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Wasserkraft und Naturschutz: Dem »Blauen Herz Europas« droht der Infarkt

In Deutschland werden Jahr für Jahr viele Millionen Euro ausgegeben, um die Sünden der Vergangenheit an Flüssen wiedergutzumachen: Deiche werden geschleift, Staustufen entfernt, Uferabschnitte renaturiert. So sollen aus kanalisierten Funktionsgewässern wieder richtige, halbwegs natürliche Flüsse und Bäche werden. Auf dem Balkan passiert gerade genau das Gegenteil: Tausende Wasserkraftwerke bedrohen die natürlichen Flüsse zwischen Slowenien und Nordgriechenland. Der Verein »Riverwatch« kämpft für ihren Erhalt. Im Interview erzählt »Riverwatch«-Geschäftsführer Ulrich Eichelmann, welche Rolle die EU bei den Investitionen spielt und warum Wasserkraftwerke für ihn keine Lösung sind.
Wasserkraftwerk an der Drina

Spektrum.de: Herr Eichelmann, was macht die Balkanflüsse so besonders?

Ulrich Eichelmann: In der Region gibt es noch unglaublich viele Flüsse und Bäche, die völlig frei fließen können. Die Vjosa zum Beispiel. Das ist ein Fluss, der im Norden Griechenlands entspringt und 260 Kilometer später in Albanien in die Adria fließt. Im Unterlauf ist das Bett zum Teil zwei Kilometer breit. Die Vjosa kann mäandern, sich verzweigen, kleine Inseln und Schotterbänke bilden. Das ist der letzte große Wildfluss in Europa außerhalb Russlands. Oder die Neretva, ein kristallklarer Fluss in Bosnien-Herzegowina, der Heimat für die Weichmaulforelle und andere bedrohte Fischarten ist. Die Drina (Grenzfluss zwischen Bosnien und Serbien) oder die Moraca (Montenegro). 80 Prozent der Balkanflüsse sind noch weitgehend intakt oder in einem guten ökologischen Zustand. Das ist einmalig in Europa. In Österreich sind es nur rund 20 Prozent der Gewässer, in Deutschland sind laut Umweltministerium 90 Prozent der Gewässer in keinem guten Zustand. Weil auf dem Balkan so viele Flüsse intakt sind, gibt es eine besonders reiche Fischfauna: 113 bedrohte Fischarten leben dort. Mehr als irgendwo sonst in Europa. 69 Arten kommen nur auf dem Balkan vor.

Warum ist »Riverwatch« auf dem Balkan aktiv?

Die Flüsse auf dem Balkan sind ein Naturjuwel und noch dazu weitgehend unbekannt; sie sind von unschätzbarem Wert und sollten unbedingt geschützt werden. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. In der gesamten Region sind rund 3000 Wasserkraftwerke geplant oder im Bau, mehr als ein Drittel davon in hochrangigen Schutzgebieten wie Nationalparks oder Natura-2000-Gebieten. Einige hundert wurden in den vergangenen Jahren bereits gebaut. Und jeden Monat kommen neue hinzu. Wenn die Kraftwerke wie geplant umgesetzt werden, geht dieses einmalige Flusssystem verloren. Dann stirbt das Blaue Herz Europas. Das wollen wir unbedingt verhindern.

Die Vjosa | Der Fluss Vjosa mäandert in Albanien gen Mittelmeer.

Warum ist der Run auf die Balkanflüsse gerade jetzt so groß?

Wegen der Balkankriege hat es in den 1990er Jahren einen Investitionsstau gegeben. Jetzt sind alle Länder der Region EU-Beitrittskandidaten. Einerseits erleichtert das die Investitionen. Andererseits entsteht aber auch ein gewisser Zeitdruck. Sind die Balkanländer erst einmal in der EU, gelten strengere Regeln, zum Beispiel bei der Vergabe von Baugenehmigungen und bei der Einhaltung von Umweltstandards. Wer schnelles Geld verdienen will, muss also jetzt handeln.

