Metrologie: Das neue Maß der Masse
Als sich Jon Pratt im April 2016 der Sicherheitsschleuse an einem Washingtoner Flughafen näherte, waren seine Nerven aufs Äußerste angespannt. In Pratts Kameratasche befanden sich vier massive Metallzylinder – also genau die Art von Objekt, die garantiert die Aufmerksamkeit der misstrauischen Kontrolleure auf sich ziehen würde. Ein Zylinder aus einer glänzenden Platin-Iridium-Legierung war halb so groß wie eine Dose Tunfisch und mindestens 40 000 Euro wert. Die anderen drei bestanden aus präzise bearbeitetem, nichtrostendem Stahl. Aber nicht das Material stellte das Besondere an den Körpern dar, sondern ihr Gewicht: Jeder der Zylinder wog exakt ein Kilogramm.
Zum Glück hatte der Ingenieur des U.S. National Institute of Standards (NIST), der für Maßeinheiten zuständigen Bundesbehörde der USA, ein Schreiben dabei, das seine Mission erläuterte: Bei den Zylindern handelte es sich um vier offizielle Kilogramm-Prototypen; um Referenzmassen also, auf denen sämtliche Gewichtsmessungen in den USA basieren. Pratt sollte sie einem Kollegen in einer Pariser Vorstadt bringen. Dabei durfte niemand die Zylinder berühren oder sie aus ihren schützenden Behältern entfernen - denn das würde das Gewicht der mit großem Aufwand hergestellten Massen geringfügig verändern. "Der Sicherheitsbeamte wollte mir schon das Leben schwer machen", erinnert sich Pratt, der die Abteilung für Quantenmessungen des NIST in Gaithersburg im US-Bundesstaat Maryland leitet. "Aber dann las er all die Dokumente – und er fand die Sache einfach nur cool." Nach wenigen Minuten hatte Pratt die Überprüfung hinter sich und konnte an Bord seines Fliegers gehen.
Pratt brachte die Zylinder zum "Bureau International des Poids et Mesures" (BIPM), dem Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Sèvres, einer an der Seine gelegenen Vorstadt von Paris. Dort verglichen Metrologen die amerikanischen Kilogramme mit Metallzylindern aus drei anderen Ländern sowie mit einer Ein-Kilogramm-Kugel aus hochreinem Silizium, hergestellt an der Physikalisch Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. Damit hatte die historische Neudefinition des Kilogramms, die derzeit in vollem Gang ist, eine weitere Hürde genommen. Seit 1889 – dem Jahr, in dem der Eiffelturm eröffnet wurde – ist das Kilogramm durch die Masse eines Platin-Iridium-Zylinders definiert. Dieses Urkilogramm ruht unter drei Glasglocken in einem Tresor der BIPM-Zentrale, im Pavillon de Breteuil, einem eleganten Gebäude aus dem 17. Jahrhundert. Das Gewicht des Zylinders nutzen die Kilogramm-Prototypen der nationalen Metrologieinstitute als Referenzwert. Nur wenn eine Masse exakt so schwer ist wie das Pariser Artefakt, wiegt sie ein Kilo.
Das Kilogramm ist die letzte Maßeinheit, die noch mit einem physischen Objekt verknüpft ist. Aber nicht mehr lange. Bereits Ende 2018 könnte das Pariser Urkilogramm entthront werden. Dann nämlich soll das Gewichtsnormal eine neue Definition erhalten. Sie basiert auf dem planckschen Wirkungsquantum, einer von Max Planck eingeführten Naturkonstanten, die in der Quantenphysik das stets gleich bleibende Verhältnis von Energie und Frequenz eines Lichtteilchens angibt.
Metrologen wünschen sich schon lange, dass der internationale Massestandard an eine grundlegende Konstante des Universums gekoppelt wird. Solch eine Definition wäre viel genauer und verlässlicher als ein verhätschelter Metallklumpen aus der viktorianischen Ära. Dieser bereitet den Metrologen schon länger große Sorgen. Denn es scheint so, als würde das Urkilogramm schleichend an Masse verlieren. Das zumindest legen Vergleichsmessungen mit sechs offiziellen Kopien nahe, den so genannten "temoins" (französisch: Zeugen), die ungefähr alle 30 Jahre stattfinden. Diese Referenz- oder Hauptnormale des BIPM lagern im gleichen Tresorraum wie das Urkilogramm – aber ihr Gewicht weicht immer mehr von ihrem berühmten Vorbild ab.
