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Covid-19: Der fatale Hype um Chloroquin

Hilft das Malariamittel Chloroquin gegen Covid-19? Das hoffen viele. Doch die Datenlage ist dünn, und der Hype um das Medikament erschwert die Erforschung anderer Wirkstoffe.
Arzt hält Hydroxychloroquin-Pillen

Menschen mit Covid-19, die zur Behandlung im Salvador Zubirán National Institute of Medical Sciences and Nutrition in Mexiko-Stadt ankommen, können sich derzeit aussuchen, an welcher klinischen Studie sie teilnehmen möchten. Ein Mitarbeiter, der darauf geschult wurde, ein möglichst unvoreingenommenes Bild der potenziellen Vorteile und Risiken zu vermitteln, stellt ihnen die verschiedenen Möglichkeiten vor. Doch der Neurologe Sergio Iván Valdés-Ferrer weiß bereits, für welche Studie sich die meisten am Ende entscheiden werden – und es ist nicht seine.

Stattdessen wählen viele Patienten eine Studie, die Hydroxychloroquin testet, ein Malariamedikament, das von US-Präsident Donald Trump und anderen einflussreichen Persönlichkeiten als wirksames Mittel gegen das neue Coronavirus angepriesen wird. Die hohe Nachfrage nach dem Medikament in Mexiko hat den Vorrat des Landes schnell erschöpft. Inzwischen darf es nur noch in Krankenhäusern eingesetzt werden, und die Patienten sind bemüht, es zu erhalten. »Es gibt eine enorme Befangenheit«, sagt Valdés-Ferrer, der die Wirkung eines Demenzmittels auf Covid-19 erforscht. »Studien zu jedem anderen Medikament, die an Patienten aller Altersgruppen und mit allen Schweregraden der Erkrankung durchgeführt werden, sind in großen Schwierigkeiten.«

Hydroxychloroquin und sein enger chemischer Verwandter Chloroquin bekommen im Zuge der Coronavirus-Pandemie unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit. Der Grund dafür sind erste Vorstudien und die Unterstützung durch einflussreiche Politiker wie Trump oder den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Bisher gibt es nur sehr wenige Daten, die darauf hindeuten, dass Hydroxychloroquin tatsächlich gegen eine Infektion mit dem Coronavirus helfen könnte. Doch das hat bereits ausgereicht, um die Vorräte des Medikaments knapp werden zu lassen und die Einschreibungen für klinischen Studien, die andere potenzielle Behandlungsmethoden untersuchen, zu beeinträchtigen.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

»Wenn die Menschen und ehrlich gesagt auch die Ärzte verzweifeln, dann möchte man glauben, dass man etwas gefunden hat, das funktioniert«, sagt Daniel Kaul, Spezialist für Infektionskrankheiten an der University of Michigan Medical School in Ann Arbor. »Aber letztlich hilft das niemandem, wenn es nicht wirkt und Patienten davon abhält, an anderen Studien teilzunehmen.«

Erste Studien liefern positive Ergebnisse – doch die stehen auf wackeligen Füßen

Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) hat Chloroquin und Hydroxychloroquin zur Behandlung von Malaria zugelassen. Außerdem dürfen die Wirkstoffe auf Grund ihrer entzündungshemmenden Eigenschaften auch bei einigen Autoimmunkrankheiten wie rheumatoider Arthritis und Lupus eingesetzt werden. Im Februar konnten Forscher zeigen, dass Chloroquin bei menschlichen Zellen, die im Labor gezüchtet wurden, eine Infektion mit dem Coronavirus verringern kann. Wenige Tage später berichteten Forscher über klinische Studien, die an Patienten mit Covid-19 in zehn Krankenhäusern in China durchgeführt wurden. Zusammengenommen legten Ergebnisse nahe, dass eine Chloroquinbehandlung die Dauer der Krankheit verkürzen könnte.

