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Wahrnehmung: Gefangen in der Unwirklichkeit

Die Welt erscheint surreal, der eigene Körper fremd und wie ferngesteuert: Wer eine Depersonalisation und ­Derealisation erlebt, merkt, wie brüchig unser Ich-Empfinden ist.
Kreuzung in Berlin

Mit einem Schlag war Julian Liebigs* Welt wie ausgetauscht. Die Blumen im elterlichen Garten hatten ihre Farben verloren, die Bäume wirkten trostlos und zweidimensional. Die Welt schien ihm zu entgleiten. Am unheimlichsten jedoch war dieser Körper – sein Körper, der ihm plötzlich so fremd war. Der 19-Jährige sah zu, wie seine Füße ohne sein Zutun einen Schritt nach dem anderen gingen. Er fühlte sich wie in einem absurden Traum gefangen. Drei Jahre ist das nun her. Die Normalität ist nie wieder vollkommen zurückgekehrt. Doch inzwischen weiß er, dass sein Zustand einen Namen hat: Julian leidet an einer Depersonalisations-/Derealisationsstörung.

Betroffene fühlen sich wie ohnmächtige Beobachter ihres eigenen Lebens, wie in einem fremden Körper oder einer unwirklichen Welt. Obwohl das Krankheitsbild bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von den deutschen Ärzten Albert Zeller (1804–1877) und Wilhelm Griesinger (1817–1868) beschrieben wurde, führt es in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer ein Schattendasein. In der Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 gilt das so genannte Depersonalisations-/Derealisationssyndrom als selten – doch das dürfe unter anderem daran liegen, dass es in der Praxis häufig verkannt wird. Tatsächlich ergeben Studien übereinstimmend, dass in den westlichen Ländern zwischen einem und zwei Prozent der Bevölkerung die Kriterien dieser psychischen Störung erfüllen. Das sind ebenso viele Menschen, wie an einer Schizophrenie leiden.

Aber auch viele Gesunde kennen das Gefühl der Depersonalisation. Als vorübergehende Empfindung ist es keineswegs ungewöhnlich und tritt typischerweise unter Stress oder großer Angst auf, mitunter auch bei Erschöpfung und Müdigkeit. Schwerwiegender als in diesen Fällen sind solche Zustände hingegen, wenn sie sich als Begleitsymptom einer psychischen Störung zeigen, etwa einer Angststörung oder Depression. Auch einige körperliche Krankheiten können Gefühle der Entfremdung hervorrufen, zum Beispiel Migräne oder Schwindelerkrankungen. Von einer Depersonalisations-/Derealisationsstörung (im Folgenden Depersonalisationsstörung genannt) spricht man jedoch erst dann, wenn die andauernden oder wiederkehrenden Erfahrungen als sehr belastend erlebt werden und im Vordergrund der Symptomatik stehen.

Die Störung kann, so wie bei Julian Liebig, urplötzlich auftreten oder sich im Lauf der Zeit aus zunächst kürzeren Episoden entwickeln. Meist beginnt sie schon im Jugendalter. Auch für die Eltern stellt die Erkrankung eine immense Belastung dar. Mit Schaudern erinnert sich Julians Mutter Anette daran, wie ihr Sohn ihr eines Tages anvertraute: »Ich bin tot, Mama, ich habe keine Seele.« Noch immer muss sie schlucken, wenn sie davon erzählt: »Was macht man, wenn das eigene Kind einem so etwas sagt? Das war kein gewöhnliches jugendliches Stimmungstief. Das war gespenstisch!«

Das unheimliche Phänomen könnte jedoch durchaus einen biologischen Zweck haben, glaubt Mauricio Sierra-Siegert von der Universität Colegiatura Colombiana in Medellín in Kolumbien. Der Psychiater gilt als einer der führenden Experten für diese psychische Störung und entwickelte zusammen mit German Berrios von der University of Cambridge den derzeit am häufigsten verwendeten Fragebogen zu ihrer Diagnose, die Cambridge Depersonalisation Scale.

