Breakthrough Prize Mathematik: »Ohne Mathematik werde ich unausstehlich«

Das Langlands-Programm wird als das ehrgeizigste Projekt der Mathematik bezeichnet. Es umfasst zahlreiche Vermutungen, die der Mathematiker Robert Langlands bereits im Jahr 1967 äußerte. Demnach könnten verschiedene Bereiche der Mathematik, wie die Zahlentheorie und die Analysis, auf grundlegender Ebene miteinander verbunden sein. In den 1990er Jahren fiel ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Geometrie und Analysis auf: das geometrische Langlands-Programm war geboren. Un dieser konnte nun erstmals bewiesen werden. Im Frühjahr 2024 gelang Dennis Gaitsgory mit acht weiteren Kollegen der Geniestreich: Auf knapp 1000 Seiten legen sie dar, wie eine große Klasse an geometrischen Objekten mit Größen aus der Analysis zusammenhängt. Für diese herausragende Leistung wurde Gaitsgory nun mit dem Breakthrough Prize in Mathematik ausgezeichnet, der mit drei Millionen US-Dollar dotiert ist.
Sie arbeiten seit 30 Jahren am geometrischen Langlands-Programm. Wann war der Moment, als Ihnen klar wurde, dass Sie es tatsächlich beweisen können?
Dennis Gaitsgory: Es gab einen sehr entscheidenden Schritt bei einem offenen mathematischen Rätsel. Dieses hat ein ehemaliger Doktorand von mir, Sam Raskin, gemeinsam mit seinen Doktoranden im Winter 2022 geknackt. Sie bewiesen, dass eine bestimmte Größe nicht null sein kann. Danach war klar, dass wir in der Lage sein würden, einen Beweis zu erarbeiten.
Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt?
Ich habe diese Arbeit immer als eine Art langfristiges, vergnügliches Projekt betrachtet. Natürlich war ich froh, dass wir es geschafft haben, aber ich hatte keine überschwänglichen Emotionen. Es war kein Heureka-Moment.
Warum?
Die Vermutung, die wir bewiesen haben, ist ein Spezialfall von etwas viel, viel Größerem. Unser Beweis hat viel Aufmerksamkeit erhalten, weil er eine präzise ausformulierte Sache ist. Aber er ist nur ein Fortschritt. Ich bin glücklich, dass dieser Schritt getan ist, doch es gibt noch viel mehr zu tun.
Also knallten keine Champagnerkorken? Sie haben sich einfach hingesetzt und weitergearbeitet?
Es gab keinen Champagner, aber etwas Ähnliches. Als Sam sagte, dass er diesen entscheidenden Teil möglicherweise beweisen kann, schlossen wir eine Wette ab: Für den Fall, dass er es wirklich schafft, versprach ich ihm eine Flasche Scotch.
Der Beweis ist extrem lang, er umfasst knapp 1000 Seiten und ist auf fünf Arbeiten verteilt. Haben Sie es geschafft, einen Überblick über alles zu behalten?
Tatsächlich habe ich 95 Prozent davon geschrieben. Das lag daran, dass ich mir beim Skifahren eine Verletzung zugezogen hatte und eine Weile lang nur im Bett liegen konnte. Was sollte ich sonst tun? Ich habe mit meinem Sohn »Star Wars« geschaut und diese Arbeiten geschrieben.
Zur gleichen Zeit?
Anfangs waren sogar einige Abschnitte in unseren Papern nach »Star Wars«-Episoden benannt, am Ende haben wir die Bezeichnungen allerdings wieder entfernt – hauptsächlich wegen urheberrechtlichen Bedenken. Aber eine Arbeit enthält immer noch ein Zitat aus »Star Wars«: »Angst wird die lokalen Systeme in Schach halten.« Es passt wirklich gut, weil wir in diesem Teil den Modulraum der lokalen Systeme kontrollieren mussten.
Es ist eine Sache, etwas zu verstehen, und eine andere, alles im Detail auszuformulieren. Tauchten beim Schreiben der Paper Probleme auf?
