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Virologie: Das Virus-Virus

Viren kennt man als merkwürdige Gebilde im Niemandsland zwischen belebter und unbelebter Natur, die anderen Lebewesen ihren Willen aufzwingen. Doch auch diese genetischen Freibeuter können von anderen Viren geentert werden.
Sputnik und Mamavirus
"Zähe Feuchtigkeit", "Schleim", "giftiger Saft", "Gift" – die Bedeutungen des lateinischen Worts "Virus" klingen nicht gerade schmeichelhaft. Tatsächlich wussten die Mediziner zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht viel mit diesen rätselhaften infektiösen Agenzien anzufangen: Sie blieben im Lichtmikroskop unsichtbar, passierten mühelos Bakterienfilter und ließen sich auch nicht auf Nährböden züchten. Offensichtlich wesentlich kleiner als Bakterien, verhielten sie sich aber wie diese und lösten beispielsweise Krankheiten aus.

1935 gelang es schließlich dem amerikanischen Biochemiker Wendell Stanley (1904-1971), die Struktur eines dieser Erreger, des Tabakmosaikvirus, aufzuklären – und verbannte damit das Reich der Viren in die chemische Welt unbelebter Moleküle. Denn wie sich herausstellte, bestehen die Partikel aus nichts anderem als einem Nukleinsäurestrang, der in eine Proteinhülle gepackt ist. Von Stoffwechsel – einer Grundeigenschaft des Lebens – keine Spur. Bezeichnenderweise erhielt Stanley 1946 den Nobelpreis für Chemie, nicht für Medizin.

Viren sind demnach leblose Gebilde, die sich vermehren, indem sie lebende Zellen überfallen und ihnen ihren genetischen Willen in Form ihrer Erbsubstanz aufzwingen – vagabundierende Gen-Vehikel. Und was nicht lebt, kann auch nicht krank werden. Oder etwa doch?

Genau das haben jetzt französische Virologen zufälligerweise entdeckt. Die Forscher um Bernard La Scola und Didier Raoult von der Université de la Méditerranée in Marseille hatten das so genannte Mimivirus untersucht. Hier verbirgt sich das Kürzel für mimicking microbe – das größte bekannte Virus, das zunächst für ein Bakterium gehalten wurde. Seine wissenschaftliche Karriere begann 1992, als es in einer Amöbe im Kühlwasserturm eines Krankenhauses in Bradford aufgespürt wurde. 2004 hatten Raoult und Co das Genom dieses Riesen unter den Winzlingen entziffert.

Sputnik und Mamavirus | Auf der elektronenmikroskopischen Aufnahme sind die Virophagen namens Sputnik als winzige kugelförmige Partikel in unmittelbarer Nähe von Mimiviren (sechseckige Gebilde) zu erkennen. Die dunklen Bereiche zeigen "Virenfabriken", in denen die infizierte Amöbenzelle neue Sputnik-Viren zusammenbaut.
Inzwischen haben die Forscher aus dem Einzeller Acantamoeba polyphaga einen neuen Mimivirus-Stamm isoliert, der sogar noch größer war und nun auf den Namen "Mamavirus" hört. Unter dem Elektronenmikroskop erspähten die Wissenschaftler in unmittelbarer Nähe dieser Mamaviren kleinste Partikel.

Wie weitere Untersuchungen ergaben, handelte es sich tatsächlich um ein neues Virus: "Sputnik", wie die Forscher das nur 50 Nanometer große Gebilde nach dem ersten menschengemachten Satelliten tauften, besaß eine ringförmige doppelsträngige DNA mit 21 Genen aus insgesamt 18 000 Basenpaaren – im Vergleich zu den 1,2 Millionen DNA-Bausteinen und über 1200 Genen des Mamavirus geradezu winzig.

Vermehren konnte sich Sputnik nur in Amöben-Kulturen, die mit dem Mamavirus infiziert waren. Doch dem "Wirt" erging es dabei schlecht: Er zeigte merkwürdige Deformationen – an manchen Stellen schwoll seine Hülle von 40 auf 240 Nanometer an –, und seine Vermehrungsrate brach um 70 Prozent zusammen. Mit anderen Worten: Das Mamavirus war "krank".

Offensichtlich veranlassen die von Sputnik befallenen Viren die von ihnen infizierten Amöben, wieder neue Sputniks zusammenzubauen. Der virale Parasit wird also selbst parasitiert.
"Für mich besteht kein Zweifel, dass es sich um einen lebenden Organismus handelt"
(Jean-Michel Claverie)
In Anlehnung an die Bezeichnung für Viren, die Bakterien befallen – Bakteriophagen –, schlagen die französischen Forscher für solche Viren-Viren den Begriff "Virophagen" vor.

Wie häufig es solche Virophagen gibt, bleibt offen. Da aber in Sputnik gleich drei mimivirenartige Gene nachweisbar waren, könnten sie eine wichtige Rolle als Transportmittel für Gene spielen: Wie Bakteriophagen, die bakterielles Erbgut von einer Bakterie zur nächsten schleppen, dürften die Virophagen dasselbe mit viralem Genom tun.

Und noch mehr: Das "kranke" Virus lässt dieses merkwürdige Niemandsland zwischen Biologie und Chemie in einem ganz neuem Licht erscheinen. "Für mich besteht kein Zweifel, dass es sich um einen lebenden Organismus handelt", betont denn auch Raoults Kollege Jean-Michel Claverie. Ein erstaunlicher Aufstieg für den "giftigen Schleim".

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  • Quellen
La Scola, B. et al.: The virophage as a unique parasite of the giant mimivirus. In: Nature 10.1038/nature07218, 2008.

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