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Therapieresistente Depression: Warum Antidepressiva oft nicht helfen

Individuelle genetische Voraussetzungen, der genaue Typ der Depression und das Umfeld beeinflussen, wie jemand auf ein Medikament anspricht. Eine maßgeschneiderte, personalisierte Psychiatrie muss diese Faktoren künftig von Anfang an berücksichtigen.
Eine Person sitzt mit gesenktem Kopf im Hintergrund, während im Vordergrund ein umgekippter Pillenbehälter mit verstreuten Tabletten zu sehen ist. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Nachdenklichkeit oder Besorgnis.
Verschiedenste Medikamente werden bei Depressionen eingesetzt, neben Psychotherapie und anderen Methoden. Welche Therapie bei welchem Menschen am besten wirkt, könnten künftig Biomarker schon vor Behandlungsbeginn verraten.

Die Zahlen sind ernüchternd. Mehr als die Hälfte der Menschen mit Depressionen profitiert nicht oder kaum von der Erstbehandlung mit einem herkömmlichen Antidepressivum. Etwa ein Drittel erreicht nicht einmal nach mehreren Versuchen mit verschiedenen Wirkstoffen eine ausreichende Linderung und leidet damit an einer therapieresistenten Depression. Sie wird in der Regel definiert durch unzureichendes Ansprechen auf mindestens zwei Antidepressiva bei angemessener Dosierung, Anwendung und Dauer. Aber warum holen die Psychopharmaka den einen zügig aus dem tiefen schwarzen Loch, während sie beim anderen praktisch gar nicht anschlagen?

Das Prinzip Versuch und Irrtum

Wenn Psychiater Psychopharmaka verschreiben, folgen sie mehr oder weniger dem Prinzip Versuch und Irrtum. Zu Beginn muss der Behandelnde weitgehend spekulieren, welches Medikament für seinen Patienten am geeignetsten ist. Bessert das erste Präparat die Stimmung, hat aber zu starke Nebenwirkungen, reduziert der Arzt die Dosis oder setzt es wieder ab. Wird es gut vertragen, wirkt aber nicht wie gewünscht, erhöht er die Dosis meist schrittweise. Hilft auch das nicht, stellt er auf einen anderen Wirkstoff um oder kombiniert mit anderen Medikamenten. Dieser mühsame Prozess des Ausprobierens kann sich über viele Monate hinziehen.

»Wir wissen nicht genau, warum Menschen unterschiedlich gut auf Antidepressiva ansprechen«Gerhard Gründer, Psychiater

Was die Erfolge der medikamentösen Depressionsbehandlung betrifft, äußern sich inzwischen viele Fachleute zurückhaltend. »Oft wirken die bisherigen Antidepressiva mehr schlecht als recht«, sagt der Psychiater Gerhard Gründer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. »Wir wissen nicht genau, warum Menschen unterschiedlich gut auf Antidepressiva ansprechen.« Das liegt daran, dass man die verschiedenen möglichen Ursachen und die individuellen Entstehungswege der Erkrankung nicht gut genug kennt.

Die Serotoninhypothese ist zu simpel

Die Depression ist eine extrem heterogene Störung, sowohl biologisch als auch klinisch, bestätigt der New Yorker Psychiater Conor Liston. Laut dem amerikanischen psychiatrischen Diagnosehandbuch DSM-5 müssen für eine schwere Depression mindestens fünf von neun möglichen Symptomen über mindestens zwei Wochen vorhanden sein, darunter zwingend depressive Stimmung und/oder Interessenverlust. Andere wichtige Anzeichen sind ein geringes Selbstwertgefühl und Hoffnungslosigkeit. Damit ergeben sich in der Summe theoretisch bis zu 256 mögliche Symptomkonstellationen.

»In der Summe ergeben sich theoretisch bis zu 256 mögliche Symptomkonstellationen«

Aber selbst bei übereinstimmenden klinischen Merkmalen kann man nicht von identischen Ursachen ausgehen. Die Bilanz jahrzehntelanger Forschung ist letztlich zu mager, was das Verständnis der psychischen Störung betrifft: Bis heute weiß man weder genau wie Depressionen im Gehirn entstehen noch wie Antidepressiva ihre Wirkung erzielen. Lange Zeit sahen Neurobiologen den Schuldigen in einem Mangel an Serotonin. Im Gehirn stehe zu wenig von dem »Glückshormon« zur Verfügung. Das erscheint nachvollziehbar, denn viele Antidepressiva – so genannte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer – erhöhen nachweislich die Serotoninmenge im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen und steigern somit mutmaßlich dessen Wirkung.