Staaten wie Albanien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro zählen zu den ärmsten Ländern Europas. Woher kommt das Geld für die Investitionen?

Größere Projekte werden von großen Finanzunternehmen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), der Weltbank oder der Europäischen Investitionsbank (EIB) gefördert. Die geben zum Teil Geld für Projekte, die in Deutschland nicht förderfähig wären, etwa Kraftwerke in Schutzgebieten oder in Flüssen mit bedrohten Arten.

Und die kleinen Projekte?

Bei kleineren oder mittleren Anlagen gibt es eine Vielzahl von Investoren. Dazu gehören zum Beispiel die Stadt Wien oder die KELAG, ein österreichisches Unternehmen, an dem der Stromriese RWE beteiligt ist. Die Investoren gehen Joint Ventures mit Baufirmen aus der Region ein, gründen Subunternehmen mit neuem Namen. Am Ende ist nicht gleich zu sehen, dass Unternehmen aus der EU da in fragwürdige Projekte investieren. Die Kleinkraftwerke, meist Anlagen mit weniger als zehn Megawatt installierter Leistung, machen die größten Probleme. Mehr als 90 Prozent aller Wasserkraftprojekte auf dem Balkan fallen in diese Kategorie. Diese kleinen Kraftwerke werden über künstlich überhöhte Einspeisetarife gefördert. Das heißt, die Investoren bekommen einen Preis für die produzierte Kilowattstunde, der zwei- bis dreimal so hoch wie der eigentliche Marktpreis ist. Hier wird also ein künstlicher Anreiz geschaffen, die letzten intakten Flüsse Europas zu zerstören. Und wir Kunden zahlen dafür auch noch einen überhöhten Preis. Diese Subventionen für die Wasserkraft gehören abgeschafft, europaweit.

Warum sind Wasserkraftwerke so problematisch?

Ein Wasserkraftwerk ist mit der schlimmste Eingriff in die Natur. Es zerstört einen Bach oder Fluss komplett. Aus einem dynamischen, fließenden, sauerstoffreichen Gewässer wird ein stagnierendes, technisch gesteuertes System. Das ist, als ob in einem Körper die Blutgefäße abgedrückt werden. Allein schon der Bau ist ja ein starker Eingriff direkt am Fluss. Dann wird bei jedem Kraftwerk das Wasser in großem Umfang angestaut oder aus dem Bachbett abgeleitet. Dadurch ändert sich der Wasserhaushalt ganz extrem. Oft ist es so, dass unterhalb der Kraftwerke der Fluss nur noch ein kümmerliches Rinnsal ist. Für die Fische und alle anderen Lebewesen ist das verheerend. Untersuchungen von Forschern der Uni Graz kommen zu dem Schluss, dass elf Fischarten weltweit aussterben und 38 weitere an den Rand des Aussterbens gebracht würden, wenn die Wasserkraftwerke wie geplant gebaut werden. So viel zum Thema »Wasserkraft ist grün«!

Die Industrieländer verdanken ihren Wohlstand auch dem rücksichtslosen Umgang mit der Natur. Kann man da von anderen Ländern wirklich erwarten, für die Umwelt auf Wohlstand zu verzichten? Und ließe sich ein Teil der negativen Auswirkungen am Fluss nicht vielleicht durch Fischtreppen kompensieren?

Viele Fehler von damals würden wir heute aber nicht mehr machen: Wir haben Gesetze und Bürgerbeteiligung entwickelt, die sie verhindern oder minimieren sollen. Doch am Balkan ist es fast schlimmer als bei uns in den 1970er und 1980er Jahren: Da wird gebaut und zerstört, als hätte man nichts aus der Vergangenheit gelernt. Die meisten Wasserkraftwerke werden ohne Fischaufstiegshilfen gebaut. Aber selbst wenn nicht: Das bringt nichts, wenn die Fische wegen der geringen Restwassermengen noch nicht einmal in die Nähe des Kraftwerks kommen. Die meisten Fischtreppen sind außerdem völlig unbrauchbar. Ich habe viele Aufstiegshilfen gesehen, die wurden eigentlich für den Huchen (einen bis zu 1,8 Meter langen, lachsartigen Fisch) geplant, allerdings so klein gebaut, dass der Fisch dort nie im Leben durchpassen würde.

