Nobelpreisträger 't Hooft: »Der Grund, warum es nichts Neues gibt, ist, dass alle gleich denken«

Die bescheidene, ruhige Art von Gerard 't Hooft könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass hier eine der größten Autoritäten der modernen Physik sitzt. Der niederländische theoretische Physiker, heute emeritierter Professor an der Universität Utrecht, hat das vergangene halbe Jahrhundert damit verbracht, die mathematischen Geheimnisse der Naturkräfte zu lüften. Dafür erhielt er zahlreiche Ehrungen, darunter 1999 den Nobelpreis und zuletzt im April 2025 die mit drei Millionen US-Dollar am höchsten dotierte Auszeichnung in der Wissenschaft: den Breakthrough Prize in Fundamental Physics. Diesen bekam er für sein Lebenswerk, der Preis zollt den zahllosen Beiträgen während 't Hoofts langer Karriere Anerkennung.
Herr 't Hooft, es scheint, als hätten Sie inzwischen praktisch alle großen Physikpreise erhalten.
Einige fehlen noch! Aber ja, ich habe schon ziemlich viele. Was mich ein wenig beunruhigt: Die meisten wurden für dieselbe Sache vergeben. Man bekommt einen Preis nach dem anderen für etwas, das bereits etabliert ist. Währenddessen sind andere wissenschaftliche Arbeiten von mir nicht so bekannt - zumindest nicht in der breiten Öffentlichkeit. Aber laut der Zusammenfassung der Breakthrough Foundation ist bei diesem Preis praktisch alles enthalten, was ich gemacht habe!
Ist so eine Verleihung schon Routine für Sie, oder ist es immer noch aufregend?
Ich kann Ihnen versichern: Nichts ist Routine. Der Höhepunkt war zwar tatsächlich der Nobelpreis. Aber der neueste Preis war auch etwas ganz Besonderes.
Den Nobelpreis brachte Ihnen Ihre Forschung zur elektroschwachen Wechselwirkung in den 1970er Jahren ein. Diese Arbeit mit Ihrem Doktorvater Martinus Veltman war grundlegend für die spätere Formulierung des Standardmodells der Teilchenphysik. Trotz seines Erfolgs ist das Standardmodell inzwischen auch berüchtigt, weil es keinen offensichtlichen Weg zu weiteren Durchbrüchen weist. Bereitet Ihnen dieser Aspekt Sorgen?
Nein, ganz und gar nicht. Ich denke, es ist ganz normal für die Wissenschaft, dass wir nicht immer einen kontinuierlichen Strom von neuen Erkenntnissen haben können. Es wird Zeiten geben, wie jetzt in der Teilchenphysik, in denen es etwas ruhiger zugeht. Nachrichten wie die vom CERN, dass man am Large Hadron Collider bei neuen Zerfallskanälen eine Verletzung der CP-Symmetrie nachgewiesen hat, sind wichtige Befunde, aber nicht weltbewegend. Heutzutage gibt es in meinem Bereich viele kleinere Entdeckungen, die an sich sehr erfreulich sind, weil sie unser Verständnis vervollständigen. Aber die Geschichte zeigt, dass das nicht immer so ist und dass es Entwicklungen geben wird, die unsere Weltsicht tiefer gehend verändern.
Vor ein bis zwei Jahrhunderten, als James Clerk Maxwell die Elektrizität und den Magnetismus miteinander verband und als Max Planck die ersten Erkenntnisse zur Quantisierung von Energie gewann, gab es lange Zeiträume, in denen scheinbar sehr wenig passierte. In Wirklichkeit geschah aber viel in anderen Bereichen, wie in der statistischen Physik und weiteren Zweigen der Grundlagenforschung. Sowohl damals als auch heute gibt es Fortschritte. Schauen Sie sich die Astronomie an: Da gibt es keinen einzigen langweiligen Moment! Astronomen entdecken ständig neue Dinge im Universum, weil ihre Teleskope immer größer und ihre Untersuchungsmethoden besser werden. Das Gleiche kann man über die Biophysik oder die Medizin sagen, wo es fast täglich Neues gibt. Mein Bereich mag den Anschein erwecken, es ginge nicht voran, aber dem stimme ich nicht zu. Es geschieht schon etwas, nur in bescheidenerem Umfang.
Themenwoche »Quantenphysik neu gedacht«
Die Quantenmechanik war von Anfang an heftig umstritten. Auch 100 Jahre später ist sich die Fachwelt nicht einig: Was verraten die Formeln über die Realität? In dieser Themenwoche hinterfragen wir, was nötig ist, um die wahre Natur der Teilchen zu begreifen. Womöglich braucht es eine völlig andere Herangehensweise.
