Neue Rote Liste: Das sichtbare Verschwinden der Wildbienen

Den Wildbienen und Hummeln geht es nicht gut – für alle sichtbar. »Haben Sie im letzten Jahr viele Hummeln gesehen?«, fragt Rainer Prosi. »Wahrscheinlich nicht, denn das war ein richtig schlechtes Hummeljahr.« Kaum jemand weiß so gut wie er, dass die wichtigen Bestäuber in Schwierigkeiten stecken. Er ist Mitverfasser der neuen Roten Liste für die Wildbienen Baden-Württembergs, deren vierte Fassung nun erschienen ist. Sie zeigt, wie stark die wild lebenden Bestäuber inzwischen unter Druck sind. Allein seit dem Jahr 2000, als die vorherige Version der Roten Liste erschien, sind in dem Bundesland weitere 13 Arten ausgestorben oder verschollen.
Insgesamt gibt es in Baden-Württemberg 493 Wildbienenarten. Doch nur noch 196 von ihnen gelten als ungefährdet, wie die Rainfarn-Maskenbiene, die im Jahr 2022 auch Wildbiene des Jahres war. »Bei der Mehrheit der Wildbienen sieht es hingegen anders aus«, erklärt Mare Haider, promovierte Biologin und ebenfalls Autorin der Roten Liste. Fast die Hälfte seien entweder ausgestorben, extrem selten oder bestandsgefährdet. Zu ihnen gehört die Mohnbiene, die ihre Nester mit roten Mohnblättern auskleidet. 16 Prozent, und damit fast doppelt so viele wie 2000, gelten als »vom Aussterben bedroht«. »Dazu gehört beispielsweise die Sandrasen-Kegelbiene, die auf sandige Gebiete angewiesen ist«, so die Expertin.
Beispiele wie die bereits ausgestorbene Samthummel oder die stark gefährdete Zottige Felsenbiene würden die alarmierende Situation verdeutlichen, erklärt Mare Haider. Letztere Art komme nur an felsigen Standorten wie Steinbrüchen oder Felswänden vor. »Die Rote Liste zeigt nur noch sieben Fundorte von dieser speziellen Wildbiene.«
Man habe in manchen Gegenden bereits Probleme, überhaupt für Wildbienen attraktive blühende Wildkräuter zu finden, erläutert der Biologe Hans Richard Schwenninger, ebenfalls Autor der Roten Liste. Im Moment findet in der Landschaft eine regelrechte »Vergrasung von Flächen« statt. Es gebe auch zu wenig Nistmöglichkeiten für die Wildbienen, die hier ganz unterschiedliche Ansprüche hätten. Manche Arten brauchen Sandboden, andere Lehm- oder Lösswände und wieder andere benötigen Holz, Steinstrukturen oder Schneckenhäuser für ihren Nachwuchs.
Insgesamt rund 335 000 Datensätze bilden heute die Grundlage für die Bestandsbewertung der Wildbienen in Baden-Württemberg. Im sogenannten Wildbienen-Kataster sammelten Fachleute schon seit dem Jahr 2000 kontinuierlich Daten über die Populationen der Tiere. Zur Aktualisierung der Roten Liste beauftragte die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) 2019 das Staatliche Museum für Naturkunde Karlsruhe unter der Leitung von Manfred Verhaagh, ein Expertenteam zu koordinieren. Zwischen 2020 und 2023 führten die Fachleute Geländearbeiten durch, überprüften Sammlungen und tauschten sich mit weiteren Experten aus. Diese Arbeiten bilden zusammen mit den Daten des Wildbienen-Katasters die Grundlage der aktuellen Roten Liste.
Die Gründe für die Krise sind lange bekannt
Für Manfred Verhaagh, mittlerweile im Ruhestand und ehrenamtlicher Mitarbeiter des Staatlichen Museums für Naturkunde Karlsruhe, zeichnet die neue Rote Liste ein erschreckendes Bild. »Die Gefährdung der Arten nimmt zu und die Populationen brechen zusammen. Wenn das so weitergeht, werden von vielen Arten nur noch Restpopulationen übrig bleiben«, fürchtet er.
