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Gletscherarchäologie: Das Eldorado der nordischen Jäger

Das Eis Norwegens ist dramatisch geschmolzen. Und hat die bisher ältesten bekannten Artefakte freigegeben. Dabei zeigte sich: Die Eismassen sind nicht so starr wie bislang gedacht.
Ganz nah dran am Fund. Ein Gletscherarchäologe begutachtet den Holzschaft eines alten Pfeils.

Jahrtausendelang ruhten archäologische Artefakte gut gekühlt in den Eisfeldern Norwegens. Wegen des Klimawandels schmelzen die Schneeflecken jedoch rasant ab und geben uralte Stücke preis. Etwa der Langfonne, ein Eisfleck in der norwegischen Provinz Innlandet. Dort haben Archäologen unter anderem 68 Pfeile aus sechs Jahrtausenden aufgelesen – das sind vergleichsweise viele auf einmal. Einige Funde datieren die Forscher um Lars Pilø von der Bezirksbehörde Innlandet um 4200 v. Chr. Es sind damit die frühesten bekannten Funde aus einem skandinavischen Eisfeld. Darüber hinaus stellte das Team in der Gebirgsregion von Jotunheimen fest, dass die Schneefelder offenbar nicht so starr sind wie bislang angenommen.

Pilø und seine Kollegen, die ihre Ergebnisse im Fachblatt »The Holocene« veröffentlichten, haben neben den Holzpfeilen dutzende Knochen und Geweihteile von Rentieren entdeckt. Mehr als 100 Funde ließen sie mit Hilfe der C-14-Methode datieren. Das Ergebnis: Die Stücke waren unterschiedlich alt und unterschiedlich gut erhalten. Erwartungsgemäß in schlechtem Zustand waren die ältesten Holzschäfte aus der Zeit um 4000 v. Chr. Die Pfeile, die Menschen zwischen 2400 und 1700 v. Chr. verschossen hatten, haben die Jahrtausende hingegen gut überdauert. Die Funde aus den Jahrhunderten danach waren überraschenderweise wieder schlechter erhalten. Die meisten Pfeile stammten aus der Phase zwischen 540 und 1160, Funde von um 800 gab es besonders oft – also aus der frühen Wikingerzeit.

Georadarmessungen der Eisfläche ergaben, dass dieser Befund auf verschiedene Prozesse zurückgeht: Je nach den klimatischen Bedingungen legte das Eisfeld zu oder schmolz ab. Die schlecht erhaltenen Pfeile aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. stammen aus einer Phase, als die Gletscher in Jotunheimen abwechselnd rasch wuchsen und schrumpften. Offenbar waren die Hölzer immer wieder unter freiem Himmel gelegen – dadurch verrotteten sie schneller als die Holzobjekte, die dauerhaft von Schnee bedeckt waren und erst jüngst aus dem Eis kamen.

Der Langfonne | So sieht der Eisfleck heute aus. Die einst lang gestreckte Schneefläche ist in drei Teile abgeschmolzen.

Eisflecken wie der Langfonne bilden sich meist an einer sonnenabgewandten Hangseite. Anders als Gletscher schieben sich die Gebilde nicht stetig vorwärts, völlig statisch sind sie aber offenbar auch nicht. Wie die Forschungen von Piløs Team ergaben, liegt der Kern des Schneefelds – also das älteste Eis mit den frühesten Artefakten – zwar ganz unten nahe dem Felsuntergrund, während sich die jüngsten Objekte ganz oben im Eisfleck finden. Doch die Schichten haben sich im Verlauf der Zeit bewegt. »Unsere Studie zeigt, dass sich das Eis sehr langsam unter dem Gewicht der darüber liegenden Eis- und Schneemassen verformt«, sagt Lars Pilø. Dadurch drücke es auf die untersten Schichten, die deshalb zu den Seiten verschoben werden. Wegen dieses Prozesses und des starken Eisverlusts der vergangenen Jahrzehnte seien die ältesten Artefakte überhaupt ans Licht gekommen. Sie lagen nämlich am Randbereich des Eisflecks. Und ihr sehr schlechter Zustand dürfte davon herrühren, dass sie über die Jahrtausende von den Eismassen abgerieben und zerbrochen wurden. Im Fall der jüngeren Funde, die nicht im Kern, sondern am ehemaligen Rand des Eisfelds lagen, waren die Hölzer hingegen zerfallen, weil sie immer wieder der Witterung ausgesetzt waren.

