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Jean-Pierre Blanchard: Der erste Showstar der Luftfahrt

Blanchards Ehrgeiz, Mut und Mundwerk waren riesig. Kaum hatte man den Heißluftballon erfunden, saß er auch schon in der Gondel - und machte sich zum ersten Showstar der Luftfahrt.
Der 14. Flug Jean-Pierre Blanchards, Lille, 26. August 1785

Anfang Februar 1808: Die Schau im Park des Château du Bois in der Nähe von Den Haag nähert sich ihrem Höhepunkt. Unter dem Jubel der Menschenmassen klettert der kleine Mann in die Gondel seines Ballons. Unter ihrem Jubel hebt er ab. Halb Europa und die Neue Welt haben ihn schon fliegen sehen. Kaiser und Könige, die Größen seiner Zeit. Doch dieses Mal kann der 55-jährige Franzose ihre Aufmerksamkeit nicht genießen. Es geht ihm nicht gut. Ein seltsames Taubheitsgefühl verspürt er in den Händen.

Er beschließt, es zu ignorieren. Er weiß, wie schnell die Masse ihre Lieblinge vergisst. Auch nach 60 Aufstiegen vor großem Publikum.

Heute, 210 Jahre nach seinem Tod, kann kaum noch jemand etwas mit seinem Namen anfangen: Jean-Pierre Blanchard. Der erste Mensch, der den Ärmelkanal in der Luft überquerte – und der es wie kein Zweiter verstand, die Luftfahrtbegeisterung des frühen 19. Jahrhunderts in klingende Münze umzusetzen.

Den Werdegang des am 4. Juli 1753 in Les Andelys südöstlich von Rouen geborenen Sohns eines Zimmermanns und Maschinenbauers zur internationalen Berühmtheit zeichnet der technikbegeisterte Hobbyhistoriker Carsten Priebe in einem lesenswerten Büchlein »Die Welt zu seinen Füßen. Die Luftreisen des Jean-Pierre Blanchard« nach. Das Tüfteln, so scheint es, war dem kleinen Jean-Pierre François vielleicht schon in die Wiege gelegt. Früh verbringt der technikaffine Filius viel Zeit in der väterlichen Werkstatt. Ausgestattet mit einer lebhaften Fantasie entwickelt er bald eigene Konstruktionen. Eine Falle beispielsweise, in der sich Ratten selbst erschießen. Mit 16 bastelt er an einem Tretauto – einem Vorläufer des Fahrrads. 1779, nachdem er in Paris eine Mechanikerlehre absolviert hat, konstruiert Blanchard Wasserpumpen und diverse hydraulische Maschinen. Eine davon kann das Wasser der Seine auf eine Höhe von 130 Meter hieven.

Doch Blanchards große Leidenschaft gilt der Luftfahrt. Wie viele seiner Zeitgenossen träumt er den Traum vom Fliegen. Begierig verschlingt er alles, was er darüber zu lesen in die Hände bekommt. Und das sind beileibe nicht nur Fantasiegeschichten: Seit dem 17. Jahrhundert haben Forschungen zur atmosphärischen Physik richtungsweisende Kenntnisse geliefert.

Heiße Idee

Darum ereignet sich, während Blanchard in der väterlichen Werkstatt über die Eroberung der Lüfte sinniert, im vorrevolutionären Frankreich wahrhaft Revolutionäres. Obwohl in alten Strukturen verhaftet und infolge jahrelanger Miss- und Günstlingswirtschaft hoch verschuldet, nimmt das Land auf dem Gebiet der Wissenschaft eine Vorreiterrolle ein. Vor allem im Bereich der Luftfahrt. Sechs Jahre bevor in Paris die Revolution ausbricht, überwinden die Brüder Montgolfier als Erste die Schwerkraft. Am 4. Juni 1783 hebt im 75 Kilometer südlich von Lyon gelegenen Annonay ihr Heißluftballon ab. Die rund zwölf Meter hohe, aus Papier und Leinenstreifen zusammengeknüpfte Ballonhülle, an der eine Gondel hängt, steigt rund einen Kilometer auf und bleibt ganze zehn Minuten in der Luft.

