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Madeleine de Scudéry: Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit

Im Frankreich des Sonnenkönigs hatte sich eine Frau von den Zwängen ihrer Zeit befreit. Madeleine de Scudéry, die heute vor 415 Jahren geboren wurde, lebte als Schriftstellerin von ihren Werken, unverheiratet und frei.
Porträtgemälde der französischen Barockschriftstellerin Madeleine de Scudéry (1607-1701).
Porträtgemälde der französischen Barockautorin Madeleine de Scudéry. Am 15. November 1607 kam die für ihre Zeit emanzipierte Schriftstellerin zur Welt.

Madeleine de Scudérys Eltern starben früh. Doch sie hatte Glück: Der Onkel, bei dem sie mit ihrem etwas älteren Bruder in Rouen aufwuchs, nahm es mit der Geschlechtertrennung nicht so genau. Er ließ beide Kinder gemeinsam erziehen. So kam es, dass Madeleine nicht Tanzen, Harfespielen, Lockendrehen und Lächeln lernte, sondern Griechisch, Latein, Italienisch, Mathematik. Sie las und las – Geschichten von Abenteurern und Helden, Texte von Philosophen. Heutzutage wäre sie das Kind mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Doch damals, in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts, waren lesende Mädchen die Ausnahme.

Am 15. November 1607, kam sie in Le Havre zur Welt und beschritt einen für ihre Zeit außergewöhnlichen Lebensweg. Sie wurde Schriftstellerin, die von ihrer Arbeit leben konnte – unverheiratet und frei. Und hätte der deutsche Autor E. T. A. Hoffmann (1776–1822) ihr nicht mit der Kriminalnovelle »Das Fräulein von Scuderi« ein Denkmal gesetzt, wäre ihr Name wohl kaum bekannt. Dabei verlief das Leben der echten Scudéry ereignisreicher als der Werdegang von Hoffmanns Figur.

Als Madeleine ins heiratsfähige Alter kam, war sie nicht heiratsfähig. Sie hatte keinen Vater, der sie verkuppelte, und keine nennenswerte Mitgift. Besonders hübsch war sie offenbar auch nicht, und ihre Ansprüche ans Leben hätten wohl den letzten Kandidaten vergrault: Sie wollte frei sein. Denn sie kannte die Zwänge, unter denen junge Frauen standen: Töchter – ob bürgerlich oder adlig – wurden verheiratet, um Vermögen zusammenzuhalten oder den gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern. Und alle, die auf dem Heiratsmarkt nicht unterkamen, etwa weil die Pocken sie entstellt hatten, traten ins Kloster ein. Das Leben war vorgezeichnet. Mädchen hatten keine Wahl.

Nicht so Madeleine de Scudéry. Sie wählte. Zusammen mit ihrem Bruder Georges zog sie 1630 nach Paris. Die Geschwister lebten zusammen, er verbrachte einige Jahre beim Militär und sie kümmerte sich um den Haushalt. Eigentlich wollten beide schreiben. Georges führte ein Mantel-und-Degen-Leben – und so lesen sich seine Dramen auch. Madeleine hingegen fand eine eigene, einzigartige literarische Form.

Die Salons – Hotspots der Literaten in Paris

Kaum in Paris angekommen, stürzte sie sich ins Salonleben. Im Salon der Marquise de Rambouillet (1588–1665) kamen vor allem adlige Frauen zusammen. Sie unterhielten sich über Kultur und Philosophie, sie spielten, scherzten, vernetzten sich. Auch Männer waren zugelassen, Dichter, Komponisten und alle, die sich benehmen konnten, die nicht lospolterten und Frauen das Leben erklärten. Madeleine de Scudéry hatte ihren Ort gefunden. Sie machte sich schnell einen Namen als schlaue und schlagfertige Salonière.

Bald war sie nicht mehr nur Gast, sondern Gastgeberin. Ab 1652 kamen die Preziösen, wie die Frauen genannt wurden, in ihr Palais im Pariser Stadtteil Marais. Les Samedis hießen die Treffen, bei denen Adlige und Bürgerliche, Höflinge und Widerständler sich zum geistreichen Spiel trafen. Viele berühmte Literaten waren regelmäßig anwesend: Marquise de Sévigné, Madame de La Fayette, La Rochefoucauld, Jean de La Fontaine, Nicolas Fouquet, Paul Scarron, Paul Pellisson. Scudéry war Gastgeberin und Chronistin dieser Geselligkeit.

