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Klimawandel in der Arktis: Der Eisbär wird zum Eierdieb

Nirgends müssen Tiere sich so schnell an den Klimawandel anpassen wie in der Arktis. Auf Spitzbergen bringt die Wärme uralte Anpassungen durcheinander. Es gibt aber auch Gewinner.
Diese Rentiere fressen nicht etwa das Moos, sondern den herumliegenden Kot der Gänse.

Zwei Warnschüsse am frühen Morgen. Ort: das internationale Forscherdorf Ny Ålesund auf Spitzbergen – auf fast 79 Grad nördlicher Breite die nördlichste Siedlung der Welt. Die meisten Polarforscher schlafen noch, als Mitarbeiter der norwegischen Forschungsstation eine ihnen wohlbekannte Eisbärenmutter mit ihren zwei Jungen durch den Lärm vertreiben. Man will die Tiere möglichst nicht stören, aber sie sehen Menschen manchmal als Futter an und können lebensgefährlich werden. Auch sonst friedliebende Wissenschaftler müssen daher den Umgang mit der Waffe lernen. Sonst dürften sie die Siedlung nicht allein verlassen, wenn sie zu Fuß oder mit dem Boot in die raue Natur eintauchen.

Die sommerliche Mitternachtssonne erhellt täglich 24 Stunden lang das Panorama von Gletschern und Eisbergen, Lebensraum von Eisbären, Walen, Rentieren und Zugvögeln. Ein baumloser Ort, der idyllischer nicht sein könnte und gleichzeitig drastisch den Klimawandel vorführt. Denn hier geht alles flotter: Die Arktis erwärmt sich im Schnitt doppelt so rasch wie die Erde insgesamt. In dem Archipel Svalbard, dessen Hauptinsel Spitzbergen ist, erfolgt die Erwärmung sogar dreimal so schnell. So lag die Jahresdurchschnittstemperatur in der Hauptstadt Longyearbyen vor wenigen Jahrzehnten bei etwa minus sechs Grad. Doch seit 1971 verzeichnet man dort und auch in allen anderen Landstrichen Svalbards einen mittleren Temperaturanstieg um drei bis fünf Grad, je nach Ort. Die Haupterwärmung beobachtet man im Winter, stellenweise bis zu acht Grad wärmer ist dieser geworden – oder das, was von ihm noch übrig ist.

Neben den Ursachen für solch eine extreme Erwärmung interessiert sich die Wissenschaft für die Auswirkungen auf die einzelnen Tierarten – nahezu jede ökologische Forschung hängt dort irgendwie mit dem Klimawandel zusammen. Das gilt besonders für die Studien des Ökologen und Ornithologen Maarten Loonen von der Universität Groningen. Seit über 30 Jahren fährt er fast jeden Sommer an diesen entlegenen Ort.

Bären in ungewohnter Mission

Der niederländische Professor bekleidet mehrere Ämter wie den Vorsitz des Internationalen Komitees NYSMAC, das seit den 1990er Jahren Forschungsprojekte in Ny Ålesund berät und mitkoordiniert. Er staunt immer wieder aufs Neue, was sich in der arktischen Welt ändert. Vor 30 Jahren konnte Loonen in Ny Ålesund noch hören, wie die Eisbrocken der Gletscher in einigen Kilometer Entfernung abbrachen und ins Meer plumpsten. Doch mittlerweile sind die Gletscher um mehrere Kilometer zurückgegangen, so dass es nun still ist. Mal abgesehen vom Vogelgezwitscher.

In Holzschuhen sitzt er abends vor der orangefarbenen Holzhütte und blickt durch sein Teleskop auf watschelnde Gänse. Ein Schild deklariert die grüne Tundra hinter den »holländischen« Häusern am Rand des arktischen Dorfs zum Schutzgebiet für brütende Vögel, Unbefugten ist das Betreten verboten.

Nur eine junge Vogelforscherin wagt sich mit Notizblock gewappnet durch das abendliche Gänsegeschnatter, wird aber plötzlich von einer kreischenden Küstenseeschwalbe frontal attackiert. Solche Erfahrungen macht jeder in Ny Ålesund, der sich ihrem Bodennest in der Brutzeit zu sehr nähert. Mit Sturzflügen auf den Eindringling verteidigt diese Schwalbe ihr Revier und jagt so manchen Nichtornithologen einen gehörigen Schrecken ein.