Einst gab es in Frankreich mehr als 700 unterschiedliche Maßeinheiten. Dann führten Wissenschaftler das metrische System ein
Mit der Neudefinition des Kilogramms endet eine lange Tradition. Das heutige Urkilogramm hatte einen Vorgänger aus der Zeit der Französischen Revolution. Zuvor unterschieden sich die Standards für Längen und Gewichte noch von Stadt zu Stadt – Historikern zufolge waren mehr als 700 unterschiedliche Maßeinheiten in Gebrauch. Ein "toise" war beispielsweise die Spannweite der Arme eines ausgewachsenen Mannes. Doch ein "toise" in Paris unterschied sich etwa von einem in Marseille. Daher suchten die damaligen französischen Wissenschaftler nach einer Möglichkeit, das Chaos zu beenden, "für alle Menschen, für alle Zeiten". Sie führten schließlich das metrische Einheitensystem ein. 1875 unterzeichneten 17 Staaten in Paris die Internationale Meterkonvention, die Urmeter und Urkilogramm zu allgemein gültigen Maßeinheiten machte. Sie sah auch die Gründung des BIPM und anderer Metrologiebehörden vor. Heute halten sich knapp 100 Nationen an den internationalen Vertrag, zusammen machen sie 98 Prozent der Weltwirtschaft aus.
Eine kritische Zeit für das Urkilogramm war der Zweite Weltkrieg. In der Nähe des Pavillon de Breteuil stand damals eine Panzerfabrik der deutschen Wehrmacht, die mehrfach das Ziel amerikanischer Bombenangriffe war. Zwar hatte man die "temoins" während des Kriegs in einen unterirdischen Tresor der Bank von Frankreich evakuiert. Doch die Meterkonvention bestimmte, dass das Urkilogramm unter allen Umständen im Hauptquartier der Maßeinheiten-Behörde verbleiben musste. Nachdem einer der Bombenangriffe den Pavillon de Breteuil erschüttert hatte, brachte man den wertvollen Zylinder immerhin in einem stoßsicheren Behälter unter.
Als die Experten das Urkilogramm 1946 nach dem Krieg aus dem Tresor holten, um es zu reinigen und mit den sechs Kopien zu vergleichen, war es 30 Mikrogramm leichter als die "temoins". Bei einer Messung im Jahr 1889 hatten die Massen noch übereingestimmt. Der Unterschied wurde mit der Zeit größer. Bei der nächsten Reinigungsprozedur Anfang der 1990er Jahre betrug die Differenz zwischen Original und einigen seiner Abbilder bereits gut 50 Mikrogramm, was immerhin dem Gewicht eines Fliegenflügels entspricht.
Die Reinigung des Urkilogramms und sein Vergleich mit den anderen Testmassen ist alles andere als Routine; seit 1889 hat die BIPM das Verfahren erst viermal durchgeführt. Zunächst müssen die Metrologen das Urkilogramm aus seinem Tresorraum holen, der mit drei übereinander angeordneten Schlössern gesichert ist. Im Inneren befindet sich ein großer Safe mit einem Kombinationsschloss, der schließlich das von drei Glasglocken bedeckte Urkilogramm und seine sechs Kopien enthält.
Drei Personen müssen anwesend sein, um den Tresorraum des Urkilogramms zu öffnen
Nur drei Menschen auf der ganzen Welt haben jeweils einen Schlüssel für den Tresorraum: der Direktor des BIPM, der Direktor des französischen Staatsarchivs in Paris und der Präsident des Internationalen Komitees für Maß und Gewicht CIPM, das die Arbeit des BIPM überwacht. Weil jeder der drei Schlüssel unterschiedlich ist, müssen diese drei Personen gleichzeitig anwesend sein, wenn der Tresorraum geöffnet werden soll.
