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Arktis: Wo das Meer sich völlig wandelt

Der Arktische Ozean wird in seiner Zusammensetzung und seinen Eigenschaften dem Atlantik immer ähnlicher. Dieser Wandel droht, ein auf eisigen Gewässern gründendes Nahrungsnetz vollkommen auf den Kopf zu stellen.
Schwärme von Krabbentauchern

An einem kalten Morgen gegen Ende Juli steuert das Forschungsschiff Oceania, ein blau-weißer Dreimaster, durch die dunklen Gewässer eines Fjords an der Westküste der arktischen Insel Spitzbergen. Schroffe, von Schneestreifen bedeckte Gipfel ragen steil aus dem Wasser empor. Weite Ströme aus Gletschereis zerpflügen die Berge und münden in den Fjord, wo sie abrupt zu turmhohen, türkisfarbenen Wänden abfallen. Eisbrocken, die wie Luftpolsterfolie knistern und knallen, driften vorbei, während sie beim Schmelzen die bereits vor geraumer Zeit in ihrem Inneren festgehaltene Luft wieder freigeben.

Als das Schiff vor Anker geht, strömen in Wollpullover, Strickmützen, Gummistiefel und dick gefütterte Seemannsjacken gekleidete Wissenschaftler an Deck und beginnen mit ihrer Arbeit. Einer der Forscher lässt ein silberfarbenes, kastenartiges Gerät zu Wasser, um Temperatur, Salzgehalt und Wassertiefe aufzuzeichnen. Ein anderer breitet seitlich des Schiffes mit Hilfe einer Winde ein trichterförmiges Netz am Meeresgrund aus. Beim Heraufziehen sammelt sich in dem feinmaschigen Gewebe eine wahre Menagerie kleinster Meeresbewohner, unter ihnen Krill, Copepoden oder Ruderfußkrebse, andere kleine Krebstiere und einige traubengroße Quallen.

Forschungsschiff Oceania | Die knapp 50 Meter lange Oceania lief 1986 vom Stapel – seit rund drei Jahrzehnten fungiert sie als wichtige mobile Forschungsstation in der Arktis.

Obwohl die winzigen, durchsichtigen Ruderfußkrebse mit ihren dünnen, roten Antennen zu den unansehnlichsten Objekten jenes Schatzes gehören, den die Forscher aus dem Meer geborgen haben, stehen sie dennoch im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. "Wir möchten herausfinden, wer sie sind, wo sie sich aufhalten und wie viele es von ihnen gibt", erklärt der Meeresökologe Sławomir Kwaśniewski, der am Institut für Ozeanografie der Polnischen Akademie der Wissenschaften (IO PAN) im polnischen Sopot tätig ist. Die mikroskopisch kleinen Krebstiere stellen das entscheidende mittlere Bindeglied in dem verdichteten Nahrungsnetz der Arktis dar: Sie sind die wichtigste Futterquelle für Polardorsche, Seevögel und Grönlandwale, und ihr Gehalt an Energie und Nährstoffen trägt letztlich auch zur Ernährung von Robben, Rentieren und Eisbären bei. Durch die genauere Untersuchung der Copepoden und des von ihnen aufrechterhaltenen arktischen Ökosystems – vom Meeresboden bis zu den von Vögeln dicht besiedelten Felsenklippen – erhoffen sich die Wissenschaftler ein besseres Verständnis der Art und Weise, in der der Klimawandel gegenwärtig das arktische Nahrungsnetz neu strukturiert und den gesamten biologischen Charakter dieses Lebensraums verändert.

Die Arktis atlantifiziert

Das Interesse der Wissenschaftler an den kleinen Ruderfußkrebsen beruht im Wesentlichen auf einem Phänomen, das erst seit relativ kurzer Zeit zu beobachten ist – der so genannten Atlantifizierung der Arktis. Nach vielen Jahren der Probennahme haben Forscher festgestellt, dass das Nordpolarmeer im Begriff ist, seine typisch arktischen Merkmale zu verlieren und zunehmend wie der Atlantik zu werden; sein Eis schmilzt, und seine Wassertemperaturen steigen. Als Folge dringen Tiere aus wärmeren Gefilden in die arktischen Gewässer vor und bewirken dort massive Veränderungen der natürlichen Biodiversität. Eine einzelne Copepodenspezies liefert gerade erste Hinweise auf das Ausmaß dieser Störung und ihre möglichen Konsequenzen.

Der Ruderfußkrebs Celanus glacialis | Der Ruderfußkrebs Celanus glacialis speichert Fett in einem Lipidsäckchen, das bis zu 40 Prozent seines Eigengewichts ausmachen kann. Ebendieser hohe Fettanteil macht den kleinen Krebs zur bevorzugten Beute von Seevögeln wie dem Krabbentaucher.

Seit mehr als einem Jahrhundert wissen Meeresforscher, dass Wassermassen aus dem Atlantischen Ozean an Europa vorbeiströmen, sich zwischen Grönland und der norwegischen Insel Spitzbergen hindurchzwängen und schließlich in einem Ausläufer des Golfstroms, dem Westspitzbergenstrom, in das Nordpolarmeer münden. Das Atlantikwasser ist wärmer und salziger als das Wasser des Arktischen Ozeans, das auf Grund des schmelzenden Meereises, kalbender Gletscher und des Süßwasserzuflusses aus den mächtigen Strömen Sibiriens und Kanadas sowohl kühlere Temperaturen als auch einen geringeren Salzgehalt aufweist. In anderen Weltmeeren ist kaltes Wasser im Allgemeinen schwerer und verbleibt daher in der Nähe des Meeresbodens. Im Arktischen Ozean bewirken jedoch der niedrigere Salzgehalt und die geringere Dichte des kühleren Wassers eine Umkehr der Verhältnisse, so dass hier das wärmere Atlantikwasser am Meeresgrund entlangfließt.