Nonnengans-Küken grasen nahe Ny Ålesund

Loonen hingegen, der die verschiedenen Migrationswege der Küstenseeschwalbe mit Hilfe an sie angehefteter Minicomputer verfolgte und weiß, wie sie sich an den Windsystemen orientieren, lobt sie nur: »Sie sind eine wunderbare Art, Weltmeister im Vogelzug.« Er schwärmt, man solle nicht vergessen, dass sie jedes Jahr von der Antarktis zur Arktis fliegen, je nach herrschendem Wind entlang Südamerikas oder Afrikas Küste. »Hier paaren sie sich, und die Männchen füttern die Weibchen mit Fisch, damit sie ihre Eier bebrüten können.«

Die Gans im Klimawandel

Loonen beugt sich zu seinem Fernrohr und liest weiter Nummern an grünen Gänsefußringen ab, schreibt kryptische Codes in sein Heftchen. Dafür muss er das Brutgebiet nicht betreten, das keine zwei Fußballfelder entfernt ist. Er notiert nur, welche Gänse ihre Nester ohne Küken verlassen haben und nun hier sind. Der Eisbär habe viele Nester geraubt, erklärt er. »Der Bär frisst mehr und mehr Eier. Eigentlich hat das überhaupt erst in den letzten vier Jahren angefangen.«

Das schwindende Eis erschwert es den Eisbären, weit genug aufs Meer hinauszukommen, um Robben zu jagen. »Letztes Jahr war das Eis 300 Kilometer entfernt vom Land, und natürlich haben die Eisbären keine Satellitenaufnahmen – sie wissen nicht, wo sie stattdessen hingehen könnten.« Angesichts dieser aktuellen Bedrohung ihrer traditionellen Jagdgründe mag es überraschen, dass die Anzahl an Eisbären in Svalbard trotzdem wächst. Das liegt daran, dass sich die Bestände erholen, seit vor wenigen Jahrzehnten verboten wurde, sie zu jagen. Andererseits sucht der Eisbär, das arktische Symbol des Klimawandels schlechthin, dort alternative Nahrungsquellen.

Kurz zuvor war Loonen mit seinen Studenten auf der nahe gelegenen Prinz-Heinrich-Insel, dort hatte ein Eisbär ein Drittel aller Gänsenester aufgefressen. Diese Vögel, die zum Brüten extra in den Norden gezogen sind, haben jedes Jahr immer nur eine Chance auf Nachwuchs. Zwar werden die Gänse 18 Jahre alt und haben daher insgesamt viele Möglichkeiten auf Jungvögel. Doch der Bestand der Nonnengänse hat sich hier seit dem Jahr 2000 um ein Drittel reduziert, und der Ornithologe stellt fest: »Die Gans ist vom Klimawandel insoweit bedroht, als dass sich der Eisbär ihr Zuhause jetzt zu eigen macht«. Denn das Betreten-Verboten-Schild in Ny Ålesund kümmert den Eisbären nicht, und ebenso wenig hält es den Polarfuchs ab.

Die arktischen Füchse könnte man als Gewinner des Klimawandels sehen: Infolge milderer Winter bekommen sie im Sommer mehr Jungen, die sich auch an den Vogeleiern satt essen. Jetzt hätten die Polarfüchse hier um die zehn Nachkommen, das sei viel mehr als früher, erläutert Loonen.

Gute Zeiten für Füchse

Svalbards Winter haben sich in den letzten Jahren um einige Wochen verkürzt. Daran hat sich der Fuchs äußerlich zwar noch nicht angepasst: Der Wechsel von seinem tarnenden weißen Winterfell zum braunen Sommerfell hinkt dem Sommer hinterher. Aber das bekümmert den Polarfuchs wohl kaum, denn die milden Winter bringen ihm dafür viel zusätzliches Futter.