Seitdem haben Forscher eine Hand voll kleiner Studien durchgeführt, aber keine von ihnen konnte abschließend zeigen, ob Chloroquin oder Hydroxychloroquin Covid-19-Patienten tatsächlich helfen. Manche Untersuchungen weisen sogar darauf hin, dass die Behandlung Patienten schaden könnte. Und auch die FDA warnt inzwischen vor möglichen Komplikationen, zu denen etwa Herzrhythmusstörungen zählen können. »Alle bislang veröffentlichten Studien sind sehr klein und nicht besonders robust«, sagt Richard Whitlock, Chirurg und Intensivmediziner am Population Health Research Institute in Hamilton, Kanada. Entsprechend könnten sie zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

»Anekdoten sind offenbar zu Evidenz geworden«
Lauren Sauer, Johns Hopkins University

Für manche Politiker, die besorgten Wählern und Not leidenden Volkswirtschaften wenigstens ein bisschen Hoffnung machen wollten, reichten die dünnen Belege jedoch aus. Trump behauptete, er habe sogar erwogen, Chloroquin vorbeugend einzunehmen. Krankenhäuser im Iran, in New York, Spanien und China haben begonnen, Covid-19-Patienten standardmäßig mit Hydroxychloroquin und Chloroquin zu behandeln, obwohl die Weltgesundheitsorganisation und mehrere Ärzteverbände davon abraten, die Mittel außerhalb von klinischen Studien einzusetzen.

In ihren Behandlungsleitlinien vom 21. April 2020 schreiben die US-amerikanischen National Institutes of Health, dass es nicht genug Daten gibt, um den Einsatz von Chloroquin und Hydroxychloroquin bei Patienten mit Covid-19 zu empfehlen oder um von einer Behandlung abzuraten. »Ärzte testen die Mittel, weil sie ihren Patienten etwas anbieten wollen«, sagt Lauren Sauer von der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. »Anekdoten sind offenbar zu Evidenz geworden.«

Die Nachfrage steigt

Auch außerhalb der Krankenhäuser steigt die Nachfrage nach den Medikamenten. Am 28. März 2020 erteilte die FDA eine Notfallerlaubnis, die es gestattet, die Lagerbestände von Chloroquin und Hydroxychloroquin zur Behandlung von Patienten mit Covid-19 zu nutzen – ein Schritt, den viele Menschen als Zeichen dafür werteten, dass die Behörde auf die Wirksamkeit der Medikamente vertraut. Daraufhin wollten viele die Arzneimittel nehmen oder begannen sogar, sie zu horten. Das führte zu einer weltweiten Verknappung der Lagerbestände und dazu, dass Menschen, die Chloroquin zur Behandlung von Autoimmunkrankheiten einnehmen, darum kämpfen mussten, die Medikamente weiterhin zu bekommen. Gleichzeitig gab es Berichte über Erkrankungen und Todesfälle im Zusammenhang mit Chloroquin-Überdosierungen in den Vereinigten Staaten und in Nigeria.

Auf der Suche nach geeigneten Medikamenten gegen Covid-19 ist Schnelligkeit entscheidend. Wenn klinische Studien nur langsam aus den Startlöchern kommen, kann das Leben kosten. Manche Menschen wollen nicht an Untersuchungen teilnehmen, die sie zwingen würden, auf eine Chloroquin-Behandlungen zu verzichten. Entsprechend schwierig sei es gewesen, genug Menschen für eine Studie zu HIV-Medikamenten als Behandlungsoption zu gewinnen, sagt Sung-Han Kim, Spezialist für Infektionskrankheiten an der University of Ulsan College of Medicine in Seoul.