Durch Messungen von Temperatur und Salzgehalt in unterschiedlichen Tiefen können Wissenschaftler den Verlauf dieser Wassermassen exakt lokalisieren. Lässt ein Forscher in den Gewässern über dem Kontinentalschelf nahe der Westküste Spitzbergens, der größten Insel des gleichnamigen norwegischen Archipels, eine Messsonde hinab, durchquert das Gerät auf seinem Weg in die Tiefe zunächst kaltes Wasser mit vergleichsweise geringem Salzgehalt. Irgendwann trifft es auf die Halokline, eine Schicht kalten, aber zunehmend salzigen Wassers, und erreicht schließlich eine dritte Wasserschicht, das wärmere, stärker salzhaltige Atlantikwasser. Die Halokline verhindert eine Durchmischung der Warm- und Kaltwassermassen und sorgt dafür, dass die unterschiedlichen Schichten intakt bleiben.

Was fressen kleine Krabbentaucher? | Ein Wissenschaftler holt Zooplankton aus dem Kehlsack eines Krabbentauchers – so wird klarer, was die Vögel selbst verspeisen und an ihren Nachwuchs verfüttern.

Die sich erwärmende Erde und das schmelzende Meereis bringen jedoch diese drei Wasserschichten gerade ziemlich durcheinander. Der Westspitzbergenstrom transportiert inzwischen ein größeres Volumen deutlich wärmeren Atlantikwassers in den Arktischen Ozean, steigende Lufttemperaturen heizen die obere Wasserschicht auf, und wegen der fehlenden Meereisdecke bringen peitschende Winde das Oberflächenwasser zum Schäumen. All diese Prozesse bewirken eine Abschwächung der Halokline und ermöglichen eine Durchmischung der einst getrennten Wasserschichten. In einigen Regionen der Arktis haben Wissenschaftler warme Wassermassen inzwischen sogar schon in der Nähe der Meeresoberfläche nachgewiesen; der Atlantik tritt also an Stellen zu Tage, an denen er nie zuvor beobachtet wurde.

Atlantische Wassermassen in geringen Tiefen

In der Vergangenheit waren die an der Westküste Spitzbergens gelegenen Fjorde vom Zufluss atlantischen Wassers verschont worden. Die starke Halokline der Fjordgewässer verhinderte den Zustrom warmer, salzhaltiger Wassermassen, und die Meeresarme selbst waren hinreichend flach, so dass ihre Eingänge im Bereich der Kaltwasserzone weit oberhalb der Reichweite des Atlantikwassers lagen. Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben sich jedoch die atlantischen Wassermassen zunehmend ihren Weg in geringere Wassertiefen gebahnt und sind bereits in zahlreiche Fjorde vorgedrungen. Diese Meeresarme werden dadurch nicht nur wärmer und salziger, sondern bieten auch den mit den Strömungen hereintreibenden Kleinlebewesen günstigere Lebensbedingungen.

Die Wand des Bråsvell-Gletschers | Der Bråsvell-Gletscher ist Teil des Austfonna- oder Ostfenner-Gletscherfelds, das sich über 8492 Quadratkilometer ausdehnt – und damit als flächenmäßig größtes in Europa gilt. Im milden Sonnenschein des Sommers stürzen Myriaden von Tauwasserfällen von seinem Plateaurand ins Meer.

"Früher bildete sich auf den arktischen Gewässern immer eine schöne Eisdecke, und tief darunter floss das Atlantikwasser, doch niemand interessierte sich dafür, weil es sich in einer so großen Tiefe befand", berichtet Jan Marcin Węsławski, Leiter der Abteilung Ökologie am IO PAN. Doch seit er mit der Erforschung dieser Arktisregion begann, hat sich vieles verändert. "Das Eis ist verschwunden, und wir finden das einst verborgene warme Wasser bis an die Küsten Spitzbergens", beschreibt der Wissenschaftler die heutige Situation.

"Früher bildete sich auf den arktischen Gewässern immer eine schöne Eisdecke, und tief darunter floss das Atlantikwasser, doch niemand interessierte sich dafür, weil es sich in einer so großen Tiefe befand"Jan Marcin Węsławski

In dem lang gestreckten Fjord nahe Longyearbyen, der größten Stadt auf Spitzbergen, hat der Warmwassereinstrom zu tief greifenden Veränderungen geführt. "Früher war das Eis auf dem Fjord im Winter mehr als 90 Zentimeter dick", bemerkt Kim Holmén, der internationale Direktor des norwegischen Polarinstituts. "Jetzt friert das gesamte verflixte Ding schon seit sieben Jahren nicht mehr zu." Im Januar 2017, als die Lufttemperaturen auf minus 21 Grad Celsius fielen, fühlte sich das Wetter in Longyearbyen vielleicht recht frostig an, doch bei Wassertemperaturen zwischen 2,8 und 3,8 Grad Celsius war der Fjord auch in jenem Winter nicht von einer Eisschicht bedeckt. Das fehlende Meereis hindert die rund 2000 Bewohner des Ortes zwar daran, mit ihren Schneemobilen zu Freizeitcamps und Blockhütten auf der anderen Fjordseite zu fahren, wie sie es seit vielen Jahrzehnten gewohnt waren. Andererseits können die Menschen jetzt in diesen Gewässern Atlantischen Kabeljau (Gadus morhua) fangen.

