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Erschöpfungssyndrom: Die lange ignorierte Schwäche

Die Forschung am chronischen Erschöpfungssyndrom hatte es bisher schwer. Nun scheinen die Wissenschaftler voranzukommen. Die Suche nach der Ursache ist allerdings langwierig und birgt immer wieder Rätsel.
Chronisches Erschöpfungssyndrom

Welches Mittel auch immer man nennt, Elizabeth Allen hat es sicherlich schon ausprobiert: Akupunktur, Antibiotika, Virostatika, chinesische Kräuter, Kognitive Verhaltenstherapie und mindestens zwei Dutzend andere Behandlungen. Eigentlich hasst sie es ja, sich damit zu beschäftigen; aber sie tut es doch, weil sie sich nach vergangenen Zeiten sehnt, in denen sie noch gesund war. Die 34-jährige Anwältin war Leistungsschwimmerin an einer der Ivy League Universities, als sie vor 14 Jahren erstmals unter chronischem Erschöpfungssyndrom litt. Ihre akribischen Aufzeichnungen machen deutlich, dass diese schwer fassbare Krankheit wesentlich mehr bedeutet als normale Müdigkeit. "Letztes Jahr hatte ich 117 Arzttermine und habe 18 000 Dollar dafür ausgegeben", erzählt sie.

Allen konnte es gar nicht glauben, dass selbst die Ärzte so wenig über die Beschwerden wussten, die auch als myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder schlicht CFS für Chronic Fatigue Syndrome bezeichnet werden. Deshalb beschloss sie vor einigen Jahren, an jeder Studie teilzunehmen, die sie aufnehmen würde. Im Jahr 2017 war es dann so weit – sie wurde Teil einer Studie, in der die Wirkung synthetischer Hormone bei Frauen mit CFS untersucht werden soll.

Nach jahrzehntelangem Desinteresse der Forschung haben die Betroffenen nun endlich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft erregt, und Dutzende explorativer Untersuchungen sind angelaufen. Auf der Suche nach beteiligten Genen, Proteinen, Zellen und eventuellen Infektionserregern nutzen die Forscher alle möglichen Tools der modernen Molekularbiologie. Zur Diagnose eines CFS, für das es möglicherweise verschiedenste Ursachen und Ausprägungen gibt, wollen sie einen Labortest entwickeln und die molekularen Pathways aufdecken, um später auch nach Medikamenten suchen zu können.

Die US National Institutes of Health (NIH) in Bethesda in Maryland unterstützten die Vorhaben im Jahr 2016 mit rund sechs Millionen US-Dollar und sogar 15 Millionen Dollar im Jahr 2017, was mehr als einer Verdoppelung gleichkommt. Darin enthalten waren Mittel für vier Projekte in den USA, die über die nächsten fünf Jahre mit insgesamt 36 Millionen Dollar gefördert werden.

Forschungsbereich kämpft um seine Reputation

Es steht viel auf dem Spiel, nachdem die Reputation des Forschungsbereichs durch kontroverse Daten und Ergebnisse unter Druck geraten ist. So war im Jahr 2009 das Retrovirus XMRV (Xenotropic murine leukemia virus-related virus) als Ursache der Erkrankung beschrieben und diese Erkenntnis gefeiert worden – bis das Paper zwei Jahre später zurückgezogen werden musste. 2011 und 2013 berichtete dann ein britisches Team, die CFS-Symptome ließen sich laut ihrer klinischen Studie namens PACE bei vielen Menschen durch Training und Kognitive Verhaltenstherapie mildern. Die Gesundheitsbehörden der USA und des Vereinigten Königreichs sprachen daraufhin entsprechende Empfehlungen aus; doch ab etwa 2015 wurde Kritik laut und das Design der viel zitierten Studie von Wissenschaftlern und Patientenvertretern öffentlich bemängelt. Und auch wenn die Studienleiter ernste Probleme leugneten, so wurden zumindest die Leitlinien beider Länder offiziell überarbeitet.