Die Montgolfiere über Versailles | Im Haupthof des Schlosses Versailles lassen die Brüder Montgolfier am 19. September 1783 zum ersten Mal »Passagiere« in die Luft steigen – wenn auch unfreiwillige: An Bord befinden sich ein Hammel, eine Ente und ein Hahn.

Wie so oft in der Wissenschaftsgeschichte kam der zündende Gedanke per Zufall. Es wird erzählt, dass Joseph Montgolfier eines Tages vor seinem heimischen Kamin saß und dabei beobachtete, wie sich der zum Trocknen über dem Ofen hängende Unterrock seiner Frau unter dem Zustrom der heißen Luft aufbauschte und in die Höhe getrieben wurde. Diese Beobachtung soll ihn angeblich auf die Idee für einen Heißluftballon gebracht haben. Selbst wenn die Geschichte nicht wahr ist, so ist sie dennoch gut erfunden. Eigentlich war das dahinterstehende physikalische Prinzip, wonach warme Luft eine geringere Dichte hat als kalte und dadurch Auftrieb erhält, seit den physikalischen Forschungen Robert Boyles (1627-1691) hinreichend bekannt.

Kampf um die Lufthoheit

Mit der Pioniertat der Montgolfiers ist der Wettlauf um die Eroberung des Himmels eröffnet. Zwei Monate nach dem Jungfernflug der »Montgolfiere« steigt am 28. August 1783 der Physikprofessor Jacques Charles (1746-1822) vom Marsfeld aus in den Himmel über Paris. Seine nach ihm benannte »Charlière« bleibt fast eine Dreiviertelstunde in der Luft und fliegt rund 15 Kilometer weit. Charles setzt nicht auf heiße Luft, sondern auf Wasserstoff, dem schon der britische Naturwissenschaftler Henry Cavendish (1731-1810) ideale Eignung als Auftriebsmittel attestierte. Seine im Vergleich zu normaler Luft erheblich geringere Dichte erlaubt es, den gleichen Auftrieb mit weniger Volumen zu erzielen. Zum Befüllen des Ballons werden Eisenfeilspäne mit Schwefelsäure vermengt und der dabei entstehende Wasserstoff über Bleirohre in den Ballon geleitet. Neu war aber nicht nur dessen Befüllung, sondern auch das Material seiner Hülle. Charles griff auf gummierte Stoffbahnen zurück, die das Gas länger am Entweichen hindern als die Papier- und Leinenstreifen der klassischen Montgolfiere. Fortan konkurrieren beide Ballonsysteme, die Montgolfiere und die Charlière, um die Gunst des Publikums.

Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, legen die Montgolfier-Brüder nach: Die neue Montgolfiere, die am 19. September 1783 vom großen Platz vor den Toren des Schlosses Versailles abhebt, hat erstmals Passagiere an Bord – einen Hammel, eine Ente und einen Hahn. Und auch für ihr Äußeres hat man sich einiges einfallen lassen. Die in einem auffälligen Tiefblau gehaltene Ballonhülle ist mit goldenen Ranken und Symbolen reich verziert und trägt das sonnengelbe Monogramm des Königs. Gewiss schön anzusehen, aber wenig aerodynamisch: Mit bloß drei Kilometer Flugweite bleibt der Schmuckballon ernüchternd deutlich hinter dem wasserstoffbetriebenen Fluggerät von Charles zurück.

Im Wettlauf um Rekorde treten bald weitere Konkurrenten auf den Plan. Mit dem aus Metz stammenden Apotheker und Physiker Pilâtre de Rozier (1754-1785) steigt Ende 1783 der erste Mensch in einem Ballon in die Lüfte, anfangs mit, später ohne Sicherungsseile. Das wiederum stachelt Monsieur Charles an: Am 1. Dezember 1783 klettert er vor der prachtvollen Kulisse der Tuilerien in die Gondel und fliegt mit seinem Gasballon zwei Stunden lang, 36 Kilometer weit und 3000 Meter hoch. Nach diesem Rekordflug versuchen die Montgolfiers noch einmal nachzuziehen und bauen – immer noch auf Masse statt auf Klasse setzend – die größte je konstruierte Montgolfiere. Doch ihr Riesenballon wird zum Flop. Bei der groß angekündigten Flugschau bleibt das mit sieben Insassen hoffnungslos überladene Gefährt nur zwölf Minuten in der Luft. Damit ist auch bewiesen, dass die mit Gas gefüllte Charlière der mit Heißluft betriebenen Montgolfiere überlegen ist.