Besonders gründlich ist ein weiterer Fjord untersucht worden, dessen Wasser sich ebenfalls erwärmt: der etwa 100 Kilometer nördlich von Longyearbyen gelegene Kongsfjord, an dessen Ufer sich das Forscherdorf Ny-Ålesund befindet. Im Winter 2005/2006 hatten Wissenschaftler dort erstmalig einen Einstrom atlantischen Wassers beobachtet. Seitdem ist auf dem Meeresarm, der einst jeden Winter von Eis bedeckt war, nur noch wenig Festeis gesichtet worden. Doch nicht alle Fjorde an der Westküste Spitzbergens haben sich derartig verändert. Der rund 139 Kilometer südlich von Longyearbyen gelegene Hornsund konnte sich seine typisch arktischen Eigenschaften bewahren und bot somit Węsławski und seinen Kollegen eine perfekte Gelegenheit für vergleichende Gewässeranalysen. Die Forscher begannen, die Änderungen der natürlichen Bedingungen in den übrigen Fjorden Spitzbergens zu dokumentieren, um sie nachfolgend mit dem Hornsund vergleichen zu können. "Es handelt sich um ein natürliches Experiment – als würde man zwei Aquarien untersuchen", verdeutlicht der Wissenschaftler.

Im Rahmen dieses Experiments verbrachten 14 Wissenschaftler im Sommer 2017 einen dreiwöchigen Forschungsaufenthalt auf der Oceania an der Westküste Spitzbergens. Das Schiff kreuzte im Zickzack das Westspitzbergenschelf entlang und lief in diverse Fjorde ein, darunter auch Kongsfjord und Hornsund. Alle paar Stunden machten die Forscher Station, um Proben von Wasser, Schlamm und Meeresorganismen zu nehmen und den allgemeinen Gesundheitszustand des Arktischen Ozeans in diesem Gebiet zu bewerten.

"Früher war das Eis auf dem Fjord im Winter mehr als 90 Zentimeter dick; jetzt friert das gesamte verflixte Ding schon seit sieben Jahren nicht mehr zu"Kim Holmén

Zurück an Bord der Oceania, im Schiffslabor in der Nähe des Achterdecks, gießt Kwaśniewski einen Teil der mit dem Zooplanktonnetz gefangenen Probe in ein Becherglas und stellt dieses auf eine Kiste unter eine Lichtquelle, um die winzigen Lebewesen genauer in Augenschein zu nehmen. Geschäftig bewegen sich die Ruderfußkrebse, die in etwa so groß wie Rote Gartenameisen sind, im Wasser hin und her. Es scheint sich hauptsächlich um Calanus glacialis zu handeln, ein in kalten, arktischen Gewässern verbreiteter Copepode, doch erst nach einer genauen mikroskopischen Untersuchung in seinem Labor in Polen kann sich Kwaśniewski dessen wirklich sicher sein.

Katarzyna Wojczulanis-Jakubas mit Untersuchungsobjekt | Die Ornithologin Katarzyna Wojczulanis-Jakubas hält einen eine Woche alten Krabbentaucher-Jungvogel. Ihre Nester legen Elternvögel üblicherweise in Felsspalten an: Ein sorgfältig aufgeschichteter kleiner Ringwall aus Steinchen sorgt dabei dafür, dass die Eier auch im dauernd durchweichten Untergrund nicht verloren gehen.

C. glacialis, der zuweilen auch als "der arktische Copepode" bezeichnet wird, bildet einen zentralen Bestandteil des arktischen Nahrungsnetzes und stellt nach Ansicht vieler Wissenschaftler die wichtigste Art des gesamten Ökosystems dar. Doch seit Kurzem steht der Copepode auch im Mittelpunkt einiger neuer, äußerst beunruhigender Entwicklungen.

Verglichen mit den Lebensräumen niederer Breiten zeichnen sich arktische Habitate durch eine geringere biologische Vielfalt aus, da unter den dort herrschenden Bedingungen, die für die meisten Arten gemäßigter Klimazonen zu kalt oder zu dunkel sind, weitaus weniger Lebewesen gedeihen können. Während der Nordatlantik mit etwa 20 000 Spezies aufwarten kann, leben in den Gewässern des Arktischen Ozeans um die Inselgruppe Spitzbergen lediglich 2500; manche dieser Arten sind in keinem anderen Weltmeer zu finden.

Biodiversität nimmt zu

In vielen Gebieten der Erde gehen die ökologischen Auswirkungen des Klimawandels häufig mit einem Verlust an Biodiversität einher. Doch in dem fragilen arktischen Ökosystem kehrt sich dieser Effekt um: Statt Arten zu verlieren, gewinnt die Arktis neue dazu, und diese Einwanderer überleben dort nicht nur, sondern sie vermehren sich rasant. "Die Einheimischen sind nach wie vor da, doch sie werden recht bald von den Neuankömmlingen in den Schatten gestellt", stellt Węsławski fest. Mit dem weiteren Vordringen des Atlantikwassers in die Fjorde Westspitzbergens gelangen daher Arten in dieses Meeresgebiet, die normalerweise eher in subarktischen und borealen Regionen zu finden sind, darunter auch der Copepode Calanus finmarchicus. Selbst wenn beide Arten von Ruderfußkrebsen dem ungeübten Auge nahezu identisch erscheinen, ist jedoch C. finmarchicus, der häufig "der boreale Copepode" genannt wird, von geringerer Größe und enthält etwa zehnmal weniger Energie als sein fettreicher, arktischer Cousin C. glacialis.

Paradies der Polarkreisbewohner: Die ornithokoprophile Tundra | Typische schwammpolsterartige Vegetation findet sich oft im Umkreis von Alkenvogel-Brutplätzen. Der Fachmann spricht von "ornithokoprophiler Tundra": Der Boden wird durch andauernden Nachschub von Vogelexkrementen nachhaltig mit Nährstoffen versorgt. So entstehen Farbflecken in der meist dunklen Polarlandschaft, die zudem Nahrung für Nonnengänse und die einheimischen Spitzbergen-Rentiere bereitstellen.