"Für CFS gibt es einfach noch kein passendes Analysetool. Auch die Cholera konnte erst dann mit einem Bakterium in Verbindung gebracht werden, als einem italienischen Mikrobiologen eines Tages ein Mikroskop zur Verfügung stand"Jose Montoya

Die Patienten treiben trotzdem in einer Art Informationsloch, sagt der Spezialist für Infektionskrankheiten Jose Montoya von der Stanford School of Medicine in Kalifornien, auch einer von Allens behandelnden Ärzten. "CFS wurde bisher nur mit den üblichen Methoden untersucht", erklärt er und hofft auf die neuen Technologien der Genomik, Proteomik, Metabolomik und anderer Forschungsfelder, die neue Erkenntnisse liefern könnten. "Auch die Cholera konnte erst dann mit einem Bakterium in Verbindung gebracht werden, als einem italienischen Mikrobiologen eines Tages ein Mikroskop zur Verfügung stand", sagt er. "Für CFS gibt es einfach noch kein passendes Analysetool."

Epidemie anhaltender Müdigkeit als Startpunkt

In den Jahren 1984 und 1985 kam es in Lake Tahoe in Nevada zu einer wahren Epidemie anhaltender Müdigkeit. Die US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) testete die Betroffenen auf Epstein-Barr-Virus, den Auslöser der Mononucleose (Pfeiffersches Drüsenfieber), bei der die Patienten auch sehr müde sind. Die Ergebnisse waren allerdings nicht so eindeutig, und die Untersuchungen wurden wieder eingestellt. Um 1987 prägten Forscher dann den Namen Chronic Fatigue Syndrome (CFS). Von den Medien wurde es allerdings abfällig als Yuppie-Grippe bezeichnet, und viele Ärzte erklärten den Betroffenen, ihre Symptome stünden im Zusammenhang mit Neurosen und Depressionen.

So mancher Kliniker hörte aber doch seinen Patienten genauer zu, wenn diese darauf bestanden, dass die lähmende Erschöpfung nicht nur in ihren Köpfen sei. Und während sich depressive Patienten durch kleine Übungen vorübergehend aufmuntern lassen, sind CFS-Patienten nach Anstrengungen oft tagelang ans Bett gefesselt. Manche haben auch chronisch mit körperlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen, einige mit Darmerkrankungen, andere verlieren sogar völlig die Fähigkeit zu laufen. Der Arzt und Wissenschaftler Anthony Komaroff von der Harvard Medical School in Boston in Massachusetts startete seine ersten Studien schon Mitte der 1980er Jahre, immer begleitet von regelmäßigen Dämpfern durch seine Kollegen. "Am meisten hat mich immer entmutigt, dass keiner sagen konnte, warum er eigentlich so skeptisch war", erinnert er sich.

Schon in den 1990er Jahren beschäftigte sich der Psychologe Leonard Jason von der DePaul University in Chicago in Illinois mit epidemiologischen Fragen. Laut der US-Behörde CDC trat das Syndrom selten und überwiegend bei weißen Frauen auf. Jason dagegen ging von etlichen unerkannten Fällen aus, weil wohl nicht jeder Betroffene eine zweite, dritte und vielleicht auch vierte ärztliche Meinung vor seiner Diagnose einholen wollte. Jene, die sich stigmatisiert fühlten, ans Bett gebunden waren, wenig Geld und vor allem keine ausreichende soziale Unterstützung hatten, fanden häufig nicht die Kraft, die langen Diagnosewege durchzustehen.

Alles, aber nicht selten

Jasons Mitarbeiter riefen deshalb bei fast 30 000 zufällig ausgewählten Telefonnummern in Chicago an und fragten nach, ob jemand im Haushalt Symptome der Erkrankung zeigte. Wenn ja, brachten sie die Patienten zur Untersuchung in die Klinik. Auf Grund dieser und anderer Studien wurde die Beschreibung "selten" aus der offiziellen Information der CDC gestrichen. Laut eines Berichts des US Institute of Medicine (IOM) aus dem Jahr 2015 sind 836 000 bis 2,5 Millionen Amerikaner betroffen. Eine andere Studie schätzte die Zahl der Fälle in Großbritannien auf mehr als 125 000. Für Nigeria zeigte sich sogar eine noch höhere Prävalenz, vielleicht auch auf Grund anderer Infektionskrankheiten und der vorherrschenden Mangelernährung. All diese Angaben sind bestimmt mit Unsicherheiten behaftet und schwer vergleichbar, weil jede Studie von anderen Kriterien ausgeht.