Die waghalsigen Flugspektakel über dem Himmel von Paris versetzen die Bewohner der Stadt in einen wahren Taumel der Begeisterung. Dass ein Mensch völlig losgelöst von der Erde abheben und einfach so davonschweben kann, sprengt die Vorstellungskraft vieler. Doch ist es gerade dieses scheinbar Unfassbare, das das Interesse an der Luftfahrt noch steigert. Den Hype auf alles, was mit Fliegen zusammenhängt, beschreibt ein Zeitgenosse: »Überall in unserem Freundeskreis, während unserer Mahlzeiten, in den Ankleidezimmern unserer Frauen wie in den Schulen, überall hört man Gespräche über Experimente, atmosphärische Luft, entflammbares Gas, fliegende Gefährte und Reisen in die Luft.«

Auch in der Mode setzen die Ballonfahrten Trends: Hüte, Röcke und die Frisuren der Damen werden ballonförmig. Findige Geschäftsleute nutzen die Gunst der Stunde und füllen eine Marktlücke. Ballonmotive in unterschiedlicher Farbe und Größe prangen alsbald auf Schnupftabakdosen, Tapeten, Kronleuchtern, Fächern, Uhren und anderen Utensilien.

Hochfliegende Pläne

Das alles verfolgt der in seiner Werkstatt tüftelnde Blanchard mit wachsendem Interesse. Endlich beschließt er, mit einer Eigenkonstruktion mitzumischen. Blanchard baut ein Flugboot mit Segeln und Luftrudern, die mit zwei Pedalen bewegt werden sollen, und macht viel Aufhebens darum. Doch das »fliegende Schiff« will einfach nicht abheben. Erst die Erkenntnis, dass es auch hier eines Ballons bedarf, ermöglicht den Jungfernflug. Anfang März 1784 will Blanchard vom Pariser Marsfeld aus ins zehn Kilometer nordöstlich vom Zentrum entfernt gelegene La Villette gleiten und beweisen, dass sein Konstruktionsmix aus Montgolfiere und Luftruderboot ein flugfähiges Luftschiff abgibt. Die Erwartungen sind hoch, besonders bei den Militärs, die sich für ein lenkbares Luftfahrzeug interessieren. Doch er, der zu den Sternen aufsteigen wollte, wie ein Spruchband an seinem Luftschiff verkündet, landet schon nach wenigen Minuten auf einem benachbarten Acker. Die Militärs sind enttäuscht, die Presse verunglimpft ihn als Scharlatan, und das Volk übergießt ihn mit Häme und Spott.

Erster bemannter Ballonflug | Mit einem prunkvollen Heißluftballon aus dem Haus der Brüder Montgolfier gelang Pilâtre de Rozier und dem Marquis François d'Arlandes am 21. November 1783 die erste Ballonfahrt der Menschheit. Rund 25 Minuten blieben die Aeronauten in der Luft.

Zu alledem erweist sich Blanchard als schlechter Verlierer und bläst sich mächtig auf. Sein Scheitern sei einzig und allein den miserablen Wetterverhältnissen geschuldet. Und außerdem sei er noch vor den Montgolfiers geflogen, versucht er den Leuten weiszumachen. Den Beweis dafür bleibt der mit 1,56 Metern schmächtige, dafür mit einem umso größeren Mundwerk ausgestattete Überflieger indes schuldig. Doch sein Ehrgeiz ist ungebrochen.