Natürlich. Wir hatten zwar eine Roadmap, doch es gab immer noch viele Lücken zu füllen, viele Theorien zu entwickeln. Glücklicherweise gab es keinen Moment, in dem wirklich Panik aufkam. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob eine Sache 3, 20 oder 50 weitere Seiten erfordern würde. Die Unsicherheit bestand darin, abzuschätzen, wie viel Arbeit noch zu erledigen war.
»Es gibt einige Leute, die in eine Bar gehen, um dort zusammen Bier zu trinken – wir reden stattdessen über Mathematik. Manche unterhalten sich über Fußball, wir fachsimpeln über Beweise. Es ist ein und dasselbe; es ist menschliche Interaktion«
Und Sie haben das alles allein von Ihrem Bett aus gemacht?
Nein, eigentlich war es ein sehr kooperativer Prozess. Wir haben den Beweis zu neunt veröffentlicht: Ich habe jeden Tag mit dem ein oder anderen Kollegen kommuniziert. Sie alle haben unterschiedliche Perspektiven und ein leicht anderes Spezialgebiet.
In gewisser Weise war es, als ob ich im Bett lag und meine Kollegen mich besuchten, damit mir nicht langweilig wird. Es hielt mich wirklich bei Laune, dass ich mich mit ihnen per E-Mail austauschen konnte. Es gibt einige Leute, die in eine Bar gehen, um dort zusammen Bier zu trinken – wir reden stattdessen einfach über Mathematik. Manche unterhalten sich gerne über Fußball, wir fachsimpeln über Theoreme und Beweise. Es ist ein und dasselbe; es ist menschliche Interaktion.
Apropos menschliche Interaktion: Sprechen Sie mit Ihren Freunden und Ihrer Familie über Ihre Arbeit?
Nein. Sie sind keine Mathematiker. Sie können es nicht im Detail verstehen. Meine Frau war die ganze Zeit an meiner Seite und kennt daher die Geschichte und die Entwicklung des Themas. Sie weiß, wie diese Dinge von außen aussehen, aber ich kann den Inhalt nicht beschreiben.
Viele Leute würden sagen, dass das Langlands-Programm eines der komplexesten Forschungsthemen der Welt ist. Würden Sie dem zustimmen?
Die Frage ist: Was meinen Sie mit komplex? Ja, man kann nicht einfach daherkommen und das geometrische Langlands-Programm durcharbeiten. Aber dasselbe gilt für das, was andere Mathematiker wie beispielsweise Peter Scholze tun. Ich habe nicht den Hintergrund, um zu einem Vortrag von ihm zu gehen und zu verstehen, was er sagt, weil es zu viele technische Details gibt. Dasselbe gilt für mein Forschungsgebiet. Man muss einiges an Arbeit investieren, um die Inhalte nachzuvollziehen. Doch dann sollte man in der Lage sein, sie zu verstehen.
Aber das bedeutet nicht, dass das, was wir tun, von Natur aus komplexer ist als etwas anderes. Ich denke, jede Art von Spitzenforschung in der Mathematik ist gleichermaßen kompliziert. Wir alle versuchen, Grenzen zu verschieben – nur eben an verschiedenen Stellen.
Wie viele Menschen können die technischen Teile Ihrer Arbeit verstehen?
Inzwischen wächst die Gemeinschaft, weil Fachleute unseren Beweis untersuchen. Bis zum letzten Jahr allerdings gab es – abgesehen von meinen acht Koautoren – vielleicht fünf oder sechs Leute, die in der Lage waren, die technischen Details zu begreifen.
Wünschen Sie sich, dass sich mehr Menschen an dieser Art von Forschung beteiligen?
Ja, definitiv. Bisher waren wir eine sehr kleine Community: Im Grunde bestand sie nur aus ehemaligen Studenten von mir plus Dima Arinkin, der in meinem Alter ist – aber auch er ist kein Unbekannter. Er ist schon viele Jahre lang ein enger Freund und Kollege. Deshalb drehen sich einige Ideen im Kreis. Es wäre einfach schön, wenn sich außenstehende Menschen einbringen würden. Sie könnten etwas völlig Neues beitragen. Ich bin sehr gespannt auf neue Ideen.
Was könnte man tun, um mehr Menschen für dieses Thema zu begeistern?