Die Gründe für die schlechte Situation der Wildbienen sind vielfältig und schon lange bekannt: Verlust von Lebensräumen, Abnahme der Blütenvielfalt, Pestizideinsatz. Der Klimawandel kommt als weiterer Faktor obendrauf. 2022 und 2023 waren zum Beispiel für die Spitzfühler-Stängelbiene keine guten Jahre. »Es ist einfach zu heiß gewesen«, erklärt Rainer Prosi. Diese Wildbiene sammelt Nektar und Pollen an der Knollen-Platterbse – doch im Taubertal fand Prosi trotz vieler Pflanzen nur fünf offene Blüten. »Der Rest war vertrocknet. Ohne Blüten kein Nektar, ohne Nektar – das ›Flugbenzin der Insekten‹ – fehlt den Bienen die Lebensgrundlage.«
Ausgesprochen problematisch sei auch die weit verbreitete Giftstoffklasse der Neonikotinoide, so Schwenninger. Laut neuen Untersuchungen sind bei der Erfassung von Fluginsekten, trotz Einschränkungen bei deren Einsatz, die Stoffe immer noch in der Fangflüssigkeit nachgewiesen worden. In der Roten Liste heißt es dazu: »Obwohl seit dem Jahr 2013 durch ein europaweites Moratorium ein Verbot für drei Neonikotinoide in bienenattraktiven Kulturen eingeführt wurde, konnten in Raps und Wildblumen noch fünf Jahre danach diese Substanzen nachgewiesen werden, ohne dass ein klarer Abwärtstrend erkennbar war.«
Pestizide und Viren gefährden wilde Bestäuber
Diese Konzentrationen seien zwar nicht sofort tödlich für die Wildbienen, würden aber auf das Immunsystem der Tiere wirken und Bienenkrankheiten begünstigen, bekräftigt Schwenninger. Und das Herbizid Glyphosat habe Effekte wie ein Antibiotikum und beeinflusse die Darmsymbionten bei Hummeln, was sich wiederum auf deren Fitness auswirke. Deshalb sollte man in der Umgebung von Naturschutzgebieten eine mindestens zwei Kilometer breite Pufferzone ohne Pestizideinsatz einrichten.
Bienenkrankheiten sind ein weiteres großes Problem – wie das Honigbienen-Faden-Virus, das von den kommerziell genutzten Honigbienen auf wilde Bestäuber übertragen werden kann. Der Erreger führt bei befallenen Honigbienen zu Lähmungserscheinungen, Orientierungslosigkeit, und die Tiere verlieren ihre Haare. Versuche zeigten bereits, dass solche von Honigbienen übertragene Viren das Potenzial haben, auch die ohnehin bedrohten Wildbienenpopulationen zu reduzieren.
Schwenninger sieht deshalb zudem ein Problem bei der Wanderimkerei. Dabei bleiben die Bienen nicht an einem Ort, sondern werden zwischen aussichtsreichen Nahrungsquellen transportiert. Dabei könnten hochansteckende Krankheitserreger verschleppt werden, erklärt Schwenninger. Es gebe eine Bienenseuchen-Verordnung, an die sich die Wanderimker halten müssten, aber dort seien leider keine Viren oder weit verbreitete Pilzerreger aufgelistet, so der Experte.
Ähnliche Probleme gibt es bei den kommerziell gezüchteten Hummelvölkern, die oft zur Bestäubung von Gewächshaus- und Freilandkulturen eingesetzt werden. Es gebe mittlerweile zwar strenge Hygienevorgaben für Hummelzüchter, doch die reichten nicht aus. Schwenniger berichtet von Hummelvölkern, die streng kontrolliert wurden und als gesund galten; trotzdem habe man bei 77 Prozent der Individuen weiterhin Krankheiten gefunden. Ursache sei letztendlich belasteter Honigbienen-Pollen gewesen, mit dem die Hummeln gefüttert worden seien. Jetzt werde der Pollen zuvor radioaktiv bestrahlt. Das alles zeige, wie komplex und oft unterschätzt die Auswirkungen kommerzieller Bestäubung auf die Wildbienen seien.
Honigbienen sind Nahrungskonkurrenten
Neben dem Risiko der Krankheitsübertragung macht den Wildbienen die Nahrungskonkurrenz durch die Honigbienen zu schaffen. »Wenn Tausende von Honigbienen über ein begrenztes Blütenangebot schwärmen, ist der Pollen schnell weg und wird auch nicht nachgebildet. Für die Wildbienen bleibt dann oftmals nichts mehr oder nicht viel übrig«, sagt Rainer Prosi.
Hans Richard Schwenninger berichtet von Untersuchungen an Streuobstwiesen, die diese Befürchtungen bestätigen. Man habe während der Blütezeit an zehn Obstbäumen acht Minuten lang alle Blütenbesucher erfasst. »30 Gebiete wurden untersucht, bei 27 davon waren die Honigbienen dominant, dort fand man nur elf Wildbienenarten. Bloß in drei Gebieten flogen mehr Wildbienen, da waren es dann 18 oder 20 Wildbienenarten.« Die Zahlen sprächen für sich, findet Schwenninger. Er möchte die Honigbienen vor allem aus den geschützten Gebieten heraushalten. »Die Völker sollten auch nicht in der Nähe von Naturschutzgebieten stehen, denn der Flugradius der Honigbienen ist bemerkenswert groß.«
Hinzu kommt, dass auch der Klimawandel Wildbienen unter Druck setzt. Die Rote Liste, die neben dem Gefährdungsstatus ebenso die Gründe dafür erfasst, nennt mehrere Effekte, die bereits jetzt eine Rolle spielen: Veränderungen in den Blühperioden der Nahrungspflanzen, vertrocknete Blüten auf Grund von Trockenheit, Starkregen, der die Nester der bodenlebenden Wildbienen flutet.
