David Reuveni: Heerführer der verlorenen Stämme

»Ich bin David, der Sohn von König Salomon, seligen Angedenkens. Mein älterer Bruder ist König Joseph, der von seinem Thron in der Wüste von Habor über 30 Myriaden herrscht – über die Stämme Gad, Reuben und den halben Stamm Manasseh«, schrieb David Reuveni. Die Passage steht am Anfang seines Berichts über eine Reise, die ihn Mitte der 1520er Jahre von der Arabischen Halbinsel über das Rote Meer, Nubien, Ägypten und Palästina nach Europa geführt hatte. Mit ganz ähnlichen Worten – allerdings mithilfe von Dolmetschern, da er nur Hebräisch und Arabisch sprach – stellte er sich wohl auch seinen europäischen Gesprächspartnern vor. Unter ihnen einige der mächtigsten Männer des Kontinents.
Sein Bruder Joseph, so erzählte er, herrsche als König in der Arabischen Wüste über einen Teil der verlorenen Stämme Israels. Damit waren die zehn jener zwölf legendären Stämme gemeint, die von den Assyrern im 8. Jahrhundert v. Chr. aus dem alten Israel verschleppt wurden und seither als verschollen galten. Reuveni verbürgte sich somit, von altehrwürdiger und edler Herkunft zu sein.
Der Bruder und seine Berater, die »Siebzig Ältesten«, hätten ihn, Reuveni, nach Europa gesandt mit dem Auftrag, die Christen für ein Bündnis gegen die Türken zu gewinnen. Außerdem bat Reuveni, der auch als Reubeni bekannt war, um die Lieferung von Waffen neuester Bauart. Ausgerüstet mit europäischen Kanonen würde er die Truppen seines Bruders persönlich in den Kampf gegen sämtliche muslimische Reiche in Afrika und Asien führen.
Der Papst zeigte Interesse, auch weltliche Fürsten waren durchaus offen für die Idee. Gegen die bedrohlich weit bis Budapest vorgedrungenen Türken war ihnen jeder Verbündete recht. Und so schien es für einen Moment, als gelänge David Reuveni tatsächlich herbeizuführen, was Apokalyptiker aller drei abrahamitischen Religionen bis heute ersehnen: die epische Endschlacht einer judäo-christlichen Streitmacht gegen die Heere der Muslime.
Jüdischer Gesandter aus dem Nirgendwo
Dabei hatte bei Reuvenis Ankunft in Venedig herzlich wenig dafürgesprochen, dass Papst Clemens VII. (1478–1534) den unbekannten Juden aus dem Nirgendwo wenige Wochen darauf im Vatikan empfangen würde. Zumal der angebliche Gesandte im Dezember 1523 völlig mittellos von dem Schiff gestiegen war, das ihn aus Alexandria an den Lido gebracht hatte. Die wohlhabende jüdische Gemeinde der Lagunenstadt empfing den narbenübersäten, dunkelhäutigen Fremden – ein Zeitzeuge beschrieb Reuveni als »schwarz wie ein Nubier« –, der zudem keine europäische Sprache beherrschte, zunächst auch recht verhalten.
Er erzählte den Glaubensbrüdern, in Alexandria habe ihm ein »verräterischer Ägypter« all sein Geld gestohlen. Er müsse jedoch nach Rom, »um unverzüglich eine Audienz bei Seiner Gnaden, dem Papst, zu erwirken«, schrieb Reuveni in sein Tagebuch. Zwar könne er ihnen »zum Wohle Israels« keine Einzelheiten seiner Mission nennen, doch brauche er dringend Geld für die Weiterreise. Wenn sie ihm diese »um Gottes willen, um der Ältesten willen und um ganz Israels willen« geben würden – sowie zwei Männer als Begleitung –, würde ihnen diese gute Tat angerechnet werden und sie könnten darauf bauen, dass die Männer »mit guten Nachrichten zurückkehren«.
Verständlicherweise zögerten die Venezianer, obgleich der häufig betende und fastende Fremde ein gottesfürchtiger Mann zu sein schien. Das Geld wurde schließlich zusammengebracht, und Ende Februar 1524 ritt Reuveni mit einigen Anhängern, die sich ihm in Venedig und auf dem Weg nach Rom angeschlossen hatten, in der Hauptstadt der katholischen Christenheit ein. »Ich kam auf einem alten weißen Pferd reitend im Hof des Papstes an, mein Diener ging mir voraus, und die Juden begleiteten mich.« Empfangen wurde er von Kardinal Aegidius de Viterbo (1469–1532), einem humanistisch gebildeten Kirchenmann, der auch Arabisch und Hebräisch sprach – und binnen weniger Tage tatsächlich eine Audienz bei Papst Clemens VII. arrangierte.