Aber könnten die Wasserkraftwerke nicht auch Wohlstand in die Regionen bringen?

Tun sie nicht. Gerade die vielen kleinen Anlagen sind prinzipiell schlecht. Die produzieren kaum Strom, zerstören jedoch selbst letzte intakte Bäche. In Deutschland gibt es 7700 gemeldete Wasserkraftwerke, die ins Netz einspeisen. Die 7300 kleinsten davon produzieren gerade einmal zehn Prozent des Wasserkraftstroms, zerstören jedoch an 7300 Stellen ein Fließgewässer. Das ist verrückt. Genauso ist es am Balkan. Für mehr Wohlstand sorgt nicht die Wasserkraft, sondern der Schutz der Gewässer, weil der sauberes Trinkwasser garantiert und zudem Einnahmen aus Ökotourismus. Das blaue Herz Europas wird immer attraktiver werden für Besucher aus anderen Ländern, die so etwas sehen wollen. Kein Wunder, dass die lokale Bevölkerung fast immer gegen die Projekte ist. Die Menschen gewinnen nichts, aber verlieren viel, wenn die Staudämme kommen.

Was meinen Sie damit?

Nur ein Beispiel: Oberhalb des Dorfs Bence in Albanien soll ein Wasserkraftwerk gebaut werden. Die Menschen in dem Dorf halten ein paar tausend Schafe und Ziegen, die sie zweimal täglich zum Trinken an den Fluss führen. Kommt das Kraftwerk, wird das Wasser umgeleitet, das heißt, das Flussbett ist leer. Schafe und Ziegen können am Fluss nicht mehr trinken, und die Dorfbewohner verlieren ihre Lebensgrundlage. Bisher haben die Flüsse allen gehört, und alle haben von ihnen profitiert. Wenn das Wasser nun für die Kraftwerke privatisiert wird, haben einige wenige den Profit und die große Masse geht leer aus. Kein Wunder, dass die Flussanrainer überall in der Region geschlossen gegen neue Wasserkraftwerke sind.

Sie sind Geschäftsführer von »Riverwatch«. Wie gehen Sie mit dem Verein gegen die Wasserkraftwerke vor?

Zusammen mit unseren Partnern vor Ort versuchen wir die betroffene Bevölkerung so gut es geht zu unterstützen. In dem kleinen Ort Kruscica in Bosnien zum Beispiel halten Frauen seit mehr als einem Jahr eine Brücke rund um die Uhr besetzt, um den Bau zweier Wasserkraftwerke zu verhindern. Anders als rechtlich vorgeschrieben gab es keine Anhörung vor Ort und auch keine Umweltverträglichkeitsprüfung. Das ist sehr häufig so. Dennoch sollten Fakten geschaffen und mit dem Bau einfach begonnen werden. Das haben die Frauen mit ihrer Blockade trotz einer versuchten Räumung durch die Polizei verhindern können. Unsere Berichterstattung und vor allem auch ein Film, den die Outdoor-Firma »Patagonia« über das »Blaue Herz Europas« sowie über den Widerstand gegen den Staudammwahn gedreht hat, verschaffen den Frauen mehr öffentliche Aufmerksamkeit und helfen so dabei, den illegalen Bau des Kraftwerks zu stoppen. Ein anderer ganz wichtiger Punkt: Wir gehen in den betroffenen Ländern gerichtlich gegen die Entscheidungen vor. Im Juni 2018 wurde eine Genehmigung für den Bau des Wasserkraftwerks in Kruscica von einem Gericht annulliert. Der Bau ist damit rechtlich nicht möglich. Trotzdem hat die Baufirma im August versucht, die Blockade auf der Brücke zu durchbrechen. Zum Glück wieder erfolglos.

Sind die rechtlichen Bestimmungen unzureichend, oder werden sie einfach bloß ignoriert?