Nachdem er mit seinem selbst gebauten Flugapparat Schiffbruch erlitten hat, muss Blanchard einsehen, dass er sich seinen lang gehegten Kindheitstraum vom Fliegen nur mit einem Ballon herkömmlicher Bauart erfüllen kann. Und der ist am 18. Juli 1784 einsatzbereit. Von Rouen aus hebt er ab, und diesmal fliegt er 60 Kilometer weit. Damit hat der Franzose sein Können unter Beweis gestellt. Blanchard, dem es an vielem gebrach, nur nicht an Selbstbewusstsein, wähnt sich im Olymp der Luftfahrt. Aber zu seiner Enttäuschung bleibt die erhoffte Anerkennung aus. Während Charles, de Rozier und andere Flugpioniere stattliche Pensionen erhalten, geht Blanchard leer aus.

Nur in Unterhosen über den Ärmelkanal

Gekränkt über diese Nichtbeachtung geht der Franzose im Sommer 1784 nach England. Hier rührt er kräftig die Werbetrommel und macht sich auf die Suche nach einem Sponsor für ein neues, kühnes Unternehmen: die Überquerung des Ärmelkanals im Wasserstoffballon. Blanchard reizt der Gedanke einer triumphalen Landung bei seinen spottlustigen Landsleuten. Ein Glück, dass er auf den seinerzeit in England weilenden amerikanischen Mediziner John Jeffries (1744-1819) stößt, der sich für Blanchards Pläne begeistert. Der betuchte Amerikaner, durch und durch Royalist und seit 1775 als Militärarzt in britischen Diensten in Amerika tätig, stellt allerdings eine Bedingung für seine Unterstützung: Er will mitfahren. Am 7. Januar 1785 starten sie in Dover. Der Coup gelingt: Blanchard ist der Erste, der den Ärmelkanal auf dem Luftweg überquert.

Mit Mistgabeln und Schaufeln fielen sie »rasend vor Wut über den Luftball her und rissen ihn in Stücke«

Die Menschen staunten nicht schlecht über das Kunststück. Wieder und wieder erzählte man sich die abenteuerliche Geschichte, wie die beiden Männer der Schwerkraft trotzten. Der Erfolg des Flugs stand fortwährend auf Messers Schneide. Denn schon nach rund zehn Kilometern über dem Wasser begann der Ballon an Höhe zu verlieren. Blanchard und Jeffries warfen Ballast ab – Sandsäcke, Bücher, wissenschaftliche Geräte, schließlich sogar den Anker, mit dem der Ballon bei der Landung gesichert werden sollte. Und als auch das nicht half, zogen sich die beiden Männer bis auf die Unterwäsche aus und schmissen ihre Kleider ins Wasser. Selbst um den Inhalt ihrer Blasen sollen sie sich erleichtert haben.

Letztlich ist es aber wohl ein warmer Aufwind vor der französischen Küste, der die Gondel nach zweieinhalb Stunden Flugzeit sicher ans Festland trägt. Wie dem auch sei, die Ruhmestat ging in die Annalen der Luftfahrt ein. Verstummt waren Spott und Häme, und auch die Militärs mussten einsehen, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatten – spätestens als Blanchards schärfster Rivale, Pilâtre de Rozier, am 15. Juli 1785 beim Versuch, ebenfalls den Ärmelkanal zu überqueren, abstürzte. Seine »Rozière« bestand aus einer Kombination aus Wasserstoff- und Heißluftballon – ein Prinzip, das noch heute für extreme Langstreckenflüge eingesetzt wird. Doch schon kurz nach dem Start kam es zur Katastrophe. Vermutlich fing die Ballonhülle Feuer und machte Pilâtre de Rozier und seinen Begleiter Pierre Romain zu den ersten Todesopfern der Luftfahrtgeschichte.

Meilenstein im Gasballon | Wasserstoff trägt Jacques Charles am 1. Dezember 1783 zwei Stunden lang über eine Strecke von 36 Kilometern. Der Startplatz lag vor den Pariser Tuilerien.