Waffen für Dschidda erbeten
Auch im Vatikan berichtete Reuveni von seinem Bruder und dem jüdischen Königreich im fernen Arabien. Er selbst sei nicht nur Diplomat, sondern auch der Heerführer dieses Reichs – und eigens nach Europa gekommen, um die Fürsten der Christen von einer Militärallianz gegen den gemeinsamen Feind, die muslimischen Türken, zu überzeugen. Auch die gewünschten Waffen sprach Reuveni an. Man solle sie an den Hafen von Dschidda (heute in Saudi-Arabien) liefern, möglichst in Begleitung von »Handwerkern – geübt in der Fertigung von herkömmlichen und Feuerwaffen –, die in mein Land reisen, um diese herzustellen und unsere Soldaten zu schulen«.
Zwar konnte Clemens keinen der Wünsche des vermeintlichen Emissärs erfüllen, doch nahm er dessen Ausführungen offenbar ernst. Er riet Reuveni, sich an König Johann III. (1502–1557) von Portugal zu wenden, dessen Flotte damals die beherrschende europäische Seemacht im Indischen Ozean und im arabischen Raum war. Zudem gab der Papst dem Gesandten ein Empfehlungsschreiben mit. Er könne zwar Reuvenis Geschichte nicht überprüfen, schrieb er darin dem portugiesischen Monarchen, wolle sie aber auch nicht einfach abtun. Es sei jedenfalls nicht unplausibel, dass die Juden im Kampf gegen die Türken ein Bündnis mit den christlichen Reichen eingehen wollten – und es sei nicht unvernünftig, wenn die Christen ihrerseits eine solche Allianz in Erwägung zögen. Die Juden seien zwar Feinde Christi, schloss Clemens, doch »manchmal beschließt der Herr, Rache an seinen Feinden durch die Hand seiner Feinde zu nehmen«.
Mit seinem Empfehlungsschreiben für Reuveni erkannte der Papst den diplomatischen Status des unbekannten Mannes an. Dass er und in der Folge auch weitere christliche Fürsten überhaupt bereit waren, einen orientalischen Juden ungewisser Herkunft als Gesandten eines Königs zu empfangen, war sicherlich auch den Entdeckungen auf neuen Kontinenten geschuldet.
Eine Sensation in der jüdischen Welt
»Die herkömmlichen geografischen Vorstellungen wurden auf den Kopf gestellt«, erklärt der Historiker Alan Verskin von der University of Toronto in seiner englischen Ausgabe von Reuvenis Reisebericht. Die Europäer seien auf Völker und Länder gestoßen, die ihnen bis dahin unbekannt waren. Viele Herrscher hielten sich daher zurück, über die Angelegenheiten jene Länder zu urteilen. Doch »wenn Reuvenis Geschichte wahr war, waren die Vorteile für Europa potenziell sehr groß … Warum sollte man nicht ein kleines Risiko mit ihm eingehen?«, deutet Verskin die damalige Lage.
Das Treffen im Vatikan steigerte das Ansehen Reuvenis unter den europäischen Juden enorm. »Die Audienz des Vertreters der verlorenen Stämme beim Oberhaupt der Christenheit war eine Sensation in der jüdischen Welt«, sagt Rebekka Voß, Professorin für Geschichte des deutschen und europäischen Judentums an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. »Denn laut jüdischer Überlieferung wird am Ende der Zeiten, so wie einst Moses zum Pharao gegangen war, der Messias vor den Papst treten, sich ihm offenbaren und von ihm fordern: ›Entlasse mein Volk!‹«
Diese Überlieferung war den Juden in Rom und in anderen italienischen Städten bekannt, die Reuveni vor seiner Weiterfahrt nach Portugal besuchte. Viele unter ihnen hielten ihn für den Messias, was er aber von sich wies. Andeutungen machte er dennoch. »Ich bin kein Weiser oder Kabbalist, auch bin ich kein Prophet noch der Sohn eines Propheten«, sagte der Gesandte. Lediglich ein Heerführer sei er, »seit meiner Jugend ein Mann des Krieges«. Als ein solcher kam er immer wieder auf die Armeen seines Bruders zu sprechen und auf Themen mit eindeutig messianischem Bezug: die Rückeroberung Jerusalems, den Wiederaufbau des jüdischen Tempels und die Heimkehr der Juden in das Heilige Land. Auch Wunderliches erzählte er: So habe er es in Jerusalem allein durch sein Gebet an der Klagemauer vollbracht, dass sich der Halbmond an der Spitze des Felsendoms zum Schrecken der Muslime von Westen nach Osten drehte.