100 Jahre Quantenmechanik: Dichtung und Wahrheit hinter Heisenbergs Quantenrevolution
Realität: Warum selbst Physiker die Quantenmechanik nicht verstehen
Quanten-Holonomie-Theorie: Eine neue Verbindung von Raum, Zeit und Quantenphysik
Unwissenschaftliche Heilsversprechen: Schluss mit dem Quanten-Hokuspokus!
Nobelpreisträger 't Hooft: »Der Grund, warum es nichts Neues gibt, ist, dass alle gleich denken«
Springers Einwürfe: Die Zukunft der Quanten
Mehr zu den seltsamen Phänomenen aus der Welt der Teilchen und Atome finden Sie auf unserer Themenseite »Quantenphysik«.
Sind Sie optimistisch, dass sich diese Situation ändern wird und wir erneut große Entdeckungen in der Teilchenphysik erleben werden?
Das ist eine sehr gute Frage. Momentan sieht es so aus, als könnten wir nichts tun. Wenn jeder neue Durchbruch erfordert, den Umfang, die Leistung und die Kosten der Maschinen zu verzehnfachen oder noch weiter zu steigern, dann werden wir nicht viel weiter vorankommen. Ich kann nicht ausschließen, dass solche Hindernisse dem Fortschritt im Weg stehen, aber in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass der Fortschritt in einem solchen Fall eine andere Richtung einschlägt. Dann muss es nicht unbedingt eine noch höhere Präzision sein, sondern man könnte völlig andere Wege einschlagen, etwa mit Hilfe der Kosmologie und der Physik der Schwarzen Löcher. Ich rate der nächsten Generation: Macht euch darüber keine Sorgen, denn der wahre Grund, warum es nichts Neues gibt, ist, dass alle gleich denken!
»Die Menschen scheinen nicht die waghalsigen Schritte machen zu wollen, die meiner Meinung nach wirklich notwendig sind«
Darüber bin ich ein wenig verwundert und enttäuscht. Viele Menschen denken weiterhin immer auf dieselbe Weise - und die Art, wie man jetzt versucht, neue Theorien einzuführen, scheint nicht gut zu funktionieren. Wir haben diverse Ansätze zur Quantengravitation, zur statistischen Physik, zum Universum und zur Kosmologie, aber sie sind in ihrer Grundstruktur nicht wirklich neu. Die Menschen scheinen nicht die waghalsigen Schritte machen zu wollen, die meiner Meinung nach wirklich notwendig sind. Wir sehen zum Beispiel, dass jeder seine neuen Ideen zur Veröffentlichung zuerst an den Preprint-Server arXiv.org und dann an die Fachzeitschriften schickt. Auf arXiv.org werden jedes Jahr tausende Paper eingestellt, doch von denen liefert keines diese großartigen, brillanten, feinen Einsichten, die wir brauchen, um die Dinge zu verändern. Natürlich gibt es Erkenntnisse. Aber es sind nicht die, die für einen grundlegenden neuen Durchbruch in unserem Bereich erforderlich sind.
Wir müssen anders denken. Ich habe immer die Haltung gehabt, dass das bei mir der Fall ist. Besonders in den 1970er Jahren gab es eine sehr effiziente Methode, um voranzukommen: Denke anders als deine Freunde, und dann findest du etwas Neues! Ich glaube, das gilt immer noch, aber ich werde älter und komme nicht mehr wöchentlich auf brillante neue Ideen. Aber im Prinzip gibt es Wege – bei der Quantenmechanik, der Kosmologie, der Biologie –, die Dinge auf unkonventionelle Weise zu betrachten. Meiner Meinung nach passiert das nicht oft genug.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen, was für eine Art von Denken Sie meinen?
Meine Herangehensweise an die Welt, die Physik und die anderen mit ihr verbundenen Disziplinen ist, dass alles viel logischer, viel direkter, gewissermaßen viel bodenständiger sein sollte. Die meisten Leute, die Abhandlungen über die Quantenmechanik verfassen, wollen einen gewissen Mystizismus bewahren, als ob das Thema etwas Seltsames, fast Religiöses hätte. Ich halte das für völlig falsch. Die Quantenmechanik fußt auf mathematischen Methoden, mit denen ganz gewöhnliche physikalische Effekte beschrieben werden. Ich denke, die physikalische Welt selbst ist eine völlig klassische. Aber in dieser klassischen Welt gibt es noch zu viele Dinge, die wir heute nicht wissen: Es fehlen Schritte, die uns auf den Weg zu einem tieferen Verständnis bringen.
