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News: Das Phantom im Gehirn

Mit dem Verlust eines Körperteils wie Arm oder Bein ist es meist nicht getan. Häufig leiden die Betroffenen unter sogenannten „Phantomschmerzen“, die äußerst qualvoll sein können. Die Ursache ist eine Repräsentation des verlorenen Gliedes innerhalb des Hirns, die auch dann noch auf Reize reagiert, wenn das ursprüngliche Körperteil nicht mehr existiert.
Ein älterer Patient beklagte sich oft über Schmerzen in seinem rechten Zeh. Schmerzen sind bei Siebzigjährigen alltäglich – dieser Patient hatte aber keine Zehen mehr. Beide Beine waren über dem Knie amputiert worden. Woher kamen nun die Schmerzen? „Phantom“-Schmerzen aus amputierten Gliedmaßen sind ein bekanntes Phänomen. Viele Jahre lang glaubte man, daß es als eine Art Erinnerung hervorgerufen würde, weniger durch physische als durch emotionale Signale ausgelöst. Inzwischen ist jedoch allgemein akzeptiert, daß diese „Phantome“ nicht nur in der Seele spuken – sie sitzen im Gehirn. In einem Artikel in Nature (Ausgabe vom 22. Januar 1998) beschreiben Karen D. Davis und ihre Kollegen von der University of Toronto, wie Phantomschmerzen entstehen: Das Gehirn erzeugt eine Art Ersatzmodell des fehlenden Körperteils, das in manchen Fällen sogar „voll funktionsfähig“ bleibt.

Eindrucksvolle Demonstrationen, daß das Gehirn auch auf „Signale“ gar nicht mehr existenter Körperteile reagiert, bietet eine Studie von Menschen, denen ein Arm amputiert worden war. Als sie gebeten wurden, mit den Fingern ihres intakten Arms zu trommeln oder zu klopfen, wurden die motorischen Bereiche des Gehirns aktiviert. Als sie gebeten wurden, sich dieselben Fingerbewegungen mit den fehlenden Gliedmaßen vorzustellen, wurde der entsprechende Motorbereich auf der anderen Seite des Gehirn aktiviert.

Bis zu einem bestimmten Maße ist die Gehirnstruktur in unseren Genen codiert. Bei der Verfeinerung und Feinabstimmung der Hirnverbindungen spielen jedoch die späteren Erfahrungen eine große Rolle. Andernfalls wären wir vollkommen unfähig zu lernen. Es überrascht daher nicht, daß das Gehirn sich anpaßt, wenn eine wichtige sensorische Informationsquelle plötzlich ausfällt. Was genau geht jedoch im Gehirn als Reaktion auf den plötzlichen Verlust sensorischer Informationen vor, und wie führen diese Veränderungen zu Phantomen? Sensorische Informationen von der Oberfläche des Körpers werden durch den Hirnstamm in den Bereich des Thalamus geleitet. Die Körperoberfläche wird im Thalamus und auch in anderen Bereichen des Gehirns in einer Art „Karte“ abgebildet. Die Phantomschmerzen, an denen einige Amputierte leiden, können schon heute durch elektrische Stimulation des entsprechenden Thalamus-Bereiches behandelt werden.

Die Forscher um Davis maßen die Aktivität im Gehirn als Reaktion auf Berührungen des Stumpfes. Noch wichtiger: Sie waren in der Lage, künstliche Nervenimpulse im Thalamus-Bereich wacher Patienten zu erzeugen, und haben diese Patienten gebeten, zu berichten, was sie fühlten. Die Forscher fanden heraus, daß die Patienten Stimulierungen des Stumpfbereiches relativ gesehen als ungewöhnlich stark empfanden. Es scheint, als ob sich die dem Stumpf entstammenden sensorischen Nerven im Thalamus ausgebreitet hätten, um die ganze Region abzudecken, die vorher zur Repräsentation des Körperteiles genutzt wurde.

Außerdem konnten durch eine künstliche Stimulation Berührungs- und sogar Schmerzempfindungen hervorgerufenwerden, die von dem fehlenden Glied zu stammen schienen. Es ist wahrscheinlich, daß die Nerven im Thalamus auch weiterhin Empfindungen im fehlenden Glied signalisieren. Mit anderen Worten, die Repräsentation des amputierten Gliedes im Thalamus bleibt in der Stärke und der Art der Empfindungen erhalten.

Bei einigen Patienten scheinen sich die betroffenen Neuronen des Thalamus an die neuen Gegebenheiten anzupassen und „angemessen“ auf die Signale des jeweiligen Stumpfes zu reagieren. Diesen Personen bleiben die qualvollen Phantomschmerzen erspart. Um vielleicht auch den anderen Patienten ein normales Leben nach Amputationen zu ermöglichen, wird zunächst das Wissen benötigt, warum es bei verschiedenen Patienten Unterschiede in der Umorganisationsfähigkeit gibt.

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