Auf Grund der in den vergangenen Jahren gewonnenen Daten kamen Forscher zu dem Schluss, dass die beschriebenen Veränderungen am Kongsfjord bereits in vollem Gang sind. Das Wasser in diesem Meeresarm ist mittlerweile durchschnittlich ein Grad Celsius wärmer als im Hornsund, und als Folge tummeln sich dort Zooplanktonarten, die im Hornsund nur selten anzutreffen sind. Bezeichnenderweise war in den letzten zehn Jahren der aus borealen Breiten stammende C. finmarchicus fast immer sehr viel stärker vertreten als sein arktischer Verwandter C. glacialis. Trotz gelegentlich schwankenden Abundanzen machte C. finmarchicus im Jahr 2014 mengenmäßig mehr als 96 Prozent aller in Wasserproben des Kongsfjords vorhandenen Arten aus.

Spitzbergens Rentier | Das auf Spitzbergen endemische Rentier (Rangifer tarandus platyrhynchus) ist eher klein gewachsen. Im Sommer ernährt es sich von der um die Brutplätze sprießenden Vegetation und baut Fettreserven für den harten Winter auf.

Diese Verschiebungen der Artenzusammensetzung mögen zunächst fast unmerklich vonstattengehen und relativ unbedeutend erscheinen, bis sie irgendwann nicht mehr zu übersehen sind. Die Miesmuschel (Mytilus edulis), die vor etwa 1000 Jahren während einer Phase der Klimaabkühlung von den Küsten der Inselgruppe Spitzbergen verschwand, hat sich in den vergangenen zehn Jahren wieder im Kongsfjord angesiedelt, da ihre Larven von warmen Strömungen aus dem Nordatlantik in dieses Gebiet transportiert wurden. Auch die Makrele (Scomber scombrus) ist in großer Zahl in den Fjordgewässern aufgetaucht, was wiederum dazu beigetragen hat, dass sich dort eine Population von Basstölpeln (Morus bassanus) etablieren konnte. Doch weitaus beunruhigender ist die Veränderung im Artenspektrum der Copepoden zu Gunsten der kleineren, aus südlichen Gewässern stammenden Spezies. Jener Wandel könnte sich nämlich zu einem ernsthaften Problem für die in der Arktis lebenden Prädatoren entwickeln, unter ihnen auch der Krabbentaucher (Alle alle), ein Vogel, der zu Millionen auf der Insel Spitzbergen nistet und auf die energiereichen arktischen Copepoden als Nahrungsquelle angewiesen ist.

Typische Arten der Arktis werden verdrängt

"Je stärker das arktische System durch den atlantischen Einfluss gestört wird, umso schwieriger wird das Leben für typische Arten der Arktis, wie etwa die Krabbentaucher", konstatiert Kwaśniewski. "Diese Tiere kommen ganz bewusst hierher. Sie brüten in diesem Gebiet, denn sie wissen, dass die Gewässer ein reichhaltiges Angebot an erstklassiger Nahrung für sie bereithalten. Und diese Nahrung hängt unmittelbar mit der arktischen Meeresumwelt zusammen."

Sławomir Kwaśniewski | Als Student kam Sławomir Kwaśniewski 1980 erstmals nach Spitzbergen – und beschäftigt sich nun seit Jahrzehnten mit den warmen West-Spitzbergen-Meeresströmungen, die ins arktische Polarmeer und seit Kurzem auch in die Fjorde fließen.

Nach beendeter Probennahme verstauen die Wissenschaftler ihre Netze und ziehen sich in das Schiffslabor zurück. Die Maschine der Oceania erwacht geräuschvoll zum Leben, und das Schiff bewegt sich von der Gletscherzunge weg in Richtung Fjordmündung, um die nächste Probennahmestation anzusteuern. Polnische Popmusik dringt durch die geöffnete Tür des Bordlabors, wo ein halbes Dutzend Studenten mit dem Filtrieren von Wasserproben, dem Sortieren der Zooplanktonfänge und den Vorbereitungen für die nächsten Messungen beschäftigt ist. Die Dünung wird stärker, während wir an unzähligen, nahezu bewegungslosen Krabbentauchern mit ihren charakteristischen, ambossförmigen Köpfen und prall gefüllten Wangen vorbeifahren. Einer der Vögel taucht unmittelbar neben dem Schiff aus dem Wasser auf und flattert hektisch mit den Flügeln, um sich in die Luft zu schwingen. Doch stattdessen hüpft er wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche, niedergedrückt von dem Gewicht seiner soeben verspeisten Mahlzeit.

Die polnische Polarstation liegt auf einer Küstenterrasse am Hornsund direkt über der Fjordmündung. Das Gebäude wurde Mitte der 1950er Jahre errichtet und ist seitdem bewohnt, verlassen, wieder in Betrieb genommen, umgebaut, erweitert und schließlich zu einer modernen Forschungsstation umgestaltet worden, die mittlerweile das ganze Jahr über Wissenschaftler beherbergt. Fotografien vergangener Tage, auf denen überwinternde Forscher in ihrer feinsten Festtagskleidung und neugierige, durch das Küchenfenster hereinspähende Eisbären zu sehen sind, schmücken die kiefergetäfelten Wände. An der steilen Böschung hinter der Station befindet sich eine der größten Krabbentaucherkolonien des Archipels. Zahllose der kleinen, schwarz-weißen Vögel nisten dort in den Felsklippen. Jeden Frühling lassen sich über eine Million Brutpaare auf der Inselgruppe Spitzbergen nieder; etwa 400 000 dieser Vogelpaare bauen ihre Nester am Hornsund.