Mehr Vorlesungen und Workshops zu diesem Thema anbieten. Wir veranstalten zum Beispiel im August eine Vorlesung in Kopenhagen. Und es wird eine Konferenz in Berkeley geben. Doch glücklicherweise erhält unsere Forschung jetzt mehr Aufmerksamkeit. Ich erhalte regelmäßig E-Mails, hauptsächlich von jüngeren Leuten.
Demnächst halte ich einen Vortrag vor einem großen Publikum von Doktoranden in Graz. Ich werde über die Grundlagen der derivierten algebraischen Geometrie sprechen. Die Doktoranden wollen diese Grundlagen lernen – und hoffentlich werden einige von ihnen das geometrische Langlands-Programm studieren. Aber sie brauchen die derivierte algebraische Geometrie, um es zu verstehen.
Sie hoffen also, das Interesse der jungen Studenten zu wecken, indem Sie ihnen derivierte algebraische Geometrie beibringen. Wie sind Sie ursprünglich mit dem Langlands-Programm in Kontakt gekommen?
Das war in den 1990er Jahren, als Sasha Beilinson zwei Vorträge in Tel Aviv hielt, wo ich Doktorand war. Beilinson stand damals ganz am Anfang seiner Forschung zu dem Thema. Und ich war völlig fasziniert. Ich hatte zuvor vom klassischen Langlands-Programm gehört, aber vor seinem Vortrag hatte ich keine Ahnung, dass es mit Geometrie in Verbindung gebracht werden könnte. Es war das erste Mal, dass ich davon hörte. Die Objekte, über die er sprach, fand ich extrem reizvoll. Und sie liefen alle wunderbar im geometrischen Langlands-Programm zusammen. Da wusste ich, dass ich daran arbeiten musste.
Ist es immer noch die gleiche Faszination, die Ihre Forschung jetzt antreibt?
Natürlich hat sich die Forschung seither weiterentwickelt. Außerdem ist eine Sache, wenn man 20 Jahre alt ist, eine andere, wenn man 50 ist. Ich weiß nicht genau, was mich jetzt antreibt. Es ist wie ein Art Verlangen, wie Appetit. Ich will Mathematik machen. Und wenn ich es nicht kann, wenn ich daran gehindert werde, mich mit Mathematik zu beschäftigen – wenn ich etwa eine Woche lang mit meinen Kindern im Familienurlaub bin –, dann leide ich.
»Der Mensch muss essen, und der Mensch muss Mathematik machen«
Wirklich? Nach einer Woche?
Eine Woche ist vielleicht noch okay. Aber nach zwei Wochen ohne Mathematik werde ich unausstehlich.
Nun, es ist wunderbar, eine solche Leidenschaft im Leben zu finden.
Es ist nicht wirklich Leidenschaft.
Vielleicht eher eine Art Sucht?
Ja, vielleicht. Es ist doch so: Der Mensch muss essen, und der Mensch muss Mathematik machen.
Woran arbeiten Sie jetzt? Sind Sie nach der Veröffentlichung des Beweises in ein Loch gefallen?
Ich versuche, unsere Arbeit zu verallgemeinern. Ich habe mehrere Projekte, die sich in verschiedenen Stadien befinden. Es gibt viel Theorie zu entwickeln, doch zumindest haben wir jetzt ein Ziel. Wir wissen, was wir wollen.
Haben Sie eine neue Roadmap?
Sagen wir, wir haben eine Roadmap von Wünschen – aber nicht eine Roadmap von Methoden wie die, die ich 2013 veröffentlicht habe. Damals wusste ich genau, was bewiesen werden muss. Jetzt weiß ich, was ich will, allerdings nicht, wie ich dorthin gelange.
Vielleicht bringen andere Forscher schon bald neue Ideen ein?
Das wäre sehr schön. Doch ich denke, in gewisser Weise ist es ein darwinistischer Prozess. Wenn ein Themenfeld spannend ist, dann zieht es Leute an, die sich damit beschäftigen. Falls unsere Forschung aber langweilig ist, dann haben wir eben Pech gehabt. Was davon beim geometrischen Langlands-Programm der Fall ist, wird sich mit der Zeit zeigen.
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