Pharmafirmen, psychiatrische Lehrbücher und Patientenbroschüren behaupten bis heute, ein Ausgleich des Serotoninmangels begründe bereits die antidepressive Wirkung einschlägiger Medikamente. Doch vieles passt nicht ins Bild. So nimmt etwa die Konzentration des Botenstoffs im synaptischen Spalt bereits kurz nach der Einnahme der ersten Tablette zu. Bis sich der eisige Griff um die Seele lockert, dauert es dagegen meist mindestens drei bis vier Wochen. Die Serotonintheorie ist offensichtlich zu simpel.

Ist mangelnde Hirnplastizität die Ursache?

Andere Antidepressiva beeinflussen zusätzlich die Signalübertragung per Noradrenalin oder Dopamin. Die direkte Wirkung auf die Botenstoffe ist unstrittig. Aber letztlich weiß man nicht genau, welche Reaktionen im Gehirn die Einnahme sonst noch auslöst. Durch die neue Neurotransmittersituation kommt es mit der Zeit wahrscheinlich zu diversen Anpassungen an den Rezeptoren und allen beteiligten neuronalen Netzwerken. Das würde erklären, warum die Wirkung erst nach einigen Wochen eintritt.

Dass eine Depression im Gehirn eine einzige biologische Ursache hat, schließen die meisten Fachleute mittlerweile aus. Laut einem neueren Erklärungsmodell entsteht sie eher durch eine gestörte neuronale Plastizität, sprich: durch eine schlechte Anpassungsfähigkeit des Gehirns. Tatsächlich können chronischer Stress und Depressionen mit einem gravierenden Verlust an Synapsen im präfrontalen Kortex und im Hippocampus einhergehen. Antidepressiva dagegen erhöhten bei Tieren und auch Menschen nachweislich die Synapsendichte im Hippocampus und in anderen Regionen der Großhirnrinde. Sie scheinen die Neuroplastizität also wieder auf Trab zu bringen. Das könnte Betroffenen helfen, sich von schädlichen Denkmustern (»Bei mir geht sowieso immer alles schief«) zu distanzieren oder nicht immer nur traurige Erlebnisse zu rekapitulieren, sondern auch positive Erinnerungen.

Fieberhafte Suche nach Biomarkern

Forscher haben in den Jahrzehnten immer wieder versucht, objektive Biomarker für voneinander abgrenzbare Formen der Depression zu finden. Gelänge es verschiedene Untertypen der Erkrankung zu definieren, könnte man schneller die am besten geeignete antidepressive Therapie auswählen. Die Psychiaterin Leanne Williams von der Stanford University School of Medicine hielt zu diesem Zweck nach besonderen Merkmalen der Hirnaktivität Ausschau. Ihr Team verglich in einer 2024 in »Nature Medicine« veröffentlichten Studie die fMRT-Daten von rund 800 Personen mit Depressionen und Angststörungen. Mal sollten diese in der Röhre einfach nur die Gedanken schweifen lassen, mal mussten sie Aufgaben lösen, etwa bei einer Reihe von Porträtbildern den jeweiligen Gesichtsausdruck einer bestimmten Emotion zuordnen.

Williams Team konzentrierte sich bei der Auswertung auf sechs verschiedene Hirnschaltkreise, die bei der Emotionsverarbeitung, kognitiven Kontrolle oder Steuerung der Aufmerksamkeit beansprucht werden. Alle diese Funktionen können unter einer Depression leiden. Mit Hilfe eines maschinellen Lernverfahrens gruppierten die Forscher die Hirnbilder und identifizierten so sechs verschiedene Biotypen der Depression.

Ein knappes Drittel der Probanden hatte nach dem Zufallsprinzip eines von drei häufig verwendeten Antidepressiva oder an einer Verhaltenstherapie teilgenommen. Es zeigte sich: Patienten, die laut Hirnscan eine Überaktivität in kognitiven Regionen des Gehirns aufwiesen, sprachen besser als andere Biotypen auf den Wirkstoff Venlafaxin an. Anders sah es bei Patienten mit einer schon im geistigen Ruhemodus übermäßig vernetzten Aktivität diverser Hirnnetzwerke aus. Bei ihnen linderte eher eine Verhaltenstherapie die Symptome.