Tägliche Kontrolle der Brutkolonie

Katarzyna Wojczulanis-Jakubas, eine Ornithologin von der polnischen Universität Danzig, sucht sich einen Weg über die Tundra zu der am Hang gelegenen Vogelkolonie. Vorsichtig geht die mit Knieschonern und einem Fernglastragegurt ausgerüstete Forscherin, die ihre langen, dunklen Haare zu einem im Nacken geschlungenen Knoten trägt, an Rentierexkrementen und Fellbüscheln vorbei. Bei ihrem weiteren Aufstieg achtet sie sorgfältig darauf, nicht auf lockeres Gestein zu treten, um keins der in Bodennähe gelegenen Nester zu zerstören. Weiter oben streifen Wolken die Gipfel der Berge.

Eiswand in Spitzbergen | Die Eiswand des in den Hornsund kalbenden Gezeitengletschers erreicht oft eine Höhe von über 30 Metern – ein Jagdparadies für Seevögel.

Während der Sommermonate kontrollieren Wojczulanis-Jakubas und ihre Kollegen die Brutkolonie täglich. An manchen Tagen fangen sie einige Vögel, um an ihnen verschiedene Körpermessungen durchzuführen und Proben von kürzlich gefangener Beute zu nehmen. Heute allerdings gilt das Hauptaugenmerk der Wissenschaftler den Kamerafallen, die sie in der Kolonie aufgestellt hatten, um das Kommen und Gehen der Vogeleltern zwischen Nestern und Nahrungsgründen zu überwachen, und die sie jetzt neu einstellen wollen. Je näher wir der Krabbentaucherkolonie kommen, umso lauter dringt das schrille Geschnatter der Tiere zu uns herüber. Auch der Geruch ihres Guanos wird intensiver – rauchig und säuerlich, wie brennender Torf. An einem Haufen übereinandergetürmter Felsbrocken, der von einem kurzen, mit orangefarbenem Klebeband umwickelten Stock markiert wird, macht Wojczulanis-Jakubas Halt. Die Ornithologin krempelt ihre Ärmel hoch, greift in eine Öffnung und zieht ein von schwarzen Daunen bedecktes, eine Woche altes Küken hervor. Seine Eltern seien vermutlich gerade draußen auf dem Meer, um Nahrung zu fangen, erklärt die Wissenschaftlerin.

Lummen-Brutkolonie | Brütende Brünnich-Lummen – die größte noch lebende Art der Alkenvögel. Hier bevölkern sie die schmalen Felsstufen der Doleritklippen von Kapp Fanshawe im Alkefjella. Brünnich Lummen sind eher schwerfällige Flieger: Wahrscheinlich müssen sie im Flug mehr Energie pro Körpergewicht aufwenden als alle anderen Vögel, die sich überhaupt in die Lüfte erheben können. Die Nestflüchter der Lummen können übrigens zunächst einmal gar nicht abheben: Sie stürzen sich beim ersten Verlassen des Nests von den Klippen steingleich in die See. Erst über den Winter wächst ihnen dann jenes Gefieder, mit dem sie später in den Lüften zumindest dilettieren können.

Die Krabbentaucher zieht es wegen des fetthaltigen, arktischen Copepoden C. glacialis an den Hornsund. Jener Ruderfußkrebs versorgt die Vögel mit der nötigen Energie, um während des Sommers ihren Nachwuchs aufzuziehen und anschließend die etwa 1930 Kilometer lange Reise in ihr Winterquartier vor der Südküste Grönlands zurückzulegen. Von den verschiedenen Copepodenarten fressen Krabbentaucher am liebsten den großen, energiereichen C. glacialis. In einer kleinen Tasche ihres Schlundes, dem so genannten Kehlsack, können ausgewachsene Vögel Hunderte dieser Krebstiere speichern und zu ihren Jungen transportieren.

Krabbentaucher futtern selektiv

Seit mehr als zwölf Jahren verbringen Katarzyna Wojczulanis-Jakubas und ihr Ehemann Dariusz Jakubas fast jeden Sommer auf Spitzbergen mit der Untersuchung dieser kleinen, gedrungenen Seevögel. Vor etwa zehn Jahren waren die beiden Biologen Mitglieder eines Forscherteams, das sich mit den Ernährungsgewohnheiten der Krabbentaucher befasste. Die Wissenschaftler fingen von der Nahrungssuche zurückkehrende Vögel ein und entnahmen mit Hilfe eines kleinen Löffels Futterproben aus ihren Kehlsäcken. Es stellte sich heraus, dass die Meeresvögel selektiv C. glacialis zu ihren Nestern transportierten. Der Copepode machte 80 Prozent der von den Krabbentauchern gefangenen Beute aus, obwohl sein Anteil am Zooplankton der Nahrungsgründe nur etwa 10 bis 15 Prozent betrug. Zwar können die Vögel beide Calanus-Arten fressen, "doch sie wissen, dass C. glacialis der Beste ist", betont Jakubas, der ebenfalls an der Universität Danzig tätig ist.

Schwärme von Krabbentauchern | Krabbentaucher (Alle alle) sammeln sich zu großen Schwärmen, bevor sie auf Nahrungssuche auf die offene See ziehen. Bei der Rückkehr zu den Nistplätzen wiederholt sich das Schauspiel.