Blanchard wird unterdessen mit Ehrungen überhäuft. In Calais ernennt man ihn zum Ehrenbürger, der König spendiert eine lebenslange Pension. Und der Mann aus Les Andelys ist am Ziel seiner Träume. Endlich findet er die Anerkennung, nach der er sich so lange gesehnt hat. Sich auf den Lorbeeren auszuruhen, kommt für ihn allerdings nicht in Frage. Bald sieht man ihn wieder in die Lüfte aufsteigen.

Geschäftstüchtiger Überflieger

Auf den Kupferstichen der Zeit sehen wir eine schmächtige Person in einer Gondel, kaum erkennbar und der Erde scheinbar entrückt, wie sie Spruchbänder am Himmel entfaltet, die Wappen irgendwelcher Fürsten flattern lässt oder Fahnen schwingt. Die Bilder gleichen sich, lediglich die Auftrittsorte wechseln: Paris, London, Brüssel, Amsterdam, Frankfurt, Hamburg, Nürnberg, Braunschweig, Hannover, München, Berlin, Warschau, Wien, Prag. Welche Embleme und Hoheitszeichen Blanchard auch immer im Himmel präsentiert – er wird zum Reklamefahrer für die Luftfahrt und für sich selbst. Blanchard war der erste Flugpionier, der die Luftfahrt kommerzialisierte.

Nicht immer ist alles glanzvoll, was der gefeierte Held bei seiner aeronautischen Show durch halb Europa abliefert: Am 11. Juni 1785 startet er in Den Haag in Anwesenheit des Prinzen von Oranien und reißt mit seiner Gondel den Kamin eines Hauses ab. Als Blanchard kurz darauf bei Rotterdam landet, wartet auf dem Feld schon eine Menschenmenge mit Mistgabeln und Schaufeln: »Sie fielen«, berichtet Blanchard später, »rasend vor Wut über den Luftball her und rissen ihn in Stücke«. Sechs Wochen später sieht es dann für ihn wieder anders aus. Blanchard startet von Lille aus in einem wasserstoffgefüllten Gasballon und landet sieben Stunden später und 250 Kilometer weiter wohlbehalten in der Champagne – eine Rekordstrecke.

Nur als tingelnder Schausteller will sich Blanchard jedoch nicht sehen: Er fühlt sich als Wissenschaftler und Luftfahrtpionier, sammelt Luftproben aus der oberen Region in Fläschchen, führt meteorologische Untersuchungen durch, stellt Langstrecken- und Höhenrekorde auf und experimentiert mit Fallschirmen. Immer weiter steckt er seine Ziele, schmiedet bald gar Pläne für eine Atlantiküberquerung – in acht Tagen! Das Brimborium seiner Flugshows braucht er, damit die Kasse stimmt – und natürlich um seine Eitelkeit zu befriedigen. Denn so ein Ballonfahrer muss am Boden standesgemäß leben können. Und dafür bittet Blanchard bei seinen Vorführungen kräftig zur Kasse.

Zwei bis elf Gulden – für viele damals ein halber Monatslohn – kosten die Logenplätze auf der Bornheimer Heide in Frankfurt, von wo der Franzose am 3. Oktober 1785 aufsteigt. Die Messestadt ist die erste Station seiner Deutschlandtournee. Hier, an den Ufern des Mains, nimmt etwas seinen Anfang, was sich in den kommenden Jahren auch in anderen Städten wiederholen wird. Überall, wo Blanchard Station macht, stellt er seine Fluggeräte zur Schau. Gegen einen bestimmten Obolus kann jeder sein aeronautisches Equipment besichtigen und auch in die Gondel steigen. Und wer den Start aus nächster Nähe sehen will, muss für den Erwerb der Eintrittskarte etwas tiefer in die Tasche greifen als die Zuschauer in den hinteren Reihen.