Der Traum von der personalisierten Psychiatrie

In einer weiteren 2024 publizierten Studie nahm sich Leanne Williams eine Unterform der Depression genauer vor – den kognitiven Subtyp. Bei ihm arbeiten bestimmte Bereiche im Gehirn nicht richtig, die für Konzentration, Planung und geistige Kontrolle zuständig sind. Betroffen sind Teile des präfrontalen und des zingulären Kortex. Kognitive Beeinträchtigungen im Zuge einer Depression bessern sich unter Antidepressiva oft nicht so stark wie erhofft. Dazu passend ergab die aktuelle Studie, dass Personen mit dem kognitiven Subtyp auch schlechter auf die gängigsten Antidepressiva ansprechen. Bei knapp zwei Dritteln der Patienten konnten die Forscher den Therapieerfolg korrekt vorhersagen. Ohne vorherige Typisierung mit Hilfe der Hirnbildgebungsdaten gelang das nur bei 36 Prozent.

»Personen mit dem kognitiven Subtyp sprechen schlechter auf die gängigsten Antidepressiva an«

Eine auf den jeweiligen Depressionsuntertyp maßgeschneiderte Therapie wäre ein Riesenfortschritt. Denn wüsste man vorher, welche Behandlung bei einem Patienten am besten anschlägt, würde das frustrierende Versuch-und-Irrtum-Vorgehen bei der Wahl von Antidepressiva der Vergangenheit angehören. Damit der Traum von einer solchen personalisierten Psychiatrie wahr wird, suchen etliche Forschungsteams auch auf der Genebene nach Markern, die den Erfolg der ein oder anderen Therapie vorhersagen. Die Idee liegt nahe, denn die Erblichkeit von Depressionen beträgt je nach Studie zwischen 20 und 50 Prozent. Das heißt, in diesem Umfang lassen sich die Unterschiede im Auftreten einer Depression zwischen verschiedenen Menschen einer Stichprobe auf das Erbgut zurückführen. Der Rest, also 50 bis 80 Prozent gingen somit auf das Konto von Umweltfaktoren – Traumatisierung, besondere soziale Umstände, zusätzliche Erkrankungen und vieles mehr.

Die Glutamathypothese

Die Genetik der Depression zu verstehen, erscheint allerdings als eine fast unlösbare Herausforderung. Denn die Erkrankung hängt offenbar von tausenden genetischen Varianten ab, und deren Ausprägung wird wiederum durch die Umwelt und andere Faktoren beeinflusst. »Mittlerweile kennen wir mehrere hundert Risikogene für Depressionen«, erläutert Gerhard Gründer, der Mannheimer Psychiater. Jedes von ihnen erhöhe die Erkrankungsgefahr aber nur ein winziges bisschen. So gibt es bislang auch keine bestätigten genetischen Biomarker für eine therapieresistente Depression. Allerdings hat sich für einige Gene wiederholt ein Zusammenhang damit ergeben.

Das gilt etwa für bestimmte Varianten von GRIK4, das den Bauplan für einen Glutamatrezeptor liefert. Glutamat ist der wichtigste erregende Neurotransmitter im zentralen Nervensystem und eine gestörte Balance im Glutamatstoffwechsel wird seit einigen Jahren mit Depressionen in Verbindung gebracht. Der inzwischen bei therapieresistenten Depressionen öfter eingesetzte Wirkstoff Ketamin greift hier an. Auch Genvarianten für einen bestimmten Serotoninrezeptor scheinen mit dem Nichtansprechen auf gängige Antidepressiva verbunden zu sein.

Auf die Leber kommt es an

»Außerdem kennen wir genetische Einflüsse auf die Verstoffwechslung von Antidepressiva«, erklärt Gründer. Die meisten Antidepressiva werden überwiegend in der Leber enzymatisch umgewandelt. Das Gen CYP2C19 beispielsweise liefert ein daran beteiligtes Enzym. Je nach genetischer Variante arbeitet es schneller oder langsamer. Der individuelle Leberstoffwechsel beeinflusst laut Gründer bedeutend das Ansprechen auf die medikamentöse Therapie.