So, wie Fische und Zooplankton anfällig für Änderungen in Salzgehalt und Wassertemperatur sind, könnten sich auch Krabbentaucher in dieser Hinsicht als empfindlich erweisen. Viele Wissenschaftler, die diese Seevögel näher erforschen, hegen beispielsweise Zweifel, ob sich Krabbentaucherküken ausschließlich von C. finmarchicus ernähren können, ohne dass ihnen eine weitere, kalorienreiche Futterquelle zur Verfügung steht. Eine massive Veränderung in der Abundanz ihrer wichtigsten Nahrungsorganismen könnte also katastrophale Folgen für die Krabbentaucherkolonie haben und besitzt gleichzeitig das Potenzial, das terrestrische Ökosystem in der Umgebung der Vögel vollkommen zu verwandeln.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und mit dem Abklingen der Kleinen Eiszeit verließen die Krabbentaucher ihre damaligen Brutgebiete im Süden Grönlands und Islands. Eine Hypothese führt dieses Phänomen auf eine Änderung der Wasserverhältnisse im Umkreis der Vogelkolonien zurück. Auf Grund der steigenden Temperaturen kam es bei Grönland und Island zu einer Verlagerung von Meeresströmungen, die daraufhin wärmeres Wasser in die Nähe der Krabbentaucherkolonien transportierten. Einige Wissenschaftler postulierten, dass die Vögel entweder fortzogen oder sogar ausstarben, weil sie keinen Zugang mehr zu ihren bevorzugten Beuteorganismen hatten.

Verlieren die Krabbentaucher ihre Nahrungsgrundlage?

Um zu überprüfen, ob der gegenwärtige atlantische Warmwassereinstrom in die Fjorde Spitzbergens einen Einfluss auf die Krabbentaucher hat, haben die Ornithologen zwei räumlich voneinander getrennte Vogelkolonien überwacht. Im Jahr 2011 wurden am Hornsund lebende Krabbentaucher und Artgenossen aus einer Kolonie am Magdalenefjord – einem Warmwasserfjord im äußersten Nordwesten Spitzbergens – auf ihren Rücken mit GPS-Loggern ausgestattet. Anhand der Datenaufzeichnungen stellten die Forscher fest, dass Krabbentaucher vom Magdalenefjord weitere Flugstrecken zurücklegten und über die Warmwasserbereiche hinaus bis an den Rand der arktischen Meereiszone flogen, wo sie vermutlich C. glacialis vorfanden. Ein derartig wählerisches Fressverhalten hatte jedoch auch seinen Preis. Diese Vögel verbrachten eine längere Zeit in der Luft und verbrauchten dementsprechend mehr Energie als ihre Artgenossen, die in der Nähe des Hornsunds Nahrung erbeuteten. Ein Krabbentaucher aus der Kolonie am Magdalenefjord flog beispielsweise 150 Kilometer, um am Eisrand auf Futtersuche zu gehen, während keiner der am Hornsund lebenden Vögel Flugstrecken von mehr als 61 Kilometern zurücklegte.

Walrösser bei der Siesta | Walrösser legen oft eine kleine Verschnaufpause ein, bevor sie wieder zur Jagd abtauchen. Hier pausieren sie auf einer Eisscholle bei Ardnestet im östlichen Spitzbergen.

Andere Wissenschaftler fanden heraus, dass die unter Warmwasserbedingungen nach Futter suchenden Krabbentaucher höhere Konzentrationen des Stresshormons Kortikosteron in ihrem Blut aufwiesen. Laut einer gegen Ende der Brutsaison durchgeführten Studie war das Gewicht dieser ausgewachsenen Vögel deutlich niedriger, und ein geringerer Anteil von ihnen überlebte die folgenden Monate der Nachbrutzeit. Wojczulanis-Jakubas dagegen konnte bislang weder bei den von ihr untersuchten Vogeleltern noch bei den jungen Krabbentauchern irgendeinen offensichtlichen Schaden feststellen. Die Ornithologin geht jedoch davon aus, dass es eine Grenze gibt – einen Schwellenwert, an dem die Vögel nicht mehr in der Lage sind, gegenzusteuern. "Es wird sich im Körpergewicht und vielleicht auch in der Größe der Kolonien bemerkbar machen", mutmaßt die Forscherin.

Am geröllbedeckten Abhang hockend deutet Wojczulanis-Jakubas auf die leuchtenden Vegetationsflecken unter uns, die den tiefer gelegenen Hügelabschnitt wie eine klotzige Smaragdhalskette schmücken. Weite, in einer Mischung aus hellgrün und gelb gefärbte Tundrawiesen dehnen sich bis an die Küste aus. Für arktische Verhältnisse stellen sie üppige Oasen dar, ein Büfett für Spitzbergen-Rentiere, Polarfüchse, Osteuropäische Feldmäuse und Weißwangengänse. "Dies ist eine ornithokoprophile Tundra", erklärt die Biologin lachend, "eine Tundra, die den Vogelkot liebt. Und ganz am Anfang stehen die Krabbentaucher."

Vogelkot als Grundlage für das Ökosystem

Die Vögel haben dieses terrestrische Ökosystem der Arktis entstehen lassen und eine Verbindung zwischen dem Meer und dem Land geschaffen. Ihr Kot ist reich an Stickstoff, einem essenziellen Nährstoff für Moose, Flechten und Zwergweiden, die wiederum die Säugetiere des Spitzbergenarchipels ernähren. Schaut man durch ein Fernglas auf die andere Fjordseite, sieht man nur leblose, graue Felsen ohne einen einzigen Vogel. "Da drüben ist praktisch nichts", stellt Wojczulanis-Jakubas fest. In dem Terrain, das sich auf unserer Seite zwischen der Vogelkolonie und der Küste erstreckt, stammt der in den Pflanzen enthaltene Stickstoff zu 100 Prozent aus den Exkrementen der Krabbentaucher.

Eisbär mit Beute | Das Eisbärenmännchen verspeist gerade eine Ringelrobbe, eine Leibspeise des Polarjägers. Man schätzt die Population der Eisbären um Spitzbergen auf rund 3000 Tiere – viel mehr dürften die Ressourcen der Region auch gar nicht unterstützen können.