Welche Art von Schritten?
Solche, die auf der Tatsache basieren, dass die ganze Welt sehr einfach und überschaubar ist. Das Problem ist, dass sie uns immer noch kompliziert erscheint, weshalb wir uns in dieser Situation befinden. Sie haben bereits das Standardmodell erwähnt. Es ist ein lehrreiches Beispiel, weil es im Grunde genommen sehr simpel ist. Aber wenn man es genauer betrachtet, sieht man, dass etwas sehr Wichtiges fehlt. Das Standardmodell fußt auf der Quantenmechanik, und die wiederum erklärt, was passiert, wenn Teilchen sich einander nähern und aneinander streuen. Aber sie können auf viele verschiedene Arten streuen. Es gibt dafür eine große Anzahl von Möglichkeiten, und das Standardmodell macht dazu keine fundierten Vorhersagen. Es liefert nur Statistiken. Es ist eine fantastische Theorie für die statistischen Daten. Aber die Theorie sagt nie, welche Wahl die Natur trifft; sie gibt nur an, dass diese verschiedenen Möglichkeiten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsamplitude vorkommen. Das ist die Welt, wie wir sie kennen. Das ist die Weise, auf die wir die Naturgesetze formulieren. Aber das sind nicht die Naturgesetze selbst.
»Die Welt ist sehr einfach und überschaubar. Das Problem ist, dass sie uns immer noch kompliziert erscheint«
Was uns fehlt, ist ein Verständnis dafür, was ein Teilchen antreibt, sich mal so und mal so zu bewegen. Man kann zwar argumentieren, dass Teilchen in einem winzigen Abstand aufeinanderstoßen. Dabei treffen sie nicht frontal aufeinander, sondern in einem gewissen Winkel, und dann streuen sie in einem bestimmten Winkel. Das mag wahr sein. Aber die Theorie sagt nicht, worauf ich eigentlich achten sollte, um die Streuung zweier Teilchen, die sich einander nähern, vorherzusagen.
Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, wie solche Wechselwirkungen ablaufen würden, und zwar so genau, wie Sie beschreiben könnten, was bei der Kollision zweier Klaviere passiert. Im Prinzip könnte man hier genau sagen, welche Saite auf welche andere Saite treffen wird. Könnte das auch bei Teilchen der Fall sein? In der Praxis gelten solche Vorhersagen für Teilchen als zu schwierig, weshalb man sich der Statistik zuwendet und zu dem Schluss kommt, dass die Teilchen in alle Richtungen streuen können. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Bei den Klavieren weiß man im Prinzip mehr. Und so eine Vorhersagekraft sollte auch in unseren Theorien über die Elementarteilchen enthalten sein - ist es aber nicht.
Ich will damit sagen, dass wir anfangen sollten, auf diese Weise zu denken. Und die Leute lehnen das ab, weil sie meinen, die Quantenmechanik sei zu schön, um falsch zu sein. Ich hingegen glaube, dass die Quantenmechanik nicht der richtige Weg ist, um zu sagen, welchen grundlegenden Gesetzen Objekte gehorchen, wenn sie aufeinandertreffen.
Bei einem Interview im Jahr 2013 unterhielten Sie sich über die Arbeit des Physikers John Bell und die Implikationen für die Natur der Realität. Es ging um die Lokalität, das heißt die Vorstellung, dass sich physikalische Vorgänge nur auf ihre direkte räumliche Umgebung auswirken. Sie sagten damals, Sie hielten die Lokalität für »einen wesentlichen Bestandteil jedes einfachen, ultimativen Gesetzes für das Universum«. Das scheint immer noch Ihre Ansicht zu sein.
Unbedingt. Ich glaube sogar, dass man die Quantenmechanik sehr gut verstehen und erklären kann, wenn man nur davon ausgeht, dass die Gesetze lokale Gesetze sind. Nehmen wir an, dass das, was diese Teilchen beim Zusammenstoß tun, davon abhängt, wo sie sich befinden. Das ist genau an der Stelle, an der sie aufeinandertreffen. Das heißt, was anderswo im Universum passiert, sollte keine Rolle spielen. Und wenn das doch der Fall ist, dann hat man eine Situation, die wir Nichtlokalität nennen. Aber Nichtlokalität wäre eine Katastrophe für die meisten soliden wissenschaftlichen Theorien!