Der kürzere Winter könnte eigentlich auch dem arktischen Rentier gefallen, aber gerade diese Grasfresser leiden darunter, dass im Winter immer öfter Regen fällt und am Boden gefriert. So entsteht Eis, und den gefrorenen Boden können die Rentiere nicht wie eine Schneedecke aufbrechen. Bleibt es im Frühjahr zu lange kalt, gelangen sie nicht an ihr gewohntes Futter. Hunderte arktische Rentiere verhungerten dieses Jahr auf Svalbard, gab der Norwegische Polardienst bekannt.

Für den Polarfuchs hingegen sind tote Rentiere gut, denn er ist in den kalten Monaten auf das Aas angewiesen, da es auf Spitzbergen weder Mäuse noch Lemminge gibt. In den Sommermonaten schlemmt der Polarfuchs dann Vogeleier und Küken.

Die Vögel passen sich unterschiedlich gut an die klimatischen Veränderungen an. So gehe es den Dreizehenmöwen laut Loonen gut, denn sie nutzen für ihre Jungvögel neue Fischarten, die mit den warmen Meeresströmungen gen Norden migrieren. Andere Meeresvögel hingegen finden kaum noch Nahrung, wie die Lummen, die sich auf bestimmte schwindende Fischarten spezialisiert haben.

Die Nonnengänse erfreuen sich im Sommer wiederum der klimabedingt größeren Grasmenge, denn bei höheren Temperaturen und verregneten Sommern wird Spitzbergen grüner. Das stellt zumindest Loonen fest, der in einem anderen Projekt wortwörtlich dem Gras beim Wachsen zusieht. Am Grün der Tundra laben sich auch die arktischen Rentiere und fressen zudem den energiereichen Gänsekot wie einen »Energieriegel«: »Die Vegetation ist so gering hier, da ist ein Gramm Gänsekot wie vier Gramm frisches Pflanzenmaterial – den frisst das Rentier schneller, als dass es pflücken kann«, erläutert Loonen.

Unerwartete Anpassung

Alle Lebewesen im ökologischen System der Arktis hängen voneinander ab und reagieren aufeinander so wie auf die klimatischen Veränderungen – manchmal sogar unerwartet. So musste Maarten Loonen auch schon eigene Thesen revidieren: »Zehn Jahre lang habe ich gesagt, dass Gänse nicht wissen können, dass sie jetzt früher vom Süden herkommen könnten.« Woran sollte die aus Schottland via Norwegen einfliegende Gans auch erkennen, dass sich Svalbard so viel schneller erwärmt?

Es war womöglich nur ein Zufall, vielleicht besonders warmen Verhältnissen in Nordeuropa geschuldet, doch eines Jahres kamen die Gänse erstaunlicherweise eine Woche früher als gewöhnlich. Und seither tun sie das immer. Es gehöre schließlich zur Erfolgsstrategie der Gänse, das Verhalten ihrer Eltern zu kopieren. »Jetzt ist meine Geschichte, dass sich die Gänse sehr wohl anpassen können.«

Den optimalen Zeitpunkt zu finden, um zum Brüten in den hohen Norden zu fliegen, stellt die Gänse aber vor eine schwierige Wahl: Der frühe Vogel bekommt das beste Gras. Der Polarfuchs holt sich außerdem die zuletzt geschlüpften Küken, das heißt, die Überlebenschance von Jungvögeln steigt für früh ankommende Eltern. Sind die Eltern in spe aber zu früh, treffen sie noch auf Schnee und Eis. Die Gänse können dann nicht zurückfliegen und müssen ihr körpereigenes Fett zum Überleben nützen. Das könnten sie für eine Woche bis zehn Tage, aber dann hätten sie keine Energie mehr für die Eier, bemerkt Loonen.

In den 1990er Jahren konnten Ornithologen noch Modelle kalkulieren, wie sich Vögel verhalten. »Früher, als die Situation stabiler war, trafen die Gänse immer die optimale Entscheidung. Aber jetzt ist die Situation nicht mehr stabil. Das Klima ändert sich so schnell – ich weiß noch nicht, was die Konsequenz ist.«

Die Reise nach Ny Ålesund, Svalbard, wurde der Autorin ermöglicht durch ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und N-Ost im Rahmen des Cross-Border-Journalisten-Programms »Reporters in the Field«.

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