Ein Hochstapler ohne Ziel?
»Reuveni sah sich selbst als eine messianische Figur«, sagt Voß. »Ihm lag offenbar daran, die schnelle Zerstörung von Christentum und Islam herbeizuführen, indem er Christen und Muslime in einen Krieg verwickelte, der mit beider Vernichtung enden würde.« Doch Reuveni war auch ein Betrüger. Er wusste ja, dass es keinen königlichen Bruder gab, kein jüdisches Reich in der Arabischen Wüste und keine Soldaten unter seinem Befehl. Allem Anschein nach erfand er seine angebliche Mission nicht, um sich zu bereichern. Warum dann? Wollte er schlicht das Erscheinen des Messias beschleunigen? Spekulierte er darauf, dass sich die jüdischen Soldaten schon fänden, wenn die europäischen Kanonen erst einmal geliefert wären?
Diese Fragen bleiben ebenso offen wie jene nach Reuvenis wahrer Herkunft. Es sei unklar, ob er tatsächlich von der Arabischen Halbinsel stammte, und wenn ja, von wo genau, so Voß. Sicher sei nur, dass er nicht von den verlorenen Stämmen Israels kam. »Heute wissen wir natürlich, dass sie in dieser Form nicht existierten. Tatsächlich wurden die zehn Stämme bei der Zerstörung des Nordreichs Israel in der Vertreibung zerstreut«, erklärt die Judaistin. Die Assyrer hatten das Nordreich Israel – im Süden lag Judäa – um 722/20 v. Chr. erobert. Doch im 16. Jahrhundert waren die Menschen felsenfest von der Existenz der verschollenen Stämme überzeugt. Man glaubte, »dass sie an einem unbekannten Ort ein unabhängiges jüdisches Königreich bildeten«, sagt Voß.
Die Behauptung, der Abgesandte der verlorenen Stämme zu sein, verhalf Reuveni jedenfalls nicht nur zu Audienzen bei christlichen Herrschern, sie unterstrich auch den messianischen Charakter seiner Mission. Denn die angeblichen Nachkommen jener Juden spielten in den damals weitverbreiteten jüdischen wie christlichen Endzeitszenarien eine bedeutende Rolle.
Die Horde der »roten Juden«
Demnach lebten sie in einem Reich jenseits der muslimischen Länder und verfügten über besondere militärische Fähigkeiten. Doch seien sie vom Rest der Welt, so glaubte man, durch einen tosenden Fluss getrennt, der nur an Sabbaten passierbar sei, wenn sie ihn wegen des Ruhegebots aber nicht überqueren durften. In messianischer Zeit jedoch werde Gott die Wasser des Flusses anhalten – und die zehn Stämme würden ihn unbeschadet durchqueren, um als mächtige Krieger das Volk Israel aus der Diaspora zu befreien.
Nach jüdischer Tradition würden die »roten Juden«, wie sie im Jiddischen und Deutschen genannt wurden, nicht nur ihre leidgeprüften Glaubensbrüder und -schwestern ins Heilige Land heimführen, sondern auch den Christen die Jahrhunderte der Unterdrückung und des Leids fürchterlich vergelten. »Der innerjüdische Diskurs über die endzeitliche Rache war den Christen bekannt, und so verwundert es nicht, dass die ›roten Juden‹ in christlichen Endzeitszenarios eine beinahe identische Funktion hatten«, erläutert Voß. Nahm man doch an, dass die furchterregende Horde am Ende der Tage über das christliche Europa herfallen würde. Freilich wäre laut dem christlichen Szenario der Triumph der »roten Juden« nur ein trügerischer, da sie bei der Wiederkunft von Jesus als Spießgesellen des Antichristen gemeinsam mit diesem untergehen würden.