Auf die Bornheimer Heide kommen 100 000 Zuschauer. Das Spektakel stößt selbst im entfernten Weimar auf großes Interesse. Goethe schickt Fritz von Stein an den Main, und der schreibt an die Mutter: »Ich habe nun gewisse Nachricht, dass Blanchard auffährt.«

In der Tat. Blanchard legt einen Musterstart hin, klimmt schnell auf 2000 Meter Höhe, lässt zur Freude des Publikums über Bockenheim ein Hündchen an einem Fallschirm zu Boden schweben und landet nach knapp einer Dreiviertelstunde wohlbehalten im hessischen Weilburg. Dort rollt ihm Fürst Carl von Nassau den roten Teppich aus, lädt in seinem Schloss zum Galadiner und schickt den Helden der Lüfte im herrschaftlichen Wagen nach Frankfurt zurück, wo ihm die Honoratioren der Stadt im Römer huldigen und ein stattliches Salär aushändigen.

Reichlich abgehoben

Blanchard, spätestens seit Frankfurt kein unbeschriebenes Blatt mehr in Europa, genießt das Bad in der Menge. Wo er gastiert, wird er gefeiert wie heutzutage ein Popstar. Vor allem die Damenwelt ist schier aus dem Häuschen. Weibliche Fans stecken dem kleinen Franzosen heimlich Liebesbriefe zu und belagern seine Unterkunft. Wie gerne würden sie mit ihm in die Gondel steigen.

Porträt von Jean-Pierre Blanchard | Der Flugpionier im Jahr 1785 – kurz nach seiner Überquerung des Kanals.

Wem es nicht vergönnt ist, live bei seinen Auftritten dabei zu sein, der kann das Ereignis samt Drumherum exklusiv in Broschüren nachlesen, die dieser nach jedem Flug eigenhändig verfasst und drucken lässt. Meist sind sie schon nach wenigen Stunden vergriffen. Dank Blanchard avanciert die Luftfahrt zur Aktionskunst. Immer neue, immer spektakulärere Showeinlagen begeistern das Volk. In Hamburg lässt er ein Schaf an einem Fallschirm zu Boden schweben. Was fällt ihm als Nächstes ein?

1789 lodert in Paris die Revolution. Während es in Frankreich dem Adel an den Kragen geht, gondelt Blanchard mit der Aristokratie in Mittel- und Osteuropa herum. Am 31. Oktober 1790 steigt der Showman in Prag auf, wieder vor einer stattlichen Zuschauerschaft. Selbst der in die Jahre gekommene Casanova eilt aus seinem Altersruhesitz im böhmischen Schloss Dux herbei, um dem Spektakel beizuwohnen.

Im Sommer des darauf folgenden Jahres startet der Franzose gleich viermal in Wien. Mittlerweile hat er bereits 37 Aufstiege hinter sich. Wien feiert den Helden frenetisch. Selbst der anfangs etwas skeptisch eingestellte Kaiser Joseph II. ist begeistert. Nur einer jubelt nicht: Mozart. »Die Historie mit Blanchard ist mir heute gar nicht lieb«, schreibt er an seine Frau Constanze, »sie bringt mich um den Schlusse meines Geschäftes.« Der Gönner, auf den der verschuldete Komponist so dringend wartet, ist Ballongucken gegangen.

Mit einem Empfehlungsschreiben George Washingtons in der Tasche tourt Blanchard durch die jungen Vereinigten Staaten

Doch mit einem Mal verliert Blanchard die Bodenhaftung. War dem Franzosen der Erfolg derart zu Kopf gestiegen, dass er glaubte, sich alles erlauben zu können? Ausgerechnet in Wien, dem Hort der Reaktion, lässt er die Farben der Französischen Revolution wehen, und an seiner Gondel steht »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Die Oberen der K.-u.-k.-Monarchie jedenfalls waren not amused. Die Quittung lässt nicht lange auf sich warten. Fortan steht der Franzose unter besonderer Beobachtung der österreichischen Sicherheitsbehörden, da er verdächtigt wird, seine Flüge politisch zu instrumentalisieren und radikale Ideen zu verbreiten. Als Blanchard 1792 in Tirol öffentlich von Freiheit redet, ist das Maß voll. Er wird festgenommen und auf der Festung Kufstein inhaftiert, bald darauf aber auf Grund mangelnder Beweise wieder entlassen.