Der Körper agiert wie per Autopilot. Das beobachtende Ich spaltet sich vom handelnden Ich ab

Sierra-Siegert betrachtet die Störung als eine Reaktion des Körpers auf bedrohliche Situationen. »An sich scheint das ein nützlicher Mechanismus zu sein, der allerdings nur für eine kurze Dauer angelegt ist«, erklärt er. »Einige Menschen bleiben aber in diesem Zustand hängen.« Anhaltspunkte für den Nutzen der Entfremdung fanden Russell Noyes und Roy Kletti von der University of Iowa schon 1977 bei einer Befragung von 101 Personen, die lebensbedrohliche Situationen wie einen schweren Unfall überlebt hatten. 73 Teilnehmer gaben an, alles sei ihnen surreal vorgekommen. Wer mit dem sicheren Tod gerechnet hatte, empfand das Ereignis sogar noch häufiger als unwirklich. Zudem berichteten 73 Befragte, ihr Zeitempfinden sei verändert gewesen. Die meisten erlebten die Situation wie in Zeitlupe. Ein Teilnehmer erzählt: »Meine Gedanken wurden schneller. Die Zeit schien sich auszudehnen. … Ich sah (mein Sterben) wie auf einem Fernsehbildschirm … Und während dies alles passierte, fühlte ich mich ganz ruhig und losgelöst.« Fast zwei Dritteln schien es, als agiere ihr Körper ohne ihr Zutun, und mehr als die Hälfte empfand im Moment der Gefahr keinerlei Emotionen.

Ein sinnvolles Notfallprogramm

In extrem bedrohlichen Situationen stellt die Depersonalisation offenbar eine effektive Rettungsmaßnahme dar, die in dem Moment störende Emotionen wie Angst oder Panik ausschaltet. Stattdessen agiert der Körper wie per Autopilot gesteuert. Das beobachtende Ich spaltet sich vom handelnden Ich ab, wobei wir uns mit dem beobachtenden Ich identifizieren. Offenbar integriert das Gehirn die beiden Teile in solchen Momenten nicht mehr.

Doch nicht immer scheint so eine Reaktion auf Gefahren sinnvoll. Beim Anblick eines gefährlichen Tiers nützte unseren Vorfahren eher die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Dabei schießen Adrenalin und andere Hormone in die Blutbahn und bereiten den Menschen auf körperliche Höchstleistungen vor. Bei einer länger andauernden und diffusen Bedrohung, etwa in Gefangenschaft, kann sich die Depersonalisation jedoch als nützlich erweisen. Denn sie setzt lähmende Angstgefühle außer Kraft, die rationales und zielgerichtetes Handeln erschweren, und erhöht gleichzeitig die Wachsamkeit. So könnte der Zustand etwa dabei helfen, den richtigen Moment zur Flucht zu erkennen und sich aus einer Gefangenschaft zu befreien.

Die Annahme, dass Menschen, die die Realität wie durch einen Schleier wahrnehmen, wachsamer als Gesunde sein könnten, erscheint auf den ersten Blick paradox, insbesondere da viele Betroffene über Konzentrationsprobleme klagen. Doch diese Theorie wird unter anderem durch Ergebnisse von Julia Adler und ihren Kollegen von der Universität Mainz aus dem Jahr 2014 gestützt. Patienten mit Depersonalisationsstörung fiel es im Vergleich zu Gesunden deutlich schwerer, unerwünschte visuelle Reize auszublenden. Bei einer unspezifischen Bedrohung erweist sich diese erhöhte Wachsamkeit als Vorteil, weil so unerwartete Gefahren schneller erkannt werden. In unserem heutigen Alltag führt sie jedoch zu Konzentrationsschwierigkeiten. Außerdem richtet sie sich (wenn tatsächliche äußere Bedrohungen fehlen) oft auf die eigenen Symptome und bewirkt bei vielen eine um die Störung kreisende Selbstbeobachtung.