Chronisches Erschöpfungssyndrom

CFS-Patienten bleiben in der Bevölkerung sowieso eher unerkannt. Die meisten wurden schon von mindestens einem Arzt abgewiesen, und die Gesellschaft ignoriert sie immer wieder. In den USA, wo die Krankenversicherungen experimentelle Behandlungsmethoden als unnötig erachten und viele Arbeitgeber Krankheitszahlungen für nicht gerechtfertigt halten, ist die finanzielle Belastung der Betroffenen hoch. Aber auch in Ländern mit gesetzlich geregelter Krankenversorgung ist es nicht einfach. Viele Patientenvertreter werfen den Behörden im Vereinigten Königreich vor, das Chronic Fatigue Syndrome im Wesentlichen als psychische Erkrankung zu behandeln, nicht zuletzt gefördert durch die Ergebnisse der PACE-Studie, die von einer Linderung der Symptome durch körperliche Aktivität und Kognitive Verhaltenstherapie gesprochen hatte. Und selbst als sich viele Patienten über eine Verschlechterung ihres Zustands bei Anwendung der Empfehlungen beklagt hatten, stand der National Health Service (NHS), das staatliche Gesundheitssystem im Vereinigten Königreich, weiterhin dazu.

Laut Epidemiologen ist die Selbstmordrate unter Menschen mit Chronic Fatigue Syndrome auf Grund des ständigen Kampfes mit der Erkrankung und der ablehnenden Haltung der Gesellschaft bis zu siebenfach erhöht. Montoya wird eine dieser Tragödien nie vergessen. Es war vor etwa zehn Jahren, als seine Klinik für CFS-Patienten jede Woche nur einmal für einen halben Tag geöffnet war. Eines Tages erhielt er den Anruf einer weinenden Frau, deren 45-jährige Tochter sich nun das Leben genommen hatte. Sie war nach Kalifornien zurückgekehrt, nachdem sie am Erschöpfungssyndrom erkrankt war und hatte online von der Klinik gelesen. Dort wollte sie einen Termin vereinbaren, doch die Klinik war für ein paar Jahre im Voraus schon ausgebucht. In ihrem Abschiedsbrief bat die Tochter darum, ihr Gehirn der Forschung zur Verfügung stellen zu können. "Ich fühle mich so schuldig – das waren all die Jahre mit Hunderten von Patienten auf der Warteliste", sagt Montoya.

Wieso sind Frauen häufiger betroffen?

Heute ist Montoyas Klinik an fünf Tagen in der Woche geöffnet, und verschiedene Forschungsprojekte werden verfolgt. Die Hormonstudie, an der nun auch Allen teilnimmt, untersucht die Veränderungen im endokrinen System bei CFS-Patienten, nicht zuletzt, um zu klären, warum die Erkrankung häufiger bei Frauen als bei Männern auftritt. Nach Montoyas Haupthypothese beginnt alles mit einer Infektion, die das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringt.

Infektionen führen in der Regel zu einer Entzündung, bei der Proteinrezeptoren auf T-Zellen (einer bestimmten Gruppe von Immunzellen) korrespondierende Proteine auf Bakterien, Parasiten oder Viren erkennen. Die T-Zellen vermehren sich und treiben einen Prozess an, bei dem sich auch Antikörper produzierende Immunzellen, so genannte B-Zellen, vermehren. In den letzten Jahren konnten Forscher Hinweise auf eine ungewöhnliche Immunantwort bei CFS-Patienten feststellen. So beschrieb im Juni 2017 das Team um Montoya bei Betroffenen mit sehr ausgeprägter Erkrankung veränderte Spiegel für 17 verschiedene Zytokine (bestimmte Proteine des Immunsystems). Wie es zu dieser Störung der Immunantwort kommt, ist aber noch unklar. Möglicherweise ist es wie bei einigen Autoimmunerkrankungen, bei denen T-Zellen fälschlicherweise durch körpereigene Proteine anstatt durch einen Eindringling alarmiert werden und die B-Zellen daraufhin Antikörper gegen körpereigene Zellen bilden.

Ein zufälliger Befund unterstützte diese These. So behandelte der Onkologe Øystein Fluge vom Haukeland University Hospital in Bergen im Jahr 2008 einen Lymphompatienten mit Rituximab, einer Antikörpertherapie, die B-Zellen zum Absterben bringt. Der Patient erzählte ihm, dass während der Behandlung auch sein Chronic Fatigue Syndrome verschwunden war. Fluges Team führte daraufhin eine placebokontrollierte Studie mit 30 CFS-Patienten (ohne Krebs) durch und fand auch hier, dass sich unter Rituximab-Behandlung die Symptome besserten. Als sich dies herumsprach, erhielt Fluge Hunderte von E-Mails von Interessenten, die an der Studie teilnehmen wollten, wie auch von Ärzten aus aller Welt, die verzweifelt Fragen zu dieser experimentellen Therapie stellten.