Nach dem Betreten des Heiligtums greift ein Techniker mit einer gepolsterten Zange nach dem schimmernden Zylinder und trägt ihn zur Reinigungsstation. Dort wird die Mutter aller Massen mit einem in Alkohol und Ether getränkten Ledertuch abgerieben und anschließend mit doppelt destilliertem Wasser abgespült. Ein Stickstoff-Gebläse beseitigt schließlich alle verbliebenen Wassertropfen. Der gesamte Vorgang dauert etwa eine Stunde. Das BIPM hat an Testmassen mit anderen Reinigungsmethoden experimentiert – zum Beispiel mit ultravioletter Strahlung –, doch diese Verfahren machen den Zylinder zu sauber. "Sie scheinen mehr Schmutz zu beseitigen als unser bisheriges Verfahren", sagt BIPM-Direktor Michael Stock. "Das macht die Masse instabil, denn die Oberfläche ist so sauber, dass sie sehr reaktionsfreudig wird." Das wiederum würde das Urkilogramm als Standard noch unzuverlässiger machen, weshalb das BIPM bis heute bei der alten Leder-und-Wasser-Methode geblieben ist. Nach ihrem Bad werden das Urkilogramm und die "temoins" in einen Reinraum befördert und dort auf einem so genannten Massekomparator platziert, einem etwa 50 0000 Euro teuren Gerät, das Massedifferenzen bis hinab zu einem Mikrogramm messen kann. Der Massekomparator und zehn Arbeitsnormale sind gewissermaßen die Arbeitspferde der BIPM-Abteilung für die Massenbestimmung. Sie werden für die alltäglichen Kalibrationen von Gewichten genutzt, während das Urkilogramm und die "temoins" nur alle paar Jahrzehnte zur Verifikation der nationalen Kilogrammprototypen herangezogen werden.
Weshalb das Pariser Urkilogramm Masse verliert, ist ein großes Rätsel
Niemand weiß, warum das Gewicht des Urkilogramms in den knapp 130 Jahren, die seit seiner Einführung vergangen sind, immer mehr von dem der Vergleichsmassen abgewichen ist. Der historische Zylinder ist viel zu wertvoll, als dass man dieser Frage mit Experimenten auf den Grund gehen könnte. Experten halten es für unwahrscheinlich, dass alle Kopien an Masse zugenommen haben, während das Original unverändert geblieben ist. Die plausiblere Erklärung: "Vermutlich verliert der internationale Kilogrammprototyp an Masse", sagt Stock.
Auch deshalb entschied die Generalkonferenz für Maß und Gewicht – das beschlussfassende Organ der Meterkonvention – 2011, ein neues Massenormal einzuführen. Denn das Mysterium verursacht mittlerweile ganz reale Probleme. In den kommenden Jahrzehnten wird der technische Fortschritt Präzisionsmessungen von Massen auf molekularer Skala oder sogar darunter zur Routine machen. "Wir benötigen dann Methoden, um Mikrogrammmassen mindestens auf drei Nachkommastellen genau zu messen", sagt Jon Pratt, der die amerikanischen Referenzmassen nach Paris gebracht hat. "Aber mit einem historischen Artefakt als Kilogrammprototyp ist die Unsicherheit bei so kleinen Skalen beträchtlich."
Die ungefähr 50 Mikrogramm, um die sich die Referenzmassen in der Vergangenheit vom Urkilogramm entfernt haben, mögen auf den ersten Blick gering erscheinen. Im Reich der Nanotechnologie sind sie jedoch eine ganze Menge. Zumal sich die Unsicherheit in der Masse des Kilogramms durch eine lange Reihe von Einheiten fortpflanzt: Die metrische Einheit der Kraft, das Newton, ist in Abhängigkeit vom Kilogramm definiert, vom Newton wiederum hängt das Joule, die Einheit der Energie, ab, vom Joule das Watt, die Einheit der Leistung, und so geht es immer weiter.
So kann letztlich eine kleine Unsicherheit beim Kilogramm nahezu jede Messung in der Welt der Physik verschlechtern. "Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem Veränderungen des internationalen Kilogrammprototyps andere Naturkonstanten beeinflussen könnten", sagt Stock. "Und das ist irrsinnig."
Die Neudefinition der Masseneinheit ist Teil einer Generalüberholung des metrischen Systems. Das internationale Einheitensystem SI von 1960 basiert nicht nur auf dem Kilogramm, sondern auch auf dem Meter für Längen, dem Ampere für elektrische Stromstärken, der Sekunde für Zeitmessungen, der Candela für Lichtstärken, dem Mol für Stoffmengen und dem Kelvin für Temperaturen. Die Basis von einigen dieser Einheiten hat die BIPM bereits vor Jahrzehnten erneuert. So war ein Meter bis 1983 der Abstand zweier Striche, die in einen Platin-Iridium-Stab geätzt waren. Er befand sich im selben Tresorraum wie das Urkilogramm.