Tatsächlich unterscheiden sich bei verschiedenen Patienten deshalb trotz gleicher Dosierung die Antidepressivakonzentrationen im Blut zum Teil erheblich. Bei Menschen, die den Wirkstoff extrem schnell wieder abbauen (so genannte ultra-rapid metabolizer) bleibt der gewünschte Effekt womöglich aus. Betroffene mit einer langsamen Verstoffwechslung dagegen reagieren zwar stark auf das Medikament, kämpfen allerdings auch häufiger mit Nebenwirkungen wie Schwindel und Übelkeit, was womöglich zum Abbruch der Einnahme führt. Die Bestimmung der CYP2C19-Variante könnte somit schon vor Medikamenteneinnahme dabei helfen, ein für den einzelnen Patienten geeignetes Präparat auszusuchen und die Zieldosis abzuschätzen. Den genetischen Test gibt es seit rund 20 Jahren. Er kostet zwischen 80 und 200 Euro, wird aber bislang nicht routinemäßig eingesetzt.

Entzündung als Auslöser

Insgesamt sind die Ansätze einer personalisierten Psychiatrie leider nach wie vor eher dürftig. Gleichzeitig offenbart sich die Depression als ein zunehmend komplexes Phänomen. Mittlerweile geht man beispielsweise davon aus, dass zu einem vollständigen Bild auch abnorme Entzündungsprozesse gehören. Forscher haben dabei unter anderem die Zytokine im Visier: Botenstoffe des Immunsystems, die gezielt Informationen zwischen Immunzellen übermitteln.

Einen möglichen Zusammenhang untersuchte ein Team um den mittlerweile emeritierten Psychiater John Kelsoe von der University of California in San Diego in einer Metaanalyse von 2019. Patienten mit von Anfang an niedrigeren Spiegeln des Zytokins Interleukin-8 sprachen besser auf eine antidepressive Behandlung an. Bei ihnen ist das Gehirn vermutlich weniger durch Entzündungen belastet, daher können Antidepressiva ihre Wirkung besser entfalten. Außerdem zeigte sich: Die Behandlung mit Antidepressiva führte nur bei Betroffenen, die auf die Therapie ansprachen, zu einer signifikanten Senkung eines weiteren Zytokins, den Tumornekrosefaktor-alpha. Eine Messung der Spiegel einzelner Zytokine könnte laut Kelsoe somit helfen, Personen zu identifizieren, die auf eine alleinige Therapie mit den üblichen Antidepressiva voraussichtlich nicht so gut ansprechen werden.

Verringerte Neurogenese

Entzündungen machen dem Gehirn auf gleich zwei Wegen zu schaffen. Zum einen hemmen Zytokine die Neurotransmitterproduktion, zum anderen können sie auch direkt die Neuroplastizität verringern. So legen Studien nahe, dass Entzündungen die Produktion des Wachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotrophic factor) schon auf Genebene blockieren. BDNF wirkt aber gewissermaßen im Gehirn wie ein Dünger, der das Wachstum und Überleben von Nervenzellen und Synapsen fördert. Ohne ihn nimmt die neuronale Anpassungsfähigkeit stark ab. Generell ist der Spiegel bei depressiv Erkrankten häufiger erniedrigt. Zwar erholt er sich im Zuge einer Therapie mit den üblichen Antidepressiva oft, aber starke oder chronische Entzündungen könnten das verhindern.

»Bei einem Teil der Patienten mit Depression könnten milde, chronische Entzündungsprozesse im Körper eine Rolle als auslösender Faktor spielen«Gerhard Gründer, Psychiater

»Bei einem Teil der Patienten mit Depression könnten milde, chronische Entzündungsprozesse im Körper eine Rolle als auslösender Faktor spielen«, berichtet Gerhard Gründer. »Solche Prozesse wirken sich auch auf das Gehirn aus und damit auf die Psyche.« Bei dieser Untergruppe könnte die Gabe einiger antientzündlicher Medikamenten also möglicherweise antidepressiv wirken. Doch die Zusammenhänge sind komplex und die Ergebnisse zum Teil widersprüchlich. Auch Gründer dämpft zu hohe Erwartungen: »Wir kennen keinen Entzündungsmarker, der uns sagen kann, ob im Einzelfall ein Patient auf eine solche Therapie ansprechen wird.«

Umwelt beeinflusst die medikamentöse Therapie

Für Gründer birgt vor allem der Blick auf Umweltfaktoren noch Potenzial bei der Pharmakotherapie. Es macht nämlich einen großen Unterschied, unter welchen Umständen man medikamentös behandelt. In Versuchen mit Mäusen zeigte sich beispielsweise: In positiv stimulierender Umgebung entfaltete ein Antidepressivum gute Wirkung. In Alleinhaltung oder unter anderen Bedingungen, die die Tiere stressten, blieb der Effekt aus beziehungsweise verschlimmerte das Präparat die depressiven Symptome der Mäuse sogar.

