest. »Aber wir brauchen mehr Daten, bevor wir eine Aussage über Dunkle Materie im Allgemeinen treffen können.«

COSINE kann damit derzeit weder ganz bestätigen noch ausschließen, dass das von den Wissenschaftlern gemessene Signal mit dem von DAMA/Libra übereinstimmt. Das Experiment braucht noch einige Jahre, um mehr Schneeflocken zu sammeln – bis sich ein schlüssiges Muster ergibt. Das wird, genau wie bei ANAIS, wohl noch zwei bis drei Jahren dauern.

Ein Mehr, ein Weniger, ein Woher

Währenddessen vermisst das DAMA-Experiment unter dem italienischen Bergmassiv weiterhin das jährliche Auf und Ab, Auf und Ab, ein Ende des Experiments steht bislang nicht fest. Was, wenn es einfach nicht verschwindet, selbst wenn die anderen Experimente nichts finden? »Es ist möglich, dass das DAMA-Signal nicht von Dunkler Materie verursacht wird«, sagt Thompson. Deshalb wolle sich das COSINE-Team auch darauf konzentrieren, Ideen aus der wissenschaftlichen Community zu testen. Vielleicht könne eine von ihnen ja die jährliche Modulation erklären.

Damit könnten die Forscher jene Offenheit liefern, die viele Experten mit Blick auf DAMA bisher vermissen. Sollte dabei eine bisher übersehene Fehlerquelle auftauchen, wird die Wissenschaftsgeschichte vermutlich festhalten: Ein wenig Open Science bei geringerem Konkurrenzdenken hätte dem DAMA-Experiment wohl gutgetan. Oder erleben die Astrophysiker das Gegenteil, knackt ein belächeltes Außenseiterteam das größte Rätsel der Disziplin? In rund drei Jahren wird man hoffentlich wissen, wie die Geschichte ausgeht.

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