Daphne Simeon und ihre Kollegen von der School of Medicine at Mount Sinai in New York befragten Menschen mit einer Depersonalisationsstörung und Gesunde, um mehr über die Hintergründe der Erkrankung herauszufinden. Dabei zeigte sich: Wer in seiner Kindheit eine emotionale Misshandlung durch die Eltern erlebt hatte, etwa herablassendes Verhalten, ständige Einschüchterungen oder Beleidigungen, entwickelte deutlich häufiger Symptome der Entfremdung. Die Wissenschaftler vermuten, dass diese Erfahrungen Gefühle von Ohnmacht und einer latenten Bedrohung auslösen, welche die Entstehung von Depersonalisationsstörungen begünstigen. Sexueller Missbrauch oder körperliche Gewalt scheinen hingegen eher zu anderen Dissoziationsstörungen (wie beispielsweise einer dissoziativen Amnesie) und sonstigen psychischen Erkrankungen zu führen.

Entscheidend ist laut Sierra-Siegert das Gefühl, in einer belastenden Lebenssituation keine Kontrolle zu haben. »Wenn dieses Gefühl des Ausgeliefertseins einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, dann setzt die Depersonalisation ein«, erklärt der Wissenschaftler. Wie hoch die Schwelle liege, sei von Person zu Person verschieden. Die Erforschung der Depersonalisation förderte auch ein merkwürdiges Muster zu Tage: Offenbar kommen Entfremdungszustände in den westlichen Ländern deutlich häufiger vor als im Rest der Welt. Um dieser Beobachtung auf den Grund zu gehen, verglichen Sierra-Siegert und sein Team 50 Studien zum Thema Panikattacken aus 21 Ländern im Zeitraum von 1983 bis 2006. Diese psychische Erkrankung wurde im Gegensatz zur Depersonalisationsstörung bereits in sehr vielen Ländern systematisch untersucht, wobei üblicherweise auch Gefühle der Entfremdung abgefragt werden.

Die Londoner Wissenschaftler fanden heraus: Je individualistischer die Kultur eines Landes, desto eher zeigen Patienten mit einer Panikstörung auch Symptome der Entfremdung. In stark individualistisch geprägten Ländern wie zum Beispiel in den USA sehen sich die Menschen vor allem als einzigartige und unabhängige Persönlichkeiten, wohingegen jene in kollektivistischen Kulturen sich selbst eher über die sozialen Gruppen definieren, denen sie angehören. Westliche Gesellschaften sind in der Regel stark individualistisch geprägt. Ein besonderer Fall ist jedoch Deutschland, da in der DDR das Kollektiv eine große Rolle spielte. Und in der Tat stellte eine Forschergruppe um Matthias Michal von der Universität Mainz 2009 fest, dass in den alten Bundesländern 2,3 Prozent der mehr als 1000 Befragten die Kriterien einer Depersonalisationsstörung erfüllen, jedoch nur 0,4 Prozent in den neuen Bundesländern.

Weshalb Menschen in individualistischen Gesellschaften häufiger unter einer Depersonalisationsstörung leiden, ist noch unklar. Sierra-Siegert vermutet: Wer in einer solchen Gesellschaft aufwächst, habe mehr Angst vor Kontrollverlust. Denn wer sich als Einzelkämpfer und seines eigenen Glückes Schmied betrachte, fühle sich eher in seinem Selbst bedroht, wenn er die Dinge nicht mehr in der Hand hat.