Kim ist nicht der Einzige, der Probleme hat, Probanden zu finden. Der Psychiater Eric Lenze von der Washington University in St. Louis, Missouri, hat vor Kurzem eine Studie auf den Weg gebracht, die testen soll, ob ein Antidepressivum in der Lage ist, die überschießende Immunantwort zu dämpfen, die im Zusammenhang mit einigen schweren Covid-19-Fällen beobachtet wurde. An der Untersuchung nehmen bislang zehn Personen teil; drei weitere lehnten die Teilnahme ab, weil sie lieber Hydroxychloroquin einnehmen wollten. Und Lauren Sauer berichtet, dass sie und ihre Kollegen auf ähnliche Schwierigkeiten stießen, als sie Probanden für eine Studie mit dem antiviralen Medikament Remedesivir rekrutieren wollten.

Infolgedessen gehen manche Forscher bereits Kompromisse beim Studiendesign ein. Im Iran hat etwa der Pathologe Alireza Ghaffarieh seine Pläne aufgegeben, Patienten, die schon Chloroquin erhalten haben, aus seiner Studie für eine andere Arznei gegen Covid-19 auszuschließen. »Die Patienten haben bereits mit der Behandlung mit zwei oder drei Medikamenten begonnen«, sagt er. »Sie sind selten glücklich, wenn sie diese wieder absetzen sollen.«

Verzögerungen bringen klinische Studien in Gefahr

Dauert es länger, Probanden für eine Studie zu gewinnen, kann das am Ende sogar die Durchführung der Studie gefährden, insbesondere während einer Pandemie, sagt Prashant Malhotra, Spezialist für Infektionskrankheiten am North Shore University Hospital in Manhasset, New York. Bei manchen Ausbrüchen sei es am besten, wenn Studien frühzeitig abgeschlossen werden können, sagt er, denn wenn Gesundheitssysteme überlastet werden, könnte die Qualität der Versorgung sinken. »Die Ergebnisse von klinischen Studien, die zu Beginn einer Pandemie durchgeführt wurden, sind dann möglicherweise nicht mehr vergleichbar mit denen von Untersuchungen, die später stattfinden.«

Schließen Forscher konsequent Teilnehmer aus, die nicht bereit sind, ihre Behandlung mit Chloroquin aufzugeben, könnte das die Daten zudem verfälschen. So kann Chloroquin zum Beispiel Herzrhythmusstörungen verursachen und wird deshalb Menschen mit Herzproblemen womöglich seltener verabreicht. Eine Studie, die Patienten ausschließt, die Chloroquin einnehmen, könnte deshalb am Ende mit unverhältnismäßig vielen Probanden dastehen, die an Herzproblemen leiden, sagt Malhotra.

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Chloroquin-Nutzer in Untersuchungen zur Wirksamkeit von anderen Medikamenten aufzunehmen, erschwert allerdings ebenfalls die Interpretation der Daten. Mitunter kann es Tage dauern, bis die Wirkung des Mittels, insbesondere auf das Immunsystem, nachlässt, sagt Malhotra. Das macht es für Forscher schwierig, die Effekte ihrer Behandlung von den Chloroquin-Effekten zu unterscheiden.

Einige dieser Fragen hätten vielleicht schon vor Wochen geklärt werden können, wenn Forscher versucht hätten, rasch eine internationale Chloroquin-Studie auf die Beine zu stellen, sagt Ole Søgaard vom Universitätskrankenhaus Aarhus in Dänemark. Jetzt gibt es mehr als 100 klinische Studien, die Chloroquin oder Hydroxychloroquin bei Patienten mit Covid-19 testen. Die Mühe dafür lohne sich in jedem Fall, erklärt der Arzt, selbst wenn die Belege für die Wirksamkeit der beiden Stoffe bislang dünn seien. »Medikamente wie Hydroxychloroquin von der Liste zu streichen und zu anderen Dingen überzugehen, wäre ebenfalls ein Erfolg. Dann könnten Forscher viele Studien beenden und andere Arzneimittel untersuchen, an deren Wirkung sie glauben.«

Dieser Text ist im Original unter dem Titel »Chloroquine hype is derailing the search for coronavirus treatments« bei »Nature« erschienen.

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