Verbergen sich mehrere Krankheiten dahinter?

Doch Fluges Hoffnungen wurden im Oktober 2017 zunichtegemacht, als er die Daten seiner bisher unveröffentlichten klinischen Studie mit 151 Patienten auswertete und feststellen musste, dass Rituximab nicht besser wirkt als Placebos. Er hofft nun, dass sich bei weiterer Auswertung der Details zumindest für eine Subgruppe von Patienten ein Nutzen der Behandlung zeigt, denn nicht nur er vermutet, dass es sich beim chronischen Erschöpfungssyndrom eigentlich um eine ganze Reihe von Krankheiten mit unterschiedlichen Ursachen und Mechanismen handelt. Deshalb hilft vielleicht auch nicht allen Patienten dieselbe Behandlung; doch all das lässt sich wahrscheinlich erst dann genauer sagen, wenn die Unterschiede der Patienten klarer sind.

Erschöpfte Frau | Das chronische Erschöpfungssyndrom betrifft mehr Frauen als Männer. Wieso das so ist, das ist eines der großen Rätsel um die Erkrankung.

Immerhin hat die Studie gezeigt, dass Autoimmunität nicht als Hauptursache für das chronische Erschöpfungssyndrom anzusehen ist, schließt der Immunologe Derya Unutmaz aus Jacksons Laboratory for Genomic Medicine in Farmington in Connecticut. Seiner Meinung nach könnte die beobachtete Entzündung bei den Patienten eher mit einem Problem der Regulation im Immunsystem zusammenhängen, die essenziell ist für eine angemessene T-Zellen-Antwort auf harmlose Viren, Schimmelpilze und andere nicht bedrohliche Reize. "Dass Rituximab nun doch nicht wirkt, ist für die Patienten natürlich sehr enttäuschend – aber zumindest wurde nun überhaupt schon einmal eine Studie durchgeführt", fügt Unutmaz hinzu. "Dann können wir uns nun auf andere Ansätze konzentrieren." Und genau für dieses wissenschaftliche Interesse an der Erkrankung haben die Patientenvertreter seit den 1990er Jahren gekämpft.

Jahrzehntelang haben sich Betroffene und ihre Vertreter händeringend um Aufmerksamkeit bemüht. Schon 1998 berichtete die Mitbegründerin einer ME/CFS-Organisation in einer Zeitungskolumne über eine Konferenz in Boston, bei der auch ein Mitglied des ACT UP Interessenverbands anwesend war. Dieser ist für seine Untersuchungen über HIV/Aids bekannt und "von denen können wir noch lernen, wie sich das Interesse an einer Erkrankung steigern lässt".

Anfang 2000 beschuldigten Patientenvertreter die NIH, bevorzugt Anträge zur Finanzierung von psychiatrischen und verhaltensorientierten Studien und weniger jene zur Untersuchung der Pathophysiologie zu bewilligen. Das änderte sich dann allerdings 2015 ganz grundlegend, als der IOM Review über mehr als 9000 wissenschaftliche Veröffentlichungen erschien. "Die Hauptmessage war: CFS ist eine schwere, chronische, komplexe und systemische Erkrankung." Schon bald danach verkündete der NIH-Direktor Francis Collins, die Grundlagenforschung zur Aufklärung der Mechanismen des Syndroms solle stärker unterstützt werden.

Studien lassen sich nur teilweise reproduzieren

Im September 2017 wurde dann bekannt gegeben, welche Arbeitsgruppen Forschungsförderung der NIH erhalten, wobei einige der Projekte sehr ähnlich klingen, zumindest vom Ansatz her. Laut Walter Koroshetz, dem Leiter des National Institute of Neurological Disorders and Stroke in Bethesda und Vorsitzenden der Trans-NIH ME/CFS-Arbeitsgruppe, setzen die NIH nun auf Wiederholungsstudien. "Die bisherigen Analysen wurden nicht konsequent weiterverfolgt, die wichtigsten Ergebnisse nicht herausgefiltert, und es wurde nicht geklärt, welche der anfänglichen Ergebnisse reproduzierbar sind und welche bei Veränderung des Patientenkollektivs nicht mehr zu halten sind", erklärt er. Deshalb soll nun im Rahmen eines der geförderten Projekte ein Zentrum am Research Triangle Institute in North Carolina eingerichtet werden, an dem die verschiedenen Daten über CFS zusammengeführt werden.