Anfang des 16. Jahrhunderts waren sich viele Christen und Juden in der Überzeugung einig, dass die Apokalypse unmittelbar bevorstand. »Die frühe Neuzeit bot mit all den umwälzenden Ereignissen und einschneidenden politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Veränderungen einen fruchtbaren Boden für apokalyptische Erwartungen«, so Voß. »Türkenkriege und Reformation, die großen geografischen Entdeckungen, ›anni mirabiles‹ (Wunderjahre) von astrologischer und naturphänomenologischer Bedeutung – sie alle schienen Anzeichen des nahen Endes der Welt zu sein.«
In Erwartung des Weltuntergangs
Zahlreiche Klassiker der Apokalyptik fanden dank Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks weite Verbreitung. Albrecht Dürer (1471–1528) schuf seine weltberühmten Holzschnitte zur »heimlich offenbarung iohannis« (Apokalypse), und die Protestanten hatten im Gefolge Luthers längst im Papst den Antichristen erkannt. Die letzten Tage schienen angebrochen. In ihrer radikalsten Form manifestierte sich die Endzeiterwartung 1525 im Täuferreich von Münster. Doch glaubten damals nicht nur Sektierer, das Weltende stünde unmittelbar bevor, und nicht nur Christen fieberten ihr sehnsuchts- und sorgenvoll entgegen.
»Während die Christen das zweite Kommen ihres Messias, Jesus Christus, erwarteten, ersehnten gleichzeitig die Juden Europas nicht minder inbrünstig ihren Messias«, erläutert Voß. Die aus Spanien (1492) und Portugal (1497) vertriebenen sephardischen Juden, die sich zwischen der Taufe und dem Verlust ihrer iberischen Heimat hatten entscheiden müssen, hofften inständig, ihr neuerliches Exil möge ein Vorzeichen für das nahe Kommen des Messias sein. Aber auch unter aschkenasischen Juden war die Sehnsucht nach dem Messias groß. Reuvenis Erscheinen in Europa, sein selbstbewusstes Auftreten, seine Reden und seine angebliche Mission gaben Anlass zur Hoffnung, der Tag sei endlich gekommen.
Die Endzeiterwartungen der Juden und Christen würden einander zwar grundsätzlich ausschließen, so Voß, doch bestünden aufgrund der gemeinsamen biblischen Grundlage Berührungspunkte in den apokalyptischen Vorstellungen beider Seiten, schrieb die Expertin für Messianismus in ihrem Buch »Umstrittene Erlöser«. Prophezeiungen und Ideen der jeweils anderen Seite seien übernommen, adaptiert und in die eigene Konzeption vom Weltende integriert worden – so auch die Legende von den »roten Juden«. Im Lauf des 16. Jahrhunderts habe jedoch ein tiefgreifender Wandel in der christlichen Vorstellung stattgefunden. »Unter dem Eindruck der Türkengefahr entwickelten sich die ›roten Juden‹ von den Erzfeinden der Christenheit mehr und mehr zu den Verbündeten gegen die Ungläubigen und galten am Ende des Jahrhunderts sogar als Instrument Gottes zur Bestrafung der Osmanen«, so Voß. Reuvenis Auftauchen in Europa sei genau in die Zeit gefallen, in der dieser Wandel im christlichen Endzeitszenario seinen Anfang nahm.
Reuveni am Hof von Portugals König
So empfing denn auch Johann III., dessen Vater die Juden aus Portugal vertrieben hatte, den angeblichen Gesandten eines jüdischen Königs im Oktober 1525 an seinem Hof in Lissabon und sagte ihm sogar die gewünschte militärische Unterstützung zu. Allerdings erregte Reuveni bald schon das Missfallen des Monarchen. Schuld daran war der Aufruhr unter den »Conversos« genannten (zwangs)getauften Juden der Iberischen Halbinsel. »Das Erscheinen eines stolzen jüdischen Edelmanns, des Abgesandten der verlorenen Stämme, in einem Land, das seit 1497 keine Juden mehr in seinen Grenzen duldete, hatte sie in Aufregung versetzt«, erklärt Voß. Man warf Reuveni vor, er wolle die getauften Juden zu ihrem früheren Glauben zurückführen. Als dann ein junger Schreiber bei Hofe namens Diogo Pires, ein Kind von »Conversos« und damit Christ, sich selbst beschnitt und offen zum Judentum bekannte, war der Skandal perfekt. Reuveni bestritt zwar, etwas mit der Sache zu tun zu haben; dennoch zog der König die zugesagte Militärhilfe zurück und verwies den jüdischen Gesandten des Landes.
Über Spanien, wo er vorübergehend verhaftet wurde, weil Juden die Einreise verboten war, kehrte Reuveni nach Italien zurück. Damit endet auch sein Reisetagebuch, das er für die jüdischen Gemeinden Italiens verfasst hatte. Was danach geschah, findet sich in anderen Quellen. So wurde der angebliche Diplomat 1530 in Mantua beschuldigt, einen Brief seines Bruders gefälscht zu haben. Im selben Jahr tauchte er erneut in Venedig auf, wo er diesmal laut dem Geografen Giovan Battista Ramusio (1485–1557) von den Juden »wie ein Messias« empfangen wurde. Dort begegnete Reuveni auch dem einstigen portugiesischen Hofschreiber Diogo Pires wieder, der sich nun Salomon Molcho nannte.