So fühlen sich Depersonalisation und Derealisation an

  • Im Zentrum der Depersonalisation steht ein Gefühl des Losgelöstseins oder Fremdseins gegenüber dem eigenen Körper, den eigenen Empfindungen (»Ich weiß, dass ich Gefühle habe, aber ich spüre sie nicht«), Gedanken (»Meine Gedanken fühlen sich nicht an wie meine eigenen«), Handlungen und Wahrnehmungen. Die Betroffenen haben die Empfindung, nicht mehr im eigenen Körper zu stecken und nicht Herr ihrer eigenen Handlungen zu sein. Dies drücken sie üblicherweise mit Metaphern aus wie »Ich schaue meinem Leben zu, als ob ich einen Film sehe«. Selbst Sinneseindrücke wie Schmerzen empfinden viele Betroffene lediglich so, »als wären sie die Schmerzen eines anderen«. Ein Teil der Patienten berichtet zusätzlich von so genannten außerkörperlichen Erfahrungen. Dabei haben die Betroffenen das Gefühl, sich außerhalb ihres Körpers aufzuhalten und sich von außen zu betrachten.
  • Die Welt erscheint schal, unwirklich und fremd. Typische Beschreibungen dieser so genannten Derealisation sind »Ich fühle mich wie in einem Traum, alles um mich herum ist surreal« oder »Über den Dingen liegt ein dichter Schleier, ich kann ihn nicht durchdringen«.
  • Die Betroffenen fühlen sich apathisch, selbst wenn sie oftmals nach außen normale emotionale Reaktionen zeigen, zum Beispiel: »Lachen oder weinen sind für mich bloß noch Reflexe meines Körpers, so wie ein Schluckauf. Ich empfinde nichts dabei.«
  • Ereignisse um sich herum nehmen die Patienten wie in Zeitlupe oder im Zeitraffer wahr. Auch ihr Erinnerungsvermögen ist beeinträchtigt: Was gerade erst passiert ist, wirkt schon so fern, als ob es Jahre her wäre. An persönliche Ereignisse aus ihrem Leben erinnern sie sich, als wären sie selbst gar nicht dabei gewesen.
  • Bei all diesen Symptomen handelt es sich jedoch nicht um Wahnvorstellungen, da den Betroffenen die Absurdität ihrer Wahrnehmung bewusst ist.

Unberührt von unangenehmen Eindrücken

Was während einer Depersonalisation im Körper vor sich geht, verstehen Wissenschaftler dank bildgebender Verfahren schon besser. Emotionale Reize bewirken bei Menschen in der Regel messbare Veränderungen der Herzfrequenz und des Hautwiderstands. Wie Forscher vom King's College London herausfanden, reagieren Patienten mit Depersonalisationsstörung physiologisch im Allgemeinen deutlich schwächer, wenn sie verstörende Bilder betrachten. Unangenehme Eindrücke lassen sie also weitgehend kalt. Allerdings sprachen Betroffene unter bestimmten Versuchsanordnungen auch auffallend stark oder ungewöhnlich auf unangenehme Reize an, was auf eine Fehlregulation unter Stress hinweist.

Vermutlich sind bei den Betroffenen zwei entgegengesetzte Mechanismen am Werk: Ihr vegetatives Nervensystem antwortet besonders sensibel und heftig auf beunruhigende emotionale Reize – sie neigen daher zu starker Angst und Panik. An diesem Punkt greift die Depersonalisation ein und dämpft die Emotionen ab. Auffällig ist bei den Patienten außerdem die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und messbarer Körperreaktion. Selbst wenn sie Reaktionen wie Herzklopfen oder Angstschweiß zeigten, gaben sie dennoch meist zu Protokoll, kaum etwas zu empfinden. Offenbar gelingt es ihnen nicht, die damit verknüpften Gefühle wahrzunehmen.

Ebenso haben Wissenschaftler seit der Jahrtausendwende mehrere Besonderheiten in der Hirnaktivität der Patienten entdeckt. Typischerweise ist bei ihnen der präfrontale Kortex überaktiv und dort vor allem Bereiche, die für die Kontrolle von Emotionen zuständig sind, zum Beispiel das Brodmann-Areal 47. Bei Gesunden regt sich diese Region etwa dann, wenn sie versuchen, ihre Gefühle beim Anblick unangenehmer Bilder zu unterdrücken. Das geschieht, indem der präfrontale Kortex hemmende Signale an die Emotionszentren des Gehirns schickt, allen voran an die vordere Inselrinde und die Amygdala, die Teil des limbischen Systems ist. Beide Hirnregionen spielen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen.