"Wir haben noch gar keine Ahnung, wo wir bei dieser Erkrankung überhaupt stehen"Derya Unutmaz

Auch Unutmaz erhält eine Fünf-Jahres-Finanzierung mit zehn Millionen US-Dollar, um das Zusammenspiel von Immunsystem, Stoffwechsel und Nervensystem bei CFS-Patienten zu untersuchen. Zusammen mit Mikrobiologen möchte er die Bakterienbesiedelung aufklären und zeigen, wie deren Wandel wichtige Stoffwechselmetaboliten beeinflusst, beispielsweise im Zusammenhang mit entzündungsfördernder Glukose. Unutmaz räumt ein, dass sich dieses Projekt noch in einer ganz frühen Phase befindet und er erst Daten sammeln muss, um schärfere Hypothesen zu formulieren. "Wir haben noch gar keine Ahnung, wo wir bei dieser Erkrankung überhaupt stehen", gibt er zu bedenken. Auch einigen Forschern von der Columbia University in New York City und der Cornell University in Ithaca in New York wurden Projekte zu ganz ähnlichen Themen bewilligt, anhand derer sie Fragen zur Entzündung im Gehirn untersuchen wollen.

In den Augen so mancher Experten sollten die NIH wesentlich mehr dieser Projekte fördern. "Unser Problem ist immer, dass die Geldgeber viele Papers in kurzen Zeitabständen erwarten. Gerade diese komplexe Erkrankung verlangt aber Langzeitstudien, die auch noch dazu teuer sind", sagt die Immunologin Eleanor Riley von der University of Edinburgh im Vereinigten Königreich. Seit 2013 ist Riley am Aufbau und dem Unterhalt einer von den NIH unterstützten Biobank an der London School of Hygiene and Tropical Medicine beteiligt und sammelt dort Proben von CSF-Patienten. Auf Grund von Finanzierungsengpässen ist die Realisierung der Biobank allerdings nur begrenzt möglich.

200-mal mehr Geld für HIV-Forschung bei gleicher Betroffenenanzahl

Ronald Davis ist Biochemiker sowie Leiter des Stanford Genome Technology Center; und auch er hat es nicht einfach, Forschungsfinanzierung zu erhalten. Obwohl in den USA etwa gleich viele Menschen von HIV beziehungsweise CFS betroffen sind – nämlich 1,2 Millionen Patienten – erhielt die HIV-Forschung im Jahr 2017 etwa 200-mal so viel Geld von den NIH wie die CFS-Forschung, erklärt er.

Im Dezember gab der wohltätige Forschungsverband Open Medicine Foundation in Agoura Hills in Kalifornien (dessen Berater Davis ist) bekannt, ein Kooperationszentrum unter der Leitung von Davis zu unterstützen. In einem der Projekte soll das Gesamtgenom von 20 Patienten mit schwerem CFS sowie deren Familienmitgliedern untersucht werden, um Fragen zur genetischen Prädisposition zu klären. Ein weiteres Projekt beschäftigt sich auch mit der Entwicklung eines ersten Tests zur Diagnose der Erkrankung.

Vorgesehen ist hierfür ein kleines chipbasiertes Gerät mit 2500 Elektroden, das den elektrischen Widerstand in Immunzellen und Blutplasma bestimmen soll. Laut bisheriger Arbeiten zeigen Blutproben von CFS-Patienten im Vergleich zu jenen von gesunden Erwachsenen schlechtere Ergebnisse, wenn sie einem Stressfaktor wie einem Spritzer Salz ausgesetzt werden. Davis hält sich bisher noch mit Aussagen zum Test zurück und will erst eine größere Studie durchführen, um eindeutige und statistisch signifikante Resultate vorweisen zu können, einschließlich eines Unterschieds zwischen Patienten mit CFS und jenen mit anderen Erkrankungen. "Bei XMRV war das Problem, dass vorschnell Schlüsse gezogen wurden", betont er. "Meine Erfahrung zeigt: Daten, die für viel Wirbel sorgen, erweisen sich später oft als falsch."