Molcho, dem in Portugal wegen seines Übertritts zum Judentum der Feuertod gedroht hatte, war nach Thessaloniki im Osmanischen Reich geflohen. Dort war er zum Mystiker geworden, hatte die Kabbala studiert, für die Befreiung der Juden geworben und das baldige Erscheinen des Messias prophezeit. Nun beschlossen er und Reuveni, ihr Anliegen gemeinsam dem Kaiser vorzutragen, und machten sich auf den Weg nach Norden, um Karl V. (1500–1558) auf dem Reichstag in Regensburg gegenüberzutreten.
Dort erschienen sie im August 1532 an der Spitze zahlreicher Diener und Anhänger, die sich dem Zug spontan angeschlossen hatten. Molcho und Reuveni traten als Heerführer auf – bewaffnet mit Schild und Schwert, in erlesene Gewänder gehüllt und umweht von Standarten, die mit kriegerischen Versen in hebräischer Schrift bestickt waren. Die Flaggen, die sie als Zeichen der Stämme Israels mit sich führten, wollten sie auch in den bevorstehenden Krieg tragen.
»Mindestens Molcho erhielt tatsächlich eine Audienz beim Kaiser; ob Reuveni bei dem Gespräch anwesend war, ist jedoch nicht bekannt«, sagt Voß. Zwar sei Reuveni sehr wahrscheinlich der Initiator der Reise nach Regensburg gewesen, habe sich dort aber aus ungeklärten Gründen in die zweite Reihe zurückgezogen und die aktive Diplomatie Molcho überlassen. Dieser stellte dem Habsburger erwartungsgemäß die Unterstützung der Juden in seinem Krieg gegen die Osmanen in Aussicht. Der päpstliche Gesandte in Deutschland, Hieronymus Aleander (1480–1542), berichtete nach Rom, Molcho habe »große Versprechungen gegen die Türken« gemacht und gefordert, dass er »einer der Heerführer sein müsse«. Er könne den Sieg garantieren und werde den »Sultan töten oder gefangen nehmen«.
Der Kaiser urteilte über die jüdischen Gesandten
Ganze zwei Stunden lang habe der Kaiser seinen Ausführungen mit großem Interesse zugehört und viele Fragen gestellt, berichtete Molcho dem Gesandten Aleander anschließend persönlich (und dieser nach Rom). Das ist glaubhaft. Die Eröffnung einer zweiten Front gegen die Türken erschien dem Habsburger zu diesem Zeitpunkt sicher verlockend. Zwar waren die Osmanen 1529 vor Wien gescheitert, doch Budapest war noch immer weitgehend in ihrer Hand, und erst im Frühjahr 1532 war Sultan Süleyman I. (um 1495–1566) mit einer großen Streitmacht aus Istanbul gegen Ungarn und das Reich losmarschiert. Da war jede Unterstützung willkommen. »Karl war in erster Linie Realpolitiker und nicht sehr wählerisch bei seinen Bündnispartnern«, so Rebekka Voß.
Aus dem jüdisch-christlichen Feldzug gegen die Muslime wurde trotzdem nichts. Stattdessen ließ der Kaiser die beiden selbsternannten Heerführer bereits einen Tag nach der Audienz verhaften und nach Italien zurückschaffen. Dort landete Molcho noch im selben Jahr als Ketzer auf dem Scheiterhaufen. Reuveni blieb einige Jahre in Haft, zunächst in Mantua, später im spanischen Llerena, wo er schließlich wegen Missionierung für das Judentum angeklagt, verurteilt und ebenfalls bei lebendigem Leib verbrannt wurde.
Was den Meinungsumschwung beim Kaiser ausgelöst haben mag, der sich noch am Vortag Molchos Angebot der Waffenbruderschaft interessiert angehört hatte, ist unbekannt. Sicher ist aber, dass der türkische Vormarsch in Ungarn ins Stocken geraten war, weshalb der Sultan Ende August 1532 beschlossen hatte, mit seinem Heer nach Istanbul zurückzukehren. Möglicherweise folgerte Karl pragmatisch, er brauche die Juden nun nicht mehr. Geschätzt hatte er sie vermutlich sowieso nicht.
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