Spielraum | In einem abwechslungsreichen Gehege und zusammen mit Artgenossen fühlen sich Mäuse wohler. Auch Antidepressiva wirken in dieser Umgebung gut – anders als wenn die Tiere allein gehalten werden.

Das hängt offenbar mit der Fähigkeit von Antidepressiva zusammen, die Anpassung des Gehirns an Veränderungen in der Umwelt zu fördern. Bereits 2011 untersuchte eine Gruppe um die Biologin Nina Karpova von der Universität Helsinki die Emotionsregulation an erwachsenen Mäusen. Zunächst lernten die Tiere, einen neutralen Ton mit einem Stromschlag zu verknüpfen. Bald erstarrten sie selbst dann, wenn lediglich das akustische Signal erklang. Anschließend versuchten die Forscher dieses Verhalten wieder zu löschen, indem sie weiterhin den Ton abspielten, aber keine Schocks verabreichten. Dadurch nahm das Angstverhalten bei den Nagern zwar zunächst ab, kehrte später aber spontan zurück. Erhielten die Mäuse während der Löschungsphase dagegen das Antidepressivum Fluoxetin, blieben die Rückfälle aus. Eine Fluoxetingabe ohne Löschtraining zeigte wiederum keine Wirkung. Das Antidepressivum wirkte also offenbar lediglich verstärkend auf das Training: Die Tiere lernten besser, dass der Ton nicht länger Schmerzen bedeutete.

Am Ende kommt es auf die Umwelt an

Die Bedeutung der Umwelt lässt sich auch beim Menschen belegen. »Aus einer amerikanischen Studie wissen wir, dass die Therapie mit einem Antidepressivum die Effekte von psychosozialen Faktoren verstärkt«, sagt Gerhard Gründer. »Das bedeutet, sie wirken wahrscheinlich besonders gut unter günstigen psychosozialen Bedingungen.« Davon geht man in der Therapieforschung eigentlich schon seit Jahrzehnten aus: Personen mit höherem Einkommen und stabilen sozialen Beziehungen haben bei einer Depression bessere Heilungschancen als arbeitslose, arme und einsame Menschen. Antidepressiva scheinen solche Umwelteffekte zu intensivieren. Der Psychiater hat daher mitunter Bedenken, wenn jemand während eines stationären Aufenthalts auf eine hohe Dosis eines Antidepressivums eingestellt wird: »Wenn man den Patienten danach in sein von Armut geprägtes und sozial isoliertes Leben entlässt, dann hat er möglicherweise sogar schlechtere Bedingungen, als wenn man ihn nicht medikamentös behandelt.« Die Rückkehr in den Alltag bedeutet für ihn die gesicherte Versorgung, stützende Routinen und eventuell auch Bindungen aufzugeben. Die plastizitätsfördernden Eigenschaften der Medikamente sorgen dann womöglich dafür, dass sich diese negativen Reize besonders einprägen.

Der Psychiater plädiert daher dafür, auch das Umfeld von Patienten zu verbessern, die aus der Klinik entlassen werden. Darum bemühen sich die Sozialdienste in der psychiatrischen Behandlung zwar schon seit Langem. Aber oft gelingt es eben nicht, und die gebliebenen Belastungen führen schnell zu einem Rückfall. »Wir müssten beispielsweise dafür sorgen, dass Menschen eine Arbeit bekommen, damit sie aus der Armut herauskommen, und dass sie stabile Beziehungen aufbauen«, erklärt Gründer. Eine enorme Aufgabe, die sich nicht von heute auf morgen lösen lässt. Es gibt also sehr viele verschiedene Gründe dafür, warum ein Antidepressivum nicht allen hilft, und manche Ursachen sind schwerer zu bekämpfen als andere. Doch je besser es künftig gelingt, die vielfältigen Faktoren von Anfang an zu berücksichtigen und die Therapie individuell maßzuschneidern, desto mehr Erkrankte können auf eine schnelle Heilung hoffen.

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  • Quellen

Spangemacher, M. et al.: Der Nervenarzt, 10.1007/s00115–024–01786–32025, 2025

Tozzi, L. et al.: Nature medicine 10.1038/s41591–024–03057–9, 2024

Williams, L. M. et al.: Personalized medicine in psychiatry 10.1016/j.pmip.2024.100126, 2024

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