Aufstieg in der Neuen Welt

Wieder ist die Kränkung groß. Um dem reaktionären Europa den Rücken zu kehren, reist der Franzose in die Neue Welt, wo seit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 ein liberaler Geist weht. Am 9. Dezember 1792 – in Paris neigt sich der Prozess gegen Ludwig XVI. dem Ende zu – geht Blanchard in New York an Land. Vier Wochen später steigt er vor den Augen George Washingtons in Philadelphia in die Lüfte. Und er beweist dort – anders als in Österreich – mehr politisches Fingerspitzengefühl. Bei seinem Flug von Philadelphia nach Deptford, New Jersey, überquert er den Delaware, jenen Fluss, der als Schauplatz einer kriegsentscheidenden Attacke George Washingtons so hohe Symbolkraft für den amerikanischen Unabhängigkeitskampf hat.

Der Präsident der jungen Nation ist Feuer und Flamme für den wagemutigen Selfemademan aus der Alten Welt und ordnet an: »Alle Bürger der Vereinigten Staaten werden hiermit aufgefordert, vorgenanntem Mister Blanchard bei seiner Fahrt, Landung, Rückkehr und Weiterreise keine Hindernisse oder anderweitigen Belästigungen entgegenzusetzen; sondern ihn vielmehr mit Menschlichkeit und gutem Willen zu begegnen, ihrem eigenen Land zur Ehre und um einer Person gerecht zu werden, die sich durch ihre Bemühungen um die Schaffung und Förderung einer Technik zum Nutzen der gesamten Menschheit so außerordentliche Verdienste erworben hat.«

Glückliche Landung, großer Empfang | 1791: Der in Wien gestartete Blanchard landete bei seinem 38. Aufstieg in Groß-Enzersdorf. Mit im Gepäck: ein Fähnchen mit dem Habsburger Doppeladler. Kurze Zeit später schwenkt er die Farben der Französischen Revolution – und landet in Festungshaft.

Mit diesem Empfehlungsschreiben in der Tasche tourt Blanchard durch die 13 ehemaligen britischen Kolonien. Dort outet sich der Franzose als überzeugter Republikaner und Sympathisant Rousseaus, malt sich aus, zu welchen Gedankengängen der Flug den Verfasser des »Contrat social« wohl inspiriert hätte, wie er später in einem Flugbericht in epischer Breite ausführt. Schwenkt, hoch über dem Himmel Pennsylvanias, das »Star-Spangled Banner«, fabuliert von der Güte der Natur, der Freiheit der Wildnis und sieht, wie ihm die Herzen der Amerikaner zufliegen. Im August 1796 steigt er in New York auf, überquert Hudson und East River. Es ist Blanchards 46. Höhenflug.

Waghalsige Flüge

Bald danach kehrt er in seine Heimat zurück, wo sich die politische Lage nach dem Ende der Terrorherrschaft (Juli 1794) wieder normalisiert hat. Dort macht seit einiger Zeit ein Landsmann von ihm, ein gewisser André-Jacques Garnerin (1770-1823), von sich reden. Als erster Mensch war er mit einem Fallschirm aus einem Ballon über Paris abgesprungen. Für den überaus eitlen und ruhmsüchtigen Blanchard kam dies einer Kampfansage gleich, zumal kein Geringerer als Napoleon Bonaparte den tollkühnen Fallschirmspringer auch noch zum Leiter des Ballonkorps und zum kaiserlichen Aeronauten ernannte (Garnerin hatte mit seinen hochfliegenden Plänen, Fallschirme zur Beleuchtung nächtlicher Schlachtfelder und zu Erkundung feindlicher Linien zu nutzen, ein offenes Ohr beim kaiserlichen Heerführer gefunden).