Die rechtlichen Bestimmungen sind oft gar nicht mal schlecht. Allerdings werden die Auflagen häufig nur auf dem Papier befolgt. An der Vjosa plant die albanische Regierung gemeinsam mit einem türkischen Baukonzern einen großen Staudamm. Für die Genehmigung musste eine Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht werden und eine öffentliche Anhörung stattfinden. Die Anhörung fand eine Autostunde von der Region entfernt statt, ohne dass die betroffenen Anwohner darüber informiert wurden. Und die Umweltverträglichkeitsprüfung war zu großen Teilen einfach aus einem anderen Bericht in einem ganz anderen Projektgebiet eins zu eins kopiert worden. Wir haben gegen die Genehmigung des Staudamms geklagt und immerhin in erster Instanz Recht bekommen.

Welche Möglichkeiten hat die EU, auf die Beitrittskandidaten einzuwirken?

Möglichkeiten gibt es viele. Sie könnte zum Beispiel auf die Einhaltung der Wasserrahmenrichtlinie drängen. Die gilt für alle Mitgliedsstaaten, aber auch für die Beitrittskandidaten und legt unter anderem fest, dass sich der ökologische Zustand der Gewässer nicht verschlechtern darf. Doch Teile der EU haben kein allzu großes Interesse daran. Zum einen sind viele Unternehmen und Banken aus der Union involviert. Zum anderen ist es für die EU wichtig, nach all den negativen Meldungen rund um die EU wie Brexit und Flüchtlingsdebatten positive Meldungen zu produzieren. Und die EU-Erweiterung am Balkan soll so eine gute Nachricht sein. Wegen ein paar Wasserkraftwerken soll da keine schlechte Stimmung verbreitet werden.

Was sind die wichtigsten Schritte, um die geplanten Kraftwerke noch verhindern zu können?

Wir müssen die Geldströme stoppen, mehr Anwälte engagieren und weiterhin die Schönheit der Flüsse sowie den Wasserkraftwahn, der hier passieren soll, in die Welt hinausposaunen. Dazu gehört vor allem, dass die Subventionen für kleinere Anlagen gestoppt werden müssen. Wie schon erwähnt, rechnen sich die kleinen Anlagen nur deshalb, weil die Betreiber ihren Strom zu erhöhten Preisen ins Netz stellen können. Wenn wir die sinnlose Zerstörung der Flüsse stoppen wollen, muss diese Förderung unbedingt aufhören. 2020 werden die Subventionen für erneuerbare Energien neu verhandelt. Die Wasserkraftlobby in der EU ist zwar stark, aber unser konkretes Ziel ist es, dass die Förderung der Wasserkraft dann rausfällt.

Das Tal der Soca in Slowenien | Die Soca im slowenischen Nationalpark Triglav fließt weitgehend unberührt – und ist auch deswegen Magnet für Naturtouristen und Kanusportler.

Welche Alternativen können Sie den Ländern und den Menschen an den Flüssen bieten?

Es ist ja ein Irrsinn, dass Alternativen zur Wasserkraft gar nicht geprüft werden, obwohl alle Prognosen zum Klimawandel davon ausgehen, dass die Balkanflüsse in Zukunft viel weniger Wasser führen werden. Eine noch gar nicht geprüfte Alternative wäre Solarenergie. Albanien zum Beispiel mit rund 300 Sonnentagen hat dafür ein gewaltiges Potenzial. Ein weiterer ganz wichtiger Punkt ist der Naturtourismus. Wir sind überzeugt, dass ein Flussnationalpark entlang der Vjosa für Besucher aus aller Welt attraktiv wäre. Ein Vorbild könnte die Soca in Slowenien sein. Der naturbelassene Bergfluss zieht schon jetzt viele Kajakfahrer, Wanderer und Angler an. Und anders als bei den Wasserkraftwerken profitieren davon ganz direkt die Menschen, die am Fluss leben.

Glauben Sie wirklich, dass Sie viele Wasserkraftwerke verhindern können?

Da bin ich mir sicher. Wir werden zumindest alles versuchen.

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