Dadurch verändert sich das Artenspektrum; Wärme liebende Arten wandern immer weiter nach Norden. Die Grüne Dörnchen-Sandbiene, eine ursprünglich südeuropäische Art, wurde beispielsweise im Jahr 2017 erstmals im Raum Lörrach für Deutschland nachgewiesen. Zu den Gewinnerinnen des Klimawandels gehört ebenfalls die Gelbbindige Furchenbiene. Als sie in den 1980er Jahren erstmals in Freiburg gefunden wurde, galt sie noch als absolute Rarität. Heute, rund 40 Jahre später, ist sie im Oberrheingebiet bereits eine weit verbreitete Art und tauchte schon in höchsten Schwarzwaldlagen auf dem Feldberg auf.
Was man gegen die Wildbienenkrise tun kann
Nicht nur die Probleme und Gefährdungen der Wildbienen sind bekannt, auch die Lösungen liegen auf der Hand. Tatsächlich kann man sie oft recht einfach umsetzen – in der Landwirtschaft, in Städten und Gemeinden sowie in Privatgärten. »Wir brauchen eine Ökologisierung der Städte mit regionalen Wildpflanzen und einer angepassten Mahd, damit diese aussamen können«, sagt Manfred Verhaagh. Privatleute sollten ebenfalls einheimische Blumen und Sträucher pflanzen, damit das ganze Jahr etwas blühe.
In der Landwirtschaft gebe es Förderprogramme für die Anlage von Blühstreifen oder Flächen, erklärt Verhaagh, aber da werde auch viel Unsinn gemacht. Es gebe immer noch Mischungen aus wenigen, meist einjährigen und häufig nicht einheimischen Pflanzen, mit denen man eben keine dauerhaften Wildbienenpopulationen aufbauen könne, wie langjährige Freilandversuche klar gezeigt hätten. Man brauche hier ein Nebeneinander von Nistangeboten und artenreichen Blühangeboten aus ein- und mehrjährigen sowie regionaltypischen Pflanzen, um auch die Spezialisten unter den Wildbienen zu erreichen. Die Landschaft benötige einfach dauerhafte Blühinseln.
Spezielle Schutzeinstufungen regeln in Deutschland auch die staatliche Verantwortung für den Schutz bestimmter Wildbienenarten. Zum einen hat das Land für Arten, die entweder nur hier vorkommen (endemisch) oder von denen ein großer Teil der Weltpopulation in Deutschland lebt, eine so genannte Nationale Verantwortung. Das heißt, Deutschland trägt die Hauptverantwortung für ihren Schutz, wie zum Beispiel für die Rheinische Dörnchen-Sandbiene.
Daneben gibt es mehrere hochgradig gefährdete Arten, die in Deutschland ausschließlich in Baden-Württemberg vorkommen und für die das Bundesland eine besonders hohe Verantwortung trägt. Ihr Schutz ist ausgesprochen wichtig, denn ihr Aussterben würde gleichzeitig ihr vollständiges Verschwinden aus Deutschland bedeuten. Dazu gehören etwa die Östliche Kielsandbiene, die Kleine Holzbiene und die Goldaster-Seidenbiene. Um diese einzigartigen Arten zu bewahren, setzt Baden-Württemberg gezielt Schutzmaßnahmen im Rahmen seines Artenschutzprogramms um.
»Die Wildbienen sind Schlüsselarten«, betont Schwenninger. Man hätte schon viel länger die Bedeutung der Wildbienen berücksichtigen und erkennen müssen. Das sei sowohl eine ökologische als auch eine wirtschaftliche Frage. Unter anderem deswegen stellte die EU-Kommission im Januar 2023 den »Neuen Deal für Bestäuber« vor, um den alarmierenden Rückgang von Bestäuberinsekten in Europa zu stoppen und bis 2030 umzukehren. Der Fokus der EU liege hier auf Größe und Vielfalt der wild lebenden Bestäuberpopulationen, also insbesondere auf Wildbienen, Schmetterlingen, Schwebfliegen und anderen bestäubenden Insekten. Hans Richard Schwenninger hofft, dass sich dadurch auch die Situation der Wildbienen verbessern wird.
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