Die Hemmung der Emotionszentren erklärt aber nicht nur das betäubte Gefühlsleben der Patienten, sondern auch die empfundene Unwirklichkeit. Denn Wirklichkeit bedeutet für uns vor allem: Gefühle. Durch sie beziehen wir uns auf die Welt; sie dienen uns als Leitsystem dafür, was gut und was schlecht für uns ist, noch bevor wir eine Situation analysieren können.

Dass rationales und emotionales Erkennen voneinander unabhängig sind, beweisen etwa Patienten mit dem Capgras-Syndrom. Bei dieser seltenen Störung sind die Betroffenen davon überzeugt, ihre Angehörigen seien von Doppelgängern ersetzt worden. Sie erkennen ihre Liebsten zwar, gleichzeitig bleibt jedoch das vertraute Gefühl aus, welches sich normalerweise beim Anblick eines nahestehenden Menschen einstellt.

Ohne Emotionen wirken persönliche Erinnerungen wie eine irgendwann einmal gehörte Geschichte

Bei einer Depersonalisationsstörung rührt die empfundene Unwirklichkeit auch daher, dass die emotionale Färbung der Welt abhandengekommen ist. Dies beschrieb schon 1880 der deutsche Psychiater Friedrich Schaefer (1850–1932): »Es war das Unbehagen, von nichts in der Umgebung innerlich berührt zu werden, zwar alles zu sehen und zu hören, aber bei keiner Vorstellung ein Gefühl von der inneren Bewegung, von der sinnlichen Wärme zu haben, welche sie (die Patienten) aus der Erinnerung an ihr gesundes Leben kannten.« Hierin unterscheidet sich die Depersonalisation von Wahnvorstellungen, die den Betroffenen gerade deshalb so real vorkommen, weil sie üblicherweise mit heftigen Emotionen verbunden sind. Daher ist es fatal, wenn Ärzte eine Depersonalisationsstörung fälschlich als beginnende Schizophrenie diagnostizieren und Antipsychotika verschreiben. Denn diese verschlimmern die Symptome häufig noch.

Was für die Wahrnehmung der Außenwelt gilt, trifft übrigens auch auf persönliche Erinnerungen zu: Ohne den Lebenshauch der Emotionen wirken sie bloß wie eine blasse, irgendwann einmal gehörte Geschichte. Somit lassen sich wohl auch die Erinnerungsprobleme der Betroffenen auf die Übererregung des präfrontalen Kortex sowie die verminderte Aktivität im limbischen System und der Inselrinde zurückführen.

Beim Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper scheint hingegen ein zweiter neuronaler Schaltkreis relevant zu sein, der vor allem Regionen im Scheitellappen umfasst, unter anderem den Gyrus angularis. Er spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob wir uns als Urheber einer Handlung empfinden oder nicht. Bei gesunden Personen ist er insbesondere dann aktiv, wenn sie das Gefühl haben, eine bestimmte Tätigkeit nicht absichtsvoll durchgeführt oder nicht ganz unter Kontrolle zu haben. Offenbar signalisiert der Gyrus angularis ein Gefühl des Befremdens, wenn etwas anders abläuft als geplant. Bei Betroffenen mit einer Depersonalisationsstörung ist er übermäßig aktiv. Das könnte erklären, warum sie sich selbst oft als Automaten oder Roboter erleben.

Sich selbst von außen sehen

Eine weitere Hirnregion, die für das Empfinden der eigenen Körperlichkeit eine Rolle spielt, befindet sich am Übergang zwischen Scheitel- und Temporallappen. Bei gesunden Probanden führt deren Stimulation zu so genannten außerkörperlichen Erfahrungen, das heißt, sie haben das Gefühl, sich außerhalb ihres eigenen Körpers zu befinden und sich selbst von außen zu betrachten. Inwiefern diese Region eine Rolle bei der Depersonalisation spielt, versuchen Forscher derzeit zu ergründen. Denn je besser sie die psychische Störung verstehen, desto eher können Ärzte und Therapeuten den Betroffenen helfen.