Wenn sie die Situation der Frau verbessern wollte, schlug Madeleine de Scudéry nicht auf den Tisch. Ihre Botschaften überließ sie ihren Romanfiguren

»Ibrahim ou l'illustre Bassa« heißt ihr erster Roman. Er erschien unter dem Namen des Bruders, denn Schreiben ziemte sich nicht für eine Frau. Trotzdem kannten viele Insider die Urheberin, und wer informiert sein wollte, las ihre Schriften. Das lag weniger an den Abenteuergeschichten selbst. Tatsächlich ging es um etwas anderes.

Wie Scudéry Rätsel in ihre Romane einbettete

Das Originelle an den Romanen war die Mischung. Das gilt vor allem für Scudérys große Werke »Le Grand Cyrus« (Kyros der Große) und »Clélie«: Sie waren die Schlüssel zur Pariser Gesellschaft. Beide Romane erschienen in jeweils zehn Bänden. Eingebettet in Abenteuer der Antike fanden Zeitgenossen sich in Porträts wieder. Kaum kam ein neuer Band heraus, ging das Rätselraten los: Wer erkannte sich oder seine Nachbarn? Zu den Bänden kursierten bald Listen mit entschlüsselten Porträts. Aber nicht nur Personen tauchten auf, auch Gespräche über Politik, Gesellschaft, Kunst. Spiele aus den Salons wurden im Roman weitergeführt und wieder zurück in den Salon gespielt. Die Romane beschrieben das barocke Kunstwerk, Themen zogen sich durch mehrere Kunstformen: Architektur, Theater, Ballett, Märchen, Fabel, Spiel.

Scudéry und ihre Freunde pfiffen auf die Regeln der strengen »doctrine clas­sique«, der Französischen Klassik, die sonst den Geschmack der Zeit bestimmte. Die Romane hatten eine größere Auflage als Gebetsbücher, sie wurden übersetzt und europaweit gelesen. Weil die Buchhandlungen von der Nachfrage regelmäßig überrumpelt wurden, richteten Salons einen Ausleihservice ein. Wer mitreden wollte, musste den neuesten Band kennen. Madeleine de Scudéry beherrschte die Unterhaltung, sie schuf die Netflix-Serie ihrer Zeit. Und sie lebte davon.

Scudéry hatte es geschafft, sich in der Welt der Umbrüche und Intrigen rund um den Sonnenkönig einen Platz zu sichern, der einzigartig war: Sie lebte als Schriftstellerin von ihrem Werk, unverheiratet und frei. Und sie schrieb, was sie wollte. Wenn sie die Situation der Frau verbessern wollte, schlug Madeleine de Scudéry nicht auf den Tisch. Niemand hätte ihr zugehört. Ihre Botschaften überließ sie – in aller Bescheidenheit – ihren Romanfiguren.

Wie viele Zeitgenossen hatte sie in den Romanen ein Alter Ego. Sappho, die berühmteste Dichterin der Antike, legte sie Forderungen in den Mund, die noch heute modern klingen. Damals waren sie allerdings Dynamit. In einer Zeit, in der die weibliche Erziehung allein auf die Ehe ausgerichtet war, treten ihre Figuren für eine freie Gattenwahl ein. Als Ludwig XIV. (1638–1715) seinen Finanzminister Nicolas Fouquet absägt und ins Gefängnis steckt, hagelt es in den Romanunterhaltungen scharfe Kritik. Als er das Edikt von Nantes kippt und Hugenotten wieder blutig verfolgen lässt, fordern Scudérys Helden Religionsfreiheit. Jedes Reizthema findet sich in ihren Schriften: Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Ständen, Umgang mit Bildung, Politik, Absolutismus, Willkürherrschaft, Kulturkampf. All das kommt im Roman harmlos daher, in einem beiläufigen mündlichen Ton. Aus der Mündlichkeit der Salons wollte Sappho nicht weniger als die Mündigkeit und die Freiheit der Frau entwickeln.

Die Freiheit einer Frau, ihren Mann zu wählen

Freiheit war Scudérys größtes Thema. Vor allem die Freiheit zu wählen, wie und mit wem eine Frau ihr Leben verbringen möchte. Madeleine de Scudéry hat nie geheiratet. In den Romanen nennt sie so viele Gründe gegen die Ehe, dass das nicht verwundern kann. Mädchen leben erst unter der Fuchtel des Vaters, später unter der Fuchtel des Ehemanns. Zu entscheiden haben sie nicht viel. Eine Frau sei in der Ehe nichts anderes »als die erste Sklavin des Hauses«. Jeder Soldat lebe ein freieres Leben als sie, sagt eine Prinzessin in Scudérys Werk »Clélie«. Selbst im seltenen Fall der Liebesheirat bleiben die Heldinnen in Scudérys Büchern skeptisch: »Die Liebe überdauert vielleicht den Tod, nie aber die Ehe.«