Grund genug für Blanchard, sich wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein der Franzosen zu bringen. Im August 1798 wartet er in Rouen mit einem Novum auf. Er fährt mit 16 Personen an Bord himmelwärts, was seinerzeit einen Rekord darstellt. Im Jahr darauf wählt er die Pariser Tivoli-Gärten, beliebtes Vergnügungsviertel der besseren Gesellschaft, als Startplatz, überquert mehrfach die Seine und springt nun erstmals selbst mit seinem eigenen Fallschirm ab. Er landet wohlbehalten im Bois de Boulogne. Im Dezember 1803 nimmt er sogar den Kampf gegen die Natur auf, will Wind und Wetter trotzen. Und beinahe endet das verwegene Unterfangen in der Katastrophe. Eiskalter Wind trägt Blanchard in Sekundenschnelle in den wolkenverhangenen Himmel über Lyon, wo schon nach wenigen Minuten die windgebeutelte Gondel in einen Hagelschauer gerät. Mit jedem Höhenmeter sinken die Temperaturen. Eis bildet sich an der Ballonhülle. Zu allem Übel friert auch noch das Ablassventil ein, so dass er stundenlang bei Minustemperaturen zubringen muss. Nur mit allergrößter Mühe gelingt es Blanchard, das Ventil mit seinen klammen Fingern frei zu bekommen. Erst nach fünf Stunden in eisiger Kälte landet er, nass bis auf die Haut und durchgefroren, wieder in Lyon.

Ob es dieses Ereignis war, das Blanchard fortan nur noch selten in die Gondel steigen lässt, oder ob gesundheitliche Probleme des inzwischen 50-Jährigen der Grund dafür sind, lässt sich nicht genau sagen. Vielleicht war es auch die Hochzeit mit der viel jüngeren Marie Madeleine Sophie Armant, die Blanchard dazu veranlasste, kürzerzutreten. Er, der in all den Jahren seiner Fliegerei das Schicksal mehr als einmal herausgefordert hat, lässt es jedenfalls ruhiger angehen. Mehr aus Pflichtgefühl als aus innerem Antrieb steigt er am 1808 in Den Haag noch einmal in die Gondel, nicht ahnend, dass er aus dieser nicht mehr heil herauskommt.

Kaum in den Wolken, erleidet Blanchard einen Schlaganfall, sackt benommen in der Gondel zusammen. Der Ballon verliert schnell an Höhe und stürzt ab. Schwer verletzt wird er zur weiteren Behandlung nach Paris gebracht, doch er erholt sich nicht mehr. Noch gut ein Jahr verbringt er bettlägerig. Am 7. März 1809 ist sein Siechtum vorüber.

Nach seinem Tod betreibt Marie Madeleine das Ballonfahren auf eigene Faust weiter und sorgt mit spektakulären akrobatischen Luftnummern in einer unterhalb der Gondel befestigten Schaukel für Furore. Mit 67 Aufstiegen übertrifft sie sogar ihren Mann. Doch auch sie bezahlt ihren Wagemut mit dem Leben: Am 16. Juli 1819 stürzt sie während eines Nachtflugs in Paris beim Versuch ab, von der Gondel aus Feuerwerkraketen abzufeuern. Bei der ersten geht alles noch gut, die zweite allerdings zündet zu früh, durchschlägt die Ballonhülle und steckt den hochgefährlichen Wasserstoff in Brand.

Und Blanchard? Er, der wie kein anderer Ballonfahrten populär gemacht hatte, geriet nach seinem Tod 1809 in Vergessenheit. Man »verlor ihn aus der Geschichte«, schrieb der Dichter Ernst Moritz Arndt. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Gondel, mit der er den Ärmelkanal überquerte, im Museum von Calais zu bewundern, sein Schädel in der Sammlung des Anatomen Franz Joseph Gall. Heute, 210 Jahre nach seinem Tod, erinnert in einem Waldstück nahe der 6000-Seelen-Gemeinde Guînes, elf Kilometer südlich von Calais, die »Colonne Blanchard« an den französischen Überflieger. Sie markiert jene Stelle, an der der legendäre Luftschiffer nach seiner Kanalüberquerung gelandet war. Und auch hier zu Lande ist Jean-Pierre Blanchard, der die Luftfahrt in Deutschland bekannt machte, noch präsent: In Frankfurt-Bockenheim erinnert die Blanchardstraße, in Braunschweig der Blanchard-Platz an den französischen Flugpionier und Entertainer der Lüfte – selbst wenn wohl die meisten Passanten heutzutage mit diesem Namen nichts anzufangen wissen.

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