Bisher existiert nämlich noch keine etablierte spezifische Therapie. Dennoch schätzt Sierra-Siegert, dass die derzeitigen Behandlungsansätze die Beschwerden bei mehr als der Hälfte der Patienten deutlich lindern. Sie richten sich zum einen auf die psychischen Ursachen der Depersonalisation und zum anderen auf die aus dem Gleichgewicht geratenen Hirnprozesse. Da am Ursprung der Depersonalisationsstörung häufig die Angst vor Kontrollverlust steht, ist es oft hilfreich, belastende Erfahrungen psychotherapeutisch aufzuarbeiten und das Selbstwertgefühl der Betroffenen zu stärken. Dies macht sie weniger anfällig für Depersonalisationszustände.

In einer kognitiven Verhaltenstherapie lernen die Patienten, jene Verhaltensmuster zu durchbrechen, welche die Erkrankung aufrechterhalten oder gar verschlimmern. Zunächst erfahren sie Wissenswertes über ihre Erkrankung und mögliche Ursachen. Vielen fällt ein Stein vom Herzen, wenn sie erfahren, dass ihr Zustand gar nicht so ungewöhnlich und kein Grund zur Besorgnis ist.

Wie ein Forscherteam um Elaine Hunter vom King's College London 2014 herausfand, neigen Menschen mit Depersonalisationsstörung dazu, verschiedene körperliche Reaktionen zu katastrophisieren und ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Nach möglichen Ursachen für Symptome wie Herzklopfen, ein Gefühl der Entfremdung, Hunger oder Verwirrung gefragt, gaben sie zumeist dramatische Deutungen an (»Ich werde verrückt«), während eine gesunde Kontrollgruppe zu normalisierenden Erklärungsversuchen neigte (»Ich bin erschöpft«). Auf diese Weise geraten viele in einen Teufelskreis: Sie werten ihren Zustand als Zeichen einer schlimmen Krankheit, fühlen sich dadurch hilflos und geraten in Panik, wodurch sich die Depersonalisation wiederum verschlimmert.

Dieser Angstspirale zu entkommen, ist das Ziel der Therapie. Dafür trainieren die Patienten, sich ihren Ängsten zu stellen. Zusätzlich können regelmäßige Achtsamkeitsübungen dabei helfen, sich wieder im eigenen Körper und in der Wirklichkeit zu fühlen.

Ergänzend zur Psychotherapie können Medikamente dazu beitragen, die veränderte Hirnaktivität zu normalisieren. Das ist allerdings kein einfaches Unterfangen, da ganz unterschiedliche Neurotransmitter bei der ungewöhnlichen Aktivierung und Hemmung beteiligt zu sein scheinen. Viele Patienten erhalten beispielsweise Antiepileptika wie Lamotrigin, die das Glutamatsystem beeinflussen. Doch die Studienlage ist widersprüchlich. Am effektivsten scheinen diese Mittel in Kombination mit Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zu wirken. Antidepressiva allein hingegen mildern nur in wenigen Fällen die Symptome, können diese aber erträglicher machen, indem sie den allgemeinen Leidensdruck reduzieren. Auch das Opioidsystem ist wohl an der Entstehung der Depersonalisation beteiligt.

Die Nachwirkung von »Horrortrips«

Viele bewusstseinsverändernde Substanzen erzeugen Zustände der Depersonalisation. In den meisten Fällen empfinden die Betroffenen das als angenehm, fühlen sich »losgelöst«. Bei einigen Menschen lösen Drogen wie Marihuana, Ecstasy, Halluzinogene oder Ketamin jedoch eine anhaltende Depersonalisationsstörung aus. Bisher haben Wissenschaftler noch keinen biologischen Mechanismus gefunden, der das erklären könnte, denn normalerweise baut der Körper diese Substanzen innerhalb weniger Stunden ab.

Da sich die Störung meist nach einem als beängstigend erlebten »Horrortrip« entwickelt, sind die Auslöser vermutlich Gefühle von Panik und Hilflosigkeit. Ähnlich wie bei einem Flashback kehrt die beunruhigende Empfindung von Unwirklichkeit immer wieder zurück, was die Ängste weiter verstärkt.