Ich glaube nicht, dass Nichtlokalität notwendig ist. Wir wissen nicht genau, was zu tun ist, wenn zwei Teilchen zusammenstoßen, weil wir nicht wissen, ob Teilchen eine Struktur haben wie Pianos oder ob sie wie echte Punkte aussehen. Allerdings können sie keine Punkte sein, weil diese nichts tun können. Irgendetwas steckt in ihnen drin, und wir sollten in der Lage sein, alle Gesetze darüber aufzuschreiben, was in diesen Teilchen steckt: Wie kollidieren sie miteinander? Warum bewegen sie sich manchmal in diese und manchmal in jene Richtung? Warum haben sie einen Spin? Wir sollten in der Lage sein, solche Dinge als ordentliche Gesetze zu formulieren, aber das sind wir noch lange nicht. Deshalb sollten noch viele weitere Durchbrüche möglich sein, um uns einem entsprechenden Verständnis näherzubringen. Das haben wir heute einfach nicht, nicht einmal annähernd.
Erfahrene theoretische Physiker neigen zu der Aussage, die eigentliche Herausforderung bestehe nicht in der Beantwortung alter Fragen, sondern darin, neue, bessere Fragen zu finden. Glauben Sie, dass hierin das Problem liegt - oder ist es nicht vielmehr so, dass wir die richtigen Fragen kennen, aber die Antworten entgegen unserer Hoffnungen einfach unerreichbar sind?
Das ist genau das, was Menschen vor einem Jahrzehnt, einem Jahrhundert und einem Jahrtausend gesagt haben. Und jedes Mal lagen sie falsch damit. Wir können diese Fragen beantworten, aber dazu brauchen wir viel Wissenschaft. Vor Maxwell verstand niemand, wie genau elektrische und magnetische Felder zusammenhängen; eine Verbindung galt als unmöglich. Dann kam Maxwell und stellte mit einer Gleichung alles klar. Es ist einfach nicht richtig, dass man solche Fragen nicht beantworten kann. Das kann man, aber wie ich es beim Beispiel der Quantenmechanik gesagt habe: Man muss ganz von vorn anfangen.
Wenn man von Anfang an glaubt, dass die Quantenmechanik eine Theorie ist, die nur statistische Aussagen liefert und niemals etwas Besseres, dann ist man meiner Meinung nach auf dem Holzweg. Und die Leute wollen sich partout nicht von der Vorstellung lösen, dass die Quantenmechanik eine Art seltsame übernatürliche Eigenschaft der Teilchen sei, die wir nie verstehen könnten. Nein! Wir werden das schaffen, aber wir müssen zuerst einen Schritt zurückgehen. Das ist allgemein meine Botschaft in der Wissenschaft: Um etwas zu verstehen, sollte man ein paar Schritte zurückgehen. Vielleicht muss es sogar ein langer Marsch sein, ganz zurück an den Anfang.
»Um etwas zu verstehen, sollte man ein paar Schritte zurückgehen. Vielleicht muss es sogar ein langer Marsch sein, ganz zurück an den Anfang«
Stellen Sie sich vor: Wie würden Ihre Grundgesetze aussehen, wenn es die Quantenmechanik nicht gäbe? Um das zu beantworten, muss man natürlich sagen, was die Quantenmechanik ist.
Was also ist die Quantenmechanik?
Quantenmechanik ist die Möglichkeit, Überlagerungen von Zuständen zu betrachten. Das ist das, was sie im Kern ausmacht. Und ich würde behaupten, dass solche Überlagerungen nicht real sind. Wenn man sehr genau hinschaut, überlagern sich die Dinge nie. Erwin Schrödinger hat hier die richtigen Fragen gestellt: Eine Katze kann tot sein, sie kann lebendig sein. Aber kann sie sich in einer Überlagerung befinden? Das ist doch Unsinn!
Damit hatte er absolut Recht. Niemand sollte weiter darauf bestehen, dass sich eine tote Katze und eine lebendige Katze überlagern. Das ist völliger Quatsch. Es scheint auf dieser Ebene die einzig richtige Antwort zu sein, genau zu sagen, wo sich das Teilchen befindet, wie hoch seine Geschwindigkeit ist, welchen Spin es hat und so weiter. Es muss jedoch andersartige Variablen geben, die sich mit der Zeit entwickeln. Anhand solcher Variablen könnte man nichts über eine Katze aussagen, es sei denn, man würde weitere nichtlokale Änderungen vornehmen. Es muss Möglichkeiten geben, alle Zustände für lebende und für tote Katzen zu beschreiben, aber diese werden sich mit Zuständen vermischen, die mit der Beschreibung von Katzen überhaupt nichts zu tun haben. Die Verwendung von Überlagerungen ist dann nur ein Trick, der zunächst funktioniert. Aber er führt nicht zu den Zuständen, die wir eigentlich verstehen wollen. Wir müssen diesen Schritt rückwärts machen.