"Meine Erfahrung zeigt: Daten, die für viel Wirbel sorgen, erweisen sich später oft als falsch"Ronald Davis

Davis hat schon etliche Enttäuschungen erlebt. Er beschäftigte sich erstmals im Jahr 2008 mit der Erkrankung, als sein Sohn Whitney Dafoe davon in Mitleidenschaft gezogen wurde und sich freiwillig dem Institut seines Vaters für Untersuchungen zur Verfügung stellte. Laurel Crosby war damals schon im Forschungsteam und erinnert sich noch gut an den E-Mail-Verkehr mit Dafoe, in dem sie über das Projekt diskutierten. Als die Krankheit bei Dafoe schlimmer wurde, antwortete er nicht mehr in ganzen Sätzen und schrieb nur noch ein Y für Yes/Ja und ein N für No/Nein. Und dann kamen nicht einmal mehr diese Meldungen. Dafoe ist inzwischen 34 Jahre alt und kann nicht mehr sprechen. Er kommuniziert mit seinen Eltern nur noch durch Bewegungen und reißt beispielsweise Löcher in Form von Herzen in Papierhandtücher.

Im Büro seines Vaters hängt ein Bild von ihm, auf dem er am Strand in Nordkalifornien steht und seine Arme in Richtung Himmel streckt. Davis machte das Foto an einem der letzten Tage, an denen sein Sohn noch laufen konnte. "Inzwischen kann er nicht mehr reden, er kann keine Musik mehr hören, er kann nicht mehr schreiben; er liegt einfach nur noch den ganzen Tag im Bett. Tausende Patienten schweigen betroffen, wenn ihnen vom Arzt gesagt wird, bei ihnen sei alles in Ordnung", weiß Davis. Genau deshalb testet er ganz versessen das kleine Gerät und untersucht Blutproben auf Proteine und Gensignaturen, die als Biomarker für die Erkrankung fungieren könnten. Weil es noch keine eindeutigen Kriterien und Marker für die Diagnose gibt, waren klinische Studien bisher extrem schwierig zu beurteilen.

Kritik an Studie

Der Journalist David Tuller wurde 2015 zum Patientenvertreter benannt und veröffentlichte eine kritische Stellungnahme zu den PACE-Studien. Einige Wochen später unterzeichneten sechs Forscher einen offenen Brief an den Herausgeber von "The Lancet", wo die ersten Daten dazu publiziert worden waren, und forderten deren erneute Analyse. Im März 2017 forderten Wissenschaftler und Patientenvertreter dasselbe in einem Brief an "Psychological Medicine" (wo 2013 weitere Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden) und verlangten das Zurückziehen des Papers. Als einer der Hauptkritikpunkte gelten Veränderungen während des Studienverlaufs, so die Art und Weise, wie die Erholung der Patienten bestimmt wurde, infolgedessen der Outcome der Studie einfacher erreicht werden konnte. Die Studienautoren wiesen diese und andere Vorwürfe auf ihrer Website zurück und antworteten, die Änderungen seien vor der Datenanalyse eingeführt worden und hätten die Ergebnisse nicht beeinflusst.

Viele Patienten und ihre Vertreter sind da anderer Meinung – immerhin geben die CDC nun die Empfehlungen der Studie nicht mehr weiter, auch wenn die Veröffentlichung nicht zurückgezogen wurde. Im September 2017 verkündete auch das NHS, seine Empfehlungen überarbeiten zu wollen. In einem entsprechenden Bericht kam ein Gremium zu dem Schluss, neuere biologische Modelle auf der Grundlage messbarer physiologischer Anomalien müssten stärker berücksichtigt werden.

Trotz all der Rückschläge und langwierigen Untersuchungen beurteilen viele die Arbeit der Wissenschaftler als angemessen – selbstkritisch und offen für Anmerkungen. In fünf Jahren könnte es schon möglich sein, spezifische Veränderungen im Immunsystem, Stoffwechsel sowie Drüsen- und Nervensystem von CFS-Patienten zu beschreiben und vielleicht auch eine genetische Prädisposition aufzudecken. Diese Indikatoren könnten dann hoffentlich zur Entwicklung diagnostischer Tests führen – und später in Behandlungsmöglichkeiten münden.

Allen hat sich nicht deshalb in Montoyas Studie eingeschrieben, weil sie sofort eine Heilung erwartet. Ihr würde es schon reichen, wenn zumindest die Patienten der nächsten Generation klarer sehen könnten, weil sie gut weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Körper plötzlich nicht mehr mitmacht. "Mir ist klar, wie langwierig wissenschaftliche Forschung ist", räumt sie ein. "Ich werde versuchen, alles mir Mögliche dazu beizutragen, dass die Wissenschaft so schnell wie möglich vorankommt."

Der Artikel ist im Original am 3.1.2018 unter dem Titel "A reboot for chronic fatigue syndrome research" in "Nature" erschienen, Nature 553, 14-17 (2018).

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