Heute ist der Meter die Strecke, die Licht im 299792458ten Bruchteil einer Sekunde zurücklegt. Die Sekunde wiederum, einst anhand der Tageslänge definiert, fassen Metrologen bereits seit den 1960er Jahren als die Zeit auf, in der Zäsiumatome am Temperaturnullpunkt 9192631770-mal zwischen zwei Energiezuständen hin und herspringen. Die Einheiten Mol, Kelvin und Ampere wollen Wissenschaftler ebenfalls 2018 neu definieren. Die gegenwärtige Festlegung des Ampere ist besonders skurril: Offiziell ist es über den Strom definiert, der zwischen zwei parallelen, unendlich langen Drähten eine bestimmte Lorentzkraft hervorrufen würde – eine abstrakte Festlegung, die sich nicht exakt im Labor replizieren lässt. Von 2018 an soll das Ampere dann aus der Ladung eines Elektrons abgeleitet werden, deren numerischen Wert Metrologen festschreiben wollen – möglich machen es Geräte auf Basis von Nanoelektronik, mit denen sich einzelne Ladungsträger zählen lassen. In Zukunft ist eine Festlegung auch für die numerischen Werte der Avogadro-Konstanten, der Boltzmann-Konstanten und der so genannten Lichtausbeute geplant. Zusammen mit der Lichtgeschwindigkeit, der Frequenz der Strahlung von Zäsiumatomen, aus der die Sekunde abgeleitet wird, und der Planck-Konstanten folgen aus den fixierten Konstanten letztlich alle jetzigen SI-Einheiten, vom Kilogramm bis zur Candela.
Im Prinzip könnten intelligente Wesen überall im All die neue Definition verstehen
Die neuen Definitionen werden aus Sicht von Metrologen ein wahrhaft universelles System von Maßeinheiten bilden, das nicht länger an irdische Konventionen gebunden ist. Im Prinzip könnten intelligente Wesen überall im Kosmos dann das irdische Einheitensystem verstehen. Denn die Naturkonstanten sollten überall den gleichen Wert haben. Indem man ihn festlegt und zur Basis des irdischen Einheitensystems macht, stellt man außerdem sicher, dass der Wert der Einheiten sich in Zukunft nicht ändern wird.
Beim Kilogramm ist das wegen des labilen Zustands des Pariser Urkilogramms besonders dringend. Künftig soll sich seine Definition aus dem numerischen Wert der Planck-Konstanten ergeben. Das Committee on Data for Science and Technology (CODATA) gab diesen 2014 als 6,626070040·10–34 (Kilogramm·Meter2)/Sekunde an. Der Wert ist jedoch mit einer Messungenauigkeit behaftet – ganz im Gegensatz zum Wert eines Kilogramms, der per Definition gleich der Masse des Urkilogramms in Paris ist. In Zukunft soll es genau andersherum sein: Die Planck-Konstante soll fixiert werden – und diese legt dann den Wert des Kilogramms fest. Möglich macht das die direkte Verknüpfung der beiden Einheiten, die sonst nur noch von Sekunde und Meter abhängen. Deren jeweiligen Wert haben Metrologen aber ja bereits in der Vergangenheit festgelegt. Das bedeutet: Wenn das BIPM auch den Wert der Planck-Konstanten festnagelt, ergibt sich aus ihm zusammen mit den genauen Werten von Sekunde und Meter die Kilogrammmasse.
Das plancksche Wirkungsquantum und das Kilogramm sind direkt miteinander verknüpft – das ermöglicht die Neudefinition
Statt weiter das Pariser Urkilogramm als Referenz zu nutzen, können Metrologen also künftig das Gewichtsnormal aus der Planck-Konstanten ableiten. Der Übergang zu diesem neuen Quantenstandard ist allerdings ein aufwändiger Prozess, nicht zuletzt, weil sich der Wert des Kilogramms dabei nicht ändern soll. Vielmehr soll der heutige Massewert des Pariser Artefakts konserviert werden. Dazu müssen die Metrologen zunächst die Planck-Konstante möglichst präzise aus der Masse des Urkilogramms ableiten – und diesen Wert dann fixieren, um ihn künftig als Referenz verwenden zu können.