Eine Frau sei in der Ehe nichts anderes »als die erste Sklavin des Hauses«

Auch mit der Schönheit sei es so eine Sache: Wenn der Mann sich in die Reize einer Frau verliebt, wird es spätestens dann schwierig, wenn nach der Geburt mehrerer Kinder und dem Verlust mehrerer Zähne von der Schönheit nicht mehr viel übrig bleibt. Dann ist das Eheglück zu Ende. Er vergnügt sich anderweitig, und sie hockt herum und kann nicht einmal lesen. Es sei ein Dilemma um dieses Konstrukt. Viel besser funktioniere der Umgang zwischen Mann und Frau in einer gleichberechtigten Freundschaft. Eine Beziehung, die damals als sehr unwahrscheinlich galt.

Gemeinsam, gleichberechtigt, freundschaftlich verbunden – das war in Scudérys Augen das Ideal der menschlichen Beziehung. Sie selbst lebte in enger Freundschaft mit Paul Pellisson, einem Dichter, der 16 Jahre jünger war als sie und mit dem sie über Jahrzehnte eng verbunden war. Als Pellisson während der Fouquet-Affäre 1661 verhaftet wurde, kämpfte sie beim König so lange für ihren Freund, bis Pellisson aus dem Gefängnis entlassen wurde. Freundschaft sei viel mehr als jede arrangierte Ehe, schon weil beide Seiten sich beständig umeinander bemühen müssten.

»Carte de Tendre« | Die Karte vom imaginären Land Tendre kommt in Scudérys Roman »Clélie« vor. Es handelt sich um eine allegorische Landkarte, die einen Weg für zwischenmenschliche Beziehungen vorzeichnet.

Der Freundschaft hat Scudéry in ihrem Roman »Clélie« ein Denkmal gesetzt. Darin enthalten ist die »Carte de Tendre«, eine allegorische Landkarte. Sie zeigt dem Freundespaar den Weg und lauernde Gefahren. Flüsse sind dort verzeichnet, Meere, Gebirge, »Terres Inconnues« – unbekannte Gebiete. Die Karte wurde in den Salons als Wegweiser der idealen Beziehung gefeiert. Besucher nutzten die Metaphern und hatten nicht nur einen Spielplan zur Hand, sondern auch das Vokabular, um über zwischenmenschliche Beziehungen zu sprechen, die anders funktionierten als üblich. Das Gefängnis der Ehe war ein vergleichsweise einfacher Ort. In der Freiheit der Freundschaft musste das Menschenpaar sich neu orientieren.

Frauen, die die Überlegenheit des Mannes in Frage stellten

Wer an den Gitterstäben der Gesellschaft rüttelt, macht sich Feinde. Und Madeleine de Scudéry und ihre Freunde hatten davon viele. Die Statthalter der Moral, der Gesellschaftsordnung und der poetischen Regeln fühlten sich bedroht durch Frauen, die das Selbstverständlichste in Frage stellten: die Überlegenheit des Mannes in der Ehe und die Überlegenheit der Akademie über den Salon. Gegner wie der Autor Nicolas Boileau (1636–1711) haben den Kanon damals hartnäckig und nachhaltig gegen die Salonliteratur verteidigt.

Es ist deshalb kein Wunder, dass vielen Menschen heute dazu bestenfalls »Die lächerlichen Preziösen« von Molière (1622–1673) einfallen, eine Komödie über zwei Frauen, die die Pariser Salonkultur nachäffen und damit alle vor den Kopf stoßen. Tatsächlich sind die jungen Frauen im Drama weniger lächerlich als ihre Väter und Verehrer. Vieles, was Molière im Stück anprangert, gehört zu den Themen, die Scudéry selbst in ihren Texten kritisiert. Es gibt übrigens ein Buch, das die Verbindung zwischen Molières Komödie und den preziösen Texten herstellt: Eine zweisprachige Ausgabe von »Les précieuses ridicules« stellt Scudéry und Molière einander gegenüber. Herausgeberin Renate Baader dürfte zu den wenigen gehören, die viele Meter Scudéry gelesen haben.

Als Madeleine de Scudéry 1701 mit 94 Jahren stirbt, ist sie die einzige Frau, die bis dahin von der Académie, der traditionsreichen Gelehrtengesellschaft in Paris, gewürdigt wurde. Nicht mit einem Sitz zwischen den Männern, aber zumindest mit einem Beredsamkeitspreis. Für Mündlichkeit, Mündigkeit und Freiheit.

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