Noch ist es zu früh, um Prognosen über die Zukunft der Vogelkolonie am Hornsund oder anderer Krabbentaucherpopulationen auf Spitzbergen abzugeben. Allerdings gibt es Hinweise, dass der Klimawandel und eine Veränderung des Copepoden-Artenspektrums zu Gunsten der weniger nahrhaften borealen Spezies das endgültige Aus für diese Vögel bedeuten könnten. Die Eigenart der Krabbentaucher, jedes Jahr dasselbe Brutgebiet aufzusuchen, würde eine Umsiedlung der Vögel schwierig gestalten, falls sich die Situation in ihren Nahrungsgründen weiter verschlechtern sollte. Andere Forscher haben bereits einen Zusammenhang zwischen den wärmeren Klimaverhältnissen auf Spitzbergen und einer geringeren Überlebensrate adulter Krabbentaucher festgestellt und vermuten, dass der Einstrom von Ruderfußkrebsen aus borealen Zonen die Schuld an dieser Entwicklung tragen könnte.

Sollten die Krabbentaucher tatsächlich von Spitzbergen verschwinden oder sich in ihrer Anzahl dramatisch verringern, könnte dies den Wandel einer Landschaft nach sich ziehen, die für Pflanzenfresser wie etwa Rentiere überlebenswichtig ist. Zwar würden andere Seevögel vielleicht die von den Krabbentauchern hinterlassene Nische besetzen; dennoch könnte der Verlust eines winzigen Copepoden den einzigartigen biologischen Charakter dieser Insel von Grund auf verändern.

Warme Wassermassen im innersten Meeresarm

Über unseren Köpfen zieht eine einsame Eismöwe (Larus hyperboreus) träge ihre langsamen Kreise am Himmel und versetzt Tausende von Krabbentauchern in wilden Aufruhr. Auch nachdem die Vögel gelandet sind, ist die Luft noch immer von ihren lauten Warntrillern und hektischen Flügelschlägen erfüllt. An Bord der Oceania wartet Kwaśniewski inzwischen mit beunruhigenden Neuigkeiten über den Hornsund auf – jenen Fjord, den die Wissenschaftler bislang als Referenzgebiet für arktische Bedingungen herangezogen hatten. Vor vier Jahren hatte das Forscherteam dort erstmalig atlantisches Wasser nachgewiesen; heute konnten sie die warmen Wassermassen jedoch bis in die innersten Bereiche des Meeresarms detektieren. "Jetzt fragen wir uns natürlich, ob auch das atlantische Zooplankton so weit in den Hornsund hineintransportiert wurde", überlegt Kwaśniewski.

Langstreckenrekordhalter Küstenseeschwalbe | Die Küstenseeschwalbe (Sterna paradisaea) bewältigt die längste Zugstrecke aller Tiere auf der Erde: Manche Exemplare wandern mehr als 80 000 Kilometer pro Jahr zwischen ihren Brutplätzen im Norden und ihrem antarktischen Winterquartier.

Zwei Tage später verlassen wir spätabends den Fjord und segeln in Richtung der Südspitze der Insel. Heftiger Seegang lässt das Boot stärker schwanken als zuvor. Am nächsten Morgen befinden wir uns nicht mehr zwischen schneebedeckten Bergen, sondern betrachten diese vom offenen Wasser aus, während wir über dem Rand des Kontinentalschelfs dahintreiben. Auch das Wasser sieht hier ganz anders aus; seine Farbe hat sich von dem milchigen Graubraun des Gletscherschmelzwassers in ein klares, dunkles Türkis verwandelt. Als die Winde das trichterförmige Planktonnetz ins Meer hinunterlässt, können wir sein weißes Leuchten noch bis in Tiefen von mehr als 20 Metern wahrnehmen.

Unter der unermüdlich strahlenden Mitternachtssonne fährt unser Schiff die folgenden Tage im Zickzackkurs die Küste Spitzbergens gen Norden entlang. Kwaśniewski hat die wissenschaftliche Besatzung in zwei Schichten eingeteilt: Während die erste an Deck Zooplanktonproben nimmt und Temperatur- und Salzgehaltmessungen durchführt, ist die zweite mit Schlafen, Essen oder Duschen beschäftigt. Alle acht Stunden findet ein Schichtwechsel statt. Das Schiff wiederum unterbricht nach jeweils etwa 15 Kilometern seine Fahrt zur Durchführung der Messungen. Am ersten Tag und an den ersten Stationen scheinen die Daten von Temperatur, Salzgehalt und Zooplanktonzusammensetzung noch mit den Erwartungen Kwaśniewskis im Einklang zu stehen. Die oberen Schichten enthalten kaltes, weniger salziges Wasser, während sich das wärmere, stärker salzhaltige Wasser in größeren Tiefen befindet. Wir spülen Copepoden aus dem Planktonnetz und überführen sie in kleine Probenfläschchen. Wie erwartet, scheint es sich um C. glacialis zu handeln.

Rippenquallen wurden noch nie so weit im Norden gesehen

Bei seinem Transport in nördlichere Regionen gibt das Atlantikwasser Wärme ab. Dies hat es zwar schon immer getan, nur führt das Wasser jetzt bedeutend mehr Wärme mit sich und dringt wesentlich weiter nach Norden bis in die Fjorde vor. Und spät an jenem ersten Untersuchungstag, als das Schiff in einiger Entfernung von der Küste vor Anker liegt, treten plötzlich merkwürdige Messergebnisse auf. Zunächst stoßen die Wissenschaftler in einer Tiefe von 300 Metern – also im Bereich der vermuteten oberen Grenze des Atlantikwassers – schlagartig auf sehr warmes Wasser, dessen Temperatur fünf Grad Celsius beträgt. "Dies ist die Wärme, die in die Arktis gelangt", bemerkt Kwaśniewski, während er die Veränderungen von Wassertemperatur und Salzgehalt in Echtzeit auf seinem Computer verfolgt. "Kein Wunder, dass das Meereis schmilzt." Dann entdecken die Forscher eine Rippenqualle, eigentlich ein Bewohner wärmerer Gewässer, im Zooplanktonnetz. Es handelt sich um eine Art, die noch nie so weit im Norden gesichtet wurde.