Verglichen mit einem Gletscher können Objekte in einem Eisfleck übrigens sehr viel länger überdauern. Was in einen solchen Eisriesen gerät, ist meist nach ungefähr 500 Jahren zerquetscht.

Wie sich der Langfonne verändert hat

Das Wissenschaftlerteam untersucht den Eisfleck im Jotunheimen Gebirge seit Längerem. Das Feld, das sich auf einer Höhe zwischen 1740 und 2030 Meter über dem Meeresspiegel erstreckt, habe in den vergangenen 20 Jahren ungefähr 30 Prozent seiner ursprünglichen Größe eingebüßt. Während der Kleinen Eiszeit, die während der Neuzeit herrschte, war den Berechnungen zufolge eine Fläche von zirka 2,5 Quadratkilometer mit Eis bedeckt, Ende der 1990er Jahre noch 800 000 Quadratmeter und heute rund 242 000.

Fundlage | Wie eine Radiokarbondatierung ergab, ist dieser Pfeil samt Eisenspitze zirka 1300 Jahre alt.

Interessanterweise haben die Archäologen nun festgestellt, dass fast alle Geweihe und Knochen der Rentiere aus den Phasen stammen, in denen kaum Pfeile im Schnee landeten. Wie lässt sich das erklären? Sicher ist, wie Pilø und sein Team schreiben, dass es sich um abgeworfene Geweihe handelt. »Rentiere wurden sowohl wegen ihres Fleischs als auch für ihre Geweihe geschätzt«, steht in der Studie. Letztere hätten als Rohmaterial für die Handwerkskunst gedient. Heißt: Immer wenn Menschen auf dem Berg waren, räumten sie offenbar das wertvolle Hornmaterial ab.

Recht sicher kamen die Menschen auf den Langfonne, um den Rentieren nachzustellen – erstmals vor mehr als 6000 Jahren. »Die Jagd fand wahrscheinlich vor allem an heißen Tagen im Juli und August statt, wenn große Rentierherden regelmäßig auf Eis und Schnee zusammenkamen, um sich abzukühlen und den Dasselfliegen zu entkommen«, erklären die Archäologen. Diese parasitären Fliegen legen ihre Eier auf den Hirschtieren ab, und die Larven bohren sich in deren Fell.

Das Eis schmilzt und schmilzt

Warum aber kamen gerade am Langfonne so viele Funde aus dem Eis? War es ein besonders attraktiver Jagdgrund? Archäologe Pilø führt drei Gründe an: Für die Rentiere sei der Ort leicht zugänglich. Zudem hätten zumindest in den nachchristlichen Jahrhunderten die Siedlungen nicht weit vom Langfonne entfernt gelegen – zu Fuß nur zwei Stunden. Und zuletzt: »Langfonne ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten extrem stark abgeschmolzen, vielleicht mehr als andere Eisflecken in Norwegen«, sagt Pilø.

Rentiere auf dem Eis | Im Sommer weichen die Rentiere auf die Eisfelder in den Bergen aus – zur Abkühlung und um Parasiten zu entkommen.

Die Auswertung zeigte auch: Besonders in den Jahrhunderten vor, während und nach der Wikingerzeit machten die Menschen Jagd auf die Rentierherden. »Das fällt mit einer Zeit vor zirka 950 bis 750 Jahren zusammen, in der die Population der Rentiere dramatisch zurückging, wie eine genetische Studie ergab«, betonen die Forscher. Kurz bevor die eigentliche Wikingerzeit einsetzte, hatten die Menschen im damaligen Norwegen also begonnen, Ressourcen zu sammeln. In diesem Fall das Fleisch, Geweih und Fell von Rentieren.

Die Archäologen konnten allerdings noch nicht alle Rätsel des Langfonne lösen. Etwa folgendes: Die frühesten Pfeile datieren ausschließlich zwischen 4200 und 3700 v. Chr. Danach – für mehr als 1300 Jahre – scheint kein einziger Pfeil auf dem Eisfeld zurückgeblieben zu sein. Jedenfalls fehlen bislang Funde aus jener Phase. »Wir werden wohl noch sehen, woran das liegt«, sagt Lars Pilø, »wenn in den kommenden Jahren das Schmelzen weitergeht.«

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