Schon 2014 haben die Metrologen deshalb das Urkilogramm mit den Prototypen des BIPM und den Massenormalen nationaler Metrologiebehörden verglichen. Auf dieser Basis bestimmten mehrere Gruppen anschließend die Planck-Konstante. Letztlich nutzen Forscherteams in aller Welt zwei Methoden dafür. Die PTB in Braunschweig ist maßgeblich am so genannten Avogadro-Projekt beteiligt. Darin zählen Wissenschaftler die Atome in zwei exakt ein Kilogramm schweren, mit großem Aufwand hergestellten Siliziumkugeln. So lässt sich die Avogadro-Konstante genau bestimmen, die ein Maß für die Zahl der Teilchen in einer Stoffmenge ist. Aus ihr lässt sich dann ein extrem präziser Wert der Planck-Konstanten berechnen.
Bei dem anderen Verfahren spielt ein sehr komplexes Instrument die Hauptrolle, die Watt-Waage. Seit ihr britischer Erfinder, der Physiker Bryan Kibble, 2016 starb, nennen Metrologen sie zunehmend auch Kibble-Waage. Experimente mit Watt-Waagen sind so komplex, dass das Fachjournal "Nature" sie 2012 zu den fünf schwierigsten Unterfangen in der Physik zählte, auf Augenhöhe mit der Suche nach dem Higgs-Boson und dem Nachweis von Gravitationswellen.
Eine von zwei Watt-Waagen des NIST befindet sich in einem zweistöckigen Gebäude am Rande des bewaldeten Campus des Instituts in Gaithersburg. Wegen der ländlichen Umgebung erinnert das Haus auf den ersten Blick an eine Farm. Seit die Wissenschaftler 2014 ein neueres Modell der Waage in Betrieb genommen haben, ist das Gerät im Inneren quasi eingemottet. Es funktioniert allerdings weitgehend wie das aktuelle Exemplar und diente den NIST-Metrologen in der Vergangenheit dazu, das plancksche Wirkungsquantum zu messen.
Spannung und Strom aus der Watt-Waage werden in quantenmechanische Gleichungen eingesetzt
Im Inneren des Gebäudes verschwindet jede Erinnerung an Landleben. Alle Wände bis hinauf zur Decke im oberen Stockwerk sind mit Kupfer beschlagen. "Die ganze Hardware hier besteht aus Messing, nicht aus Eisen", sagt NIST-Metrologe Stephan Schlamminger. Die Legierung schirmt das Instrument vor externen Magnetfeldern ab. Doch die im Inneren des Gebäudes erzeugten Felder sind stark genug, um die Magnetstreifen auf Kreditkarten zu löschen.
Der eigentliche Waage-Mechanismus befindet sich im Obergeschoss des Gebäudes. Er besteht aus einem vertikal montierten Aluminiumrad mit einem Durchmesser von einem halben Meter. Auf jeder Seite hängt an einem Draht eine Waagschale. Während der Messung befindet sich in der einen Schale eine Masse von einem Kilogramm. Unter dieser Schale hängt an drei langen Stäben eine Drahtspule. Die andere Waagschale enthält ein Gegengewicht und einen Elektromotor.
Die Waage besitzt zwei unterschiedliche Betriebsarten. Mit ihnen lassen sich alle Messgrößen bestimmen, die plancksches Wirkungsquantum und Masse verknüpfen. Im so genannten Wägungsmodus wird die nach unten gerichtete Gravitationskraft auf die Testmasse exakt durch ein Magnetfeld ausgeglichen. Dieses wird durch Strom erzeugt, der wiederum durch die Spule unter der Waagschale fließt. Im Bewegungsmodus hingegen wird die Testmasse entfernt und die Spule durch den Motor auf der anderen Waagschale mit konstanter Geschwindigkeit angehoben. Dabei bewegt sich die Spule durch ein von dem supraleitenden Magneten erzeugtes Feld, das eine Spannung in die Spule induziert.
Der im Wägungsmodus gemessene Strom und die im Bewegungsmodus induzierte Spannung lassen sich dann in quantenmechanische Gleichungen einsetzen, die Strom, Spannung und elektrischen Widerstand in Beziehung zum planckschen Wirkungsquantum setzen. Zusammengefasst lässt sich auf diese Weise aus einer exakt ein Kilogramm schweren Masse die Planck-Konstante bestimmen. Anschließend kann man die Watt-Waage benutzen, um mit diesem akkuraten Wert etwas zu wiegen, ohne dabei auf irgendein physikalisches Artefakt als Referenzmasse zurückgreifen zu müssen.