Ruhender Eisbär | Der Eisbär ruht sich ein wenig aus, nachdem er von einer zur nächsten Insel des Spitzbergenarchipels geschwommen ist. Das Eis ist bereits geschmolzen, was seine Jagdgelegenheiten deutlich reduziert. Vor Kurzem haben Beobachter sogar gemeldet, dass hungrige Eisbären auf die Gelege von Krabbentauchern zurückgegriffen haben.

Morgens um 20 vor drei, als unsere salzverkrusteten Gummistiefel nach fast 48-stündiger Probennahme in der Sonne glitzern, macht die Oceania schließlich an der letzten im offenen Meer gelegenen Messstation Halt, bevor wir wieder zurück in den Hornsund segeln. Kwaśniewski bedient die Winde, um das Zooplanktonnetz einzuholen. Als das Fanggerät über dem Wasser baumelt, ergreife ich die Seile und ziehe es über die Reling auf das hölzerne Deck des Schiffes. Vorsichtig löse ich den blauen Sammelbehälter vom Netz und stelle ihn in ein Kühlgefäß in der Größe einer Lunchbox. In dem Behälter wimmelt es von Lebewesen – wie tanzende Wasserläufer auf der Oberfläche eines Sees. Kwaśniewski bringt die Kühlbox ins Labor, gießt die Probe in ein Becherglas und stellt es unter eine Lichtquelle.

In diesem Augenblick beobachtet der Wissenschaftler etwas Ungewöhnliches. Die Probe ist reich an kleineren Ruderfußkrebsen, bei denen es sich sehr wahrscheinlich um die warmwasserliebende Art C.  finmarchicus handelt. Doch irgendetwas stimmt nicht. Kwaśniewski schnappt sich die Kamera, macht eine Fotoaufnahme und vergrößert sie auf dem Computer. Die Copepoden auf dem Bildschirm sind nicht durchsichtig, wie sie es eigentlich sein sollten, sondern leuchten von Kopf bis Fuß in einem auffälligen Rot – wie die Schale eines gekochten Hummers.

"Wenn es sich um eine Masseninfektion handelt, könnte dies das arktische System vor ein neues Problem stellen"Sławomir Kwaśniewski

Kwaśniewski vermutet, dass die Färbung von einer Infektion mit einem Parasiten herrührt, doch müsse man abwarten, ob Untersuchungen in seinem Labor in Polen dies bestätigen würden, so der Forscher. In der Zwischenzeit beginnt er zu spekulieren, was die Entdeckung eines Parasiten bedeuten und welche möglichen Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. "Wenn es sich um eine Masseninfektion handelt, könnte dies das arktische System vor ein neues Problem stellen." Da diese Etappe der Forschungsreise beendet ist, fahren wir noch in derselben Nacht nach Longyearbyen zurück. Im Hafen angekommen, verlassen einige Mitglieder der wissenschaftlichen Besatzung das Schiff und fahren nach Hause, während eine neue Gruppe aus Forschern und Studenten ihre Nachfolge antritt. In den kommenden Tagen wird die Oceania weiter in Richtung Norden segeln, um die Probennahme am Kongsfjord fortzusetzen.

Ich frage Kwaśniewski, wann er diese auf 77 Grad nördlicher Breite und nur 1440 Kilometer vom Nordpol entfernt gelegenen Fjorde nicht mehr als arktische Gewässer einstufen würde und ob im arktischen Ökosystem genügend Resilienz vorhanden sei, um diesen Veränderungen zu widerstehen. Seine Antwort ist verblüffend einfach: "Noch immer gibt es innerhalb des Systems eine gewisse Resilienz, doch an einem bestimmten Punkt wird das Ganze umschlagen und sich ein neuer Zustand einstellen", prognostiziert der Wissenschaftler. "Wenn C. glacialis dort nicht mehr vorkommt, werden es keine arktischen Fjorde mehr sein."

Vegetation auf Alkehornet | Die Alkehornet-Insel ist berühmt für ihre Rentierherden. Sogar im Sommer erreichen die Temperaturen hier kaum je sechs Grad Celsius – und so wachsen nur wenige Pflanzen, die hart im Nehmen sein müssen.

Kwaśniewskis Äußerung veranlasst mich, darüber nachzudenken, wie diese Meeresarme wohl in ein paar Jahren aussehen werden. Werden sich die Wände aus Gletschereis in graue Kiesstrände verwandelt haben? Werden noch immer Krabbentaucher auf den Felsen hocken und auf ihre Nahrungsgründe hinunterblicken, oder wird eine andere Vogelart ihren Platz eingenommen haben? Schon jetzt hat in den wassergefüllten Falten und Vertiefungen der Küste Spitzbergens ein Umwandlungsprozess eingesetzt. Die Pflanzen und Tiere im arktischen Netzwerk des Lebens verändern sich; sie bilden untereinander neue Verbindungen aus und lösen bestehende einfach auf. Selbst wenn es uns gelingt, die Treibhausgasemissionen in den nächsten Jahrzehnten auf einem stabilen Niveau zu halten, sind Forscher der Ansicht, dass das Klima und die Bewohner der Inselgruppe Spitzbergen gegen Ende dieses Jahrhunderts sehr wahrscheinlich den heutigen Verhältnissen im 2500 Kilometer südlich gelegenen Dänemark ähneln werden. Und ich frage mich, ob die Arktis bis zum Ende meines Lebens wirklich das bleiben wird, was die Menschen meiner Generation und vieler Generationen vor uns seit Jahrhunderten als die Arktis kennen.

Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel "Sea Change" auf "bioGraphic", einem digitalen Magazin, das von der California Academy of Sciences publiziert wird.

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