Den Teufelskreis durchbrechen – mit Strom

Dies stützt die Annahme, dass Depersonalisationszustände uns vor Bedrohungen schützen. Opioide schüttet der Körper nämlich vor allem bei starkem Stress aus, um Schmerzen zu dämpfen. Erste Studien mit Opiatantagonisten, die also die Wirkung körpereigener Opioide blockieren, lieferten positive Ergebnisse. Aber hier ist noch weitere Forschung nötig. Auch angstlösende Mittel wie Benzodiazepine erweisen sich als hilfreich, da die Depersonalisation in vielen Fällen mit intensiven Angstgefühlen einhergeht. Diese Wirkstoffe eignen sich aber nur als vorübergehende Maßnahme, da sie bei längerer Einnahme zu Abhängigkeit führen können. Leider ist der Behandlungserfolg der unterschiedlichen Medikamentengruppen von Mensch zu Mensch verschieden und daher nicht vorherzusagen. Was für den einen ein Segen ist, kann beim Nächsten nahezu wirkungslos sein.

Ähnlich verhält es sich mit der transkraniellen Magnetstimulation (TMS). Bei diesem Verfahren werden starke Magnetfelder mit Hilfe einer Spule gezielt auf die betroffenen Gehirnregionen gerichtet, um diese entweder zu hemmen oder zu stimulieren. Forscher um Antonio Mantovani von der Columbia University in New York testeten dieses Verfahren 2011 an zwölf Depersonalisationspatienten, indem sie die Spule an den Übergang vom Schläfen- zum Scheitellappen hielten, der vor allem für die Entfremdung vom eigenen Körper eine Rolle spielt. Bei der Hälfte der Probanden reduzierte sich die Symptomatik dadurch deutlich. Londoner Wissenschaftler nahmen in einer 2016 veröffentlichten Studie eine andere Hirnregion ins Visier: Eine transkranielle Magnetstimulation des präfrontalen Kortex reduzierte bei sechs von sieben Patienten die Symptome. Trotz dieser ersten positiven Befunde gibt es aber bislang kaum Kliniken, die TMS bei Depersonalisationszuständen einsetzen.

Sich selbst als fremd und die Welt als unwirklich zu erleben, ist für viele Betroffene eine einschneidende und erschütternde Erfahrung. Selbst wer sich nur vorübergehend in diesem Zustand befindet, bleibt oft verunsichert zurück. So liegt es nahe, dass derartige Erfahrungen auch in Kunst und Literatur Eingang fanden. Besonders deutlich zeigt sich dies in den literarischen Werken des Existenzialismus. Der chronische »Ekel«, welcher den Protagonisten aus Jean-Paul Sartres gleichnamigem Roman befällt, ähnelt in vielem den Symptomen der Depersonalisation.

Dabei ist es kein Wunder, dass das Phänomen Sartre als Ausgangspunkt philosophischer Überlegungen dient – berührt doch die Depersonalisation grundlegende Fragen des menschlichen Seins und Bewusstseins. Offenbar sind wir keineswegs die einheitliche Person, als die wir uns normalerweise wahrnehmen. Ein komplexes und sensibles Zusammenspiel verschiedener Hirnfunktionen ist nötig, damit wir uns selbst überhaupt in unserem eigenen Körper empfinden und von der Welt um uns herum berührt werden.

Menschen mit einer Depersonalisationsstörung machen deutlich, wie brüchig unser Ich ist und wie leicht uns das, was wir Wirklichkeit nennen, verloren gehen kann. Julian Liebig hat inzwischen erste Schritte zurück in ein normales Leben unternommen. Er erhält Medikamente und eine Verhaltenstherapie. Doch auch ihn hat die Krankheit nachdenklich gestimmt: »Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich eine verbotene Tür geöffnet und eine bittere Wahrheit gesehen, die ich nun nicht mehr ungesehen machen kann.«

* Name von der Redaktion geändert

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  • Quellen

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