Für die Messung müssen Schlamminger und seine Kollegen lokale Schwankungen des Luftdrucks und der Schwerkraft berücksichtigen. Auch die Präzession der Erdachse müssen die Forscher einbeziehen, ebenso die Gezeiten. Trotz der Komplexität der Watt-Waage hat Schlamminger oft das Gefühl, an einem Experiment einer längst vergangenen Epoche beteiligt zu sein. Bei den Messungen müssen Ventile in genau vorgeschriebener Reihenfolge geöffnet und geschlossen werden. "Es fühlt sich an, als ob man eine Dampfmaschine betreibt", sagt der Wissenschaftler.
Ob sich der Aufwand lohnt, wird sich im Herbst 2018 zeigen. Dann wollen die Delegierten der internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht über die Neudefinition abstimmen. Diese würde dann 2019 in Kraft treten. Das war zumindest der Plan in den letzten Jahren. Ob es wirklich zu einer Abstimmung kommt und ob die Delegierten die Neudefinition beschließen, ist noch nicht sicher. Vor ein paar Jahren klafften die unterschiedlichen Messungen der Planck-Konstanten noch recht weit auseinander. Zuletzt sah es so aus, als hätten die Metrologen diese Lücke geschlossen, Sicherheit darüber bestand bis Redaktionsschluss aber nicht.
Wichtig dürfte auch sein, was bei einer Art Probelauf herauskam, den die Metrologen 2016 machten: Die metrologischen Staatsinstitute von fünf Ländern bestimmten das Gewicht ihrer jeweiligen Kilogrammprototypen auf Basis eines testweise vereinbarten Werts der Planck-Konstanten. Vertreter der nationalen Institute brachten auf diese Weise gewogene Kilogrammnormale anschließend nach Paris – Jon Pratt musste hierfür die Zylinder des NIST 2016 über den Atlantik fliegen. Dort wurden die nationalen Normale miteinander sowie mit den Referenzmassen des BIPM verglichen. Das sollte sicherstellen, dass die nationalen Institute zu vergleichbaren Ergebnissen kommen können, wenn sie künftig das Kilogramm anhand der Planck-Konstanten bestimmen. Die Ergebnisse der Pilotstudie waren zur Zeit des Redaktionsschlusses Ende April 2017 allerdings noch nicht veröffentlicht worden.
Generell hat das BIPM strenge Voraussetzungen für die Neudefinition festgelegt: Drei unabhängige Messungen des planckschen Wirkungsquantums müssen auf 5·10–8 (50 Teile pro Milliarde) übereinstimmen und mindestens eine der Messungen muss auf 2·10–8 (20 Teile pro Milliarde) genau sein. Stichtag ist der 1. Juli 2017 – bis dahin müssen Ergebnisse von einer Fachzeitschrift angenommen worden sein, um berücksichtigt zu werden. Dann wird man auch abschätzen können, wie realistisch eine Neudefinition 2018 ist.
Und was geschieht mit dem Urkilogramm? Nach aktuellem Stand wird es in seinem Tresor verbleiben. Mit Blick auf die Komplexität von Watt-Waagen werden Kilogramm Artefakte wohl noch eine Weile als Referenzmassen erhalten bleiben. Statt ständig mühselige Messungen durchzuführen, werden Metrologielabore in aller Welt in den kommenden Jahrzehnten eine neue Generation von Referenzmassen für ihre tägliche Arbeit verwenden. Das BIPM entwickelt bereits diese neuen Prototypen. Die Metrologen werden sie aber mit Watt-Waagen und Siliziumkugeln kalibrieren und nicht mehr mit dem Urkilogramm.
Ist das also das Ende der Geschichte? Haben wir nun ein Kilogramm für alle Ewigkeit? Stock ist sich da nicht sicher. "Einer meiner Vorgänger, der Nobelpreisträger Charles Edouard Guillaume, dachte, dass die gegenwärtige Kilogrammdefinition 10 000 Jahre gelten würde", sagt er. "Das war natürlich viel zu optimistisch. Ich bin mir nicht sicher, ob dies die letzte Neudefinition ist, aber sie sollte schon gut genug für einige Zeit sein. Wenn auch vielleicht nicht für 10 000 Jahre."
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