Das müssen Sie näher erläutern. Wenn Überlagerungen insofern illusorisch sind, als es sich um rein mathematische Konzepte handelt ohne jede Grundlage in der physikalischen Realität, wie verträgt sich das dann mit dem anhaltenden Erfolg der Quanteninformatik und der Quantencomputer? Hier sieht es doch so aus, als wären Überlagerungen ein reales Phänomen, das man beispielsweise nutzen kann, um Dinge zu tun, die auf klassischem Weg nicht möglich sind.
Ich denke, die Quantentechnologie ist genau das, was man erhält, wenn man von der Realität überlagerter Systeme ausgeht. Was ich damit sagen will: Wir wissen, dass Überlagerungen in der makroskopischen Welt unsinnig sind. Und ich glaube, dass sie auch in der mikroskopischen Welt keinen Sinn ergeben, selbst wenn es so aussieht, als ob wir außer Überlagerungen nichts hätten, um Atome zu verstehen. Was die Menschen in der Quantentechnologie vermutlich nicht erkennen, ist, dass sie das Gegenteil von dem tun, was sie zu tun glauben. Sie meinen, sie würden die Quantenmechanik verstehen. Stattdessen sollten sie meiner Ansicht nach versuchen, die Quantenmechanik aus der Beschreibung zu entfernen und grundlegendere Freiheitsgrade nutzen. Sie stellen nicht die richtigen Fragen, und wenn sie das nicht tun, sehen die Dinge zunehmend kompliziert aus – zunehmend quantenmechanisch -, obwohl sie in Wirklichkeit nicht so interpretiert werden sollten.
»Was die Menschen in der Quantentechnologie nicht erkennen, ist, dass sie das Gegenteil von dem tun, was sie zu tun glauben«
Hatten wir es nicht gerade von der Tendenz bedeutender Theoretiker, zu unterstellen, man würde nicht die richtigen Fragen stellen?
Lassen Sie es mich so sagen: Ja, die Leute führen die richtigen Experimente durch. Ja, sie versuchen, die richtigen Dinge zu tun. Und ja, ihre Quantencomputer können bei bestimmten Anwendungen leistungsfähiger sein, weil sie die »Quantenmechanik« verstehen. Damit meine ich, dass sie begreifen, wie sich diese mikroskopischen Systeme tatsächlich verhalten, und zwar bis ins kleinste Detail, denn das ist etwas, das man beim Studium der Quantenwelt tatsächlich lernt. Ja, wir wissen, wie winzige Objekte reagieren und wechselwirken. Aber unser Problem ist, dass wir derzeit nur statistische Vorhersagen machen können. Und sobald ein Quantencomputer Wahrscheinlichkeitsverteilungen an Stelle von korrekten Antworten liefert, ist dieser »Computer« am Ende; man kann ihn für die meisten Anwendungen nicht mehr nutzen.
Normalerweise vermeidet man bei einem Computer Überlagerungen, weil man ja eine eindeutige Antwort sucht. Man will zum Beispiel einen Code entschlüsseln und erwartet eine Aussage: Es bedeutet dieses, nicht jenes. Die Antwort dürfen wir nicht mit einer Überlagerung beider Möglichkeiten gleichsetzen – noch einmal, das wäre Unsinn.
Was ich damit sagen will: Wir müssen die Quantenmechanik sozusagen abziehen, um das tiefere Geschehen freizulegen. Und solange die Quantentechnologen das nicht tun, werden sie keine wirklich großen Fortschritte erzielen. Quantencomputer zum Beispiel machen immer Fehler, und ihre Entwickler und Nutzer bemühen sich um Fehlerkorrekturen. Doch für mich bedeutet so ein Vorgehen eigentlich, dass man zu grundlegenderen Freiheitsgraden übergehen will, die niemals einen Fehler enthalten, weil sie exakt sind - sie sind eben klassisch. Aber der Weg zu dieser Erkenntnis ist offensichtlich sehr schwierig.
»Wir müssen die Quantenmechanik sozusagen abziehen, um das tiefere Geschehen freizulegen«
Sie scheinen von einem Uhrwerk-Universum auszugehen, in dem sich alles auf einer fundamentalen Ebene rein deterministisch verhält, mit nur sehr wenig Raum für jegliche quasimystische Spekulation. Sie erwähnten das hartnäckige Fortbestehen einer fast religiösen Einstellung zur Quantenmechanik in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, ganz zu schweigen von der Populärkultur. Vielleicht hält sich die Einstellung, weil sich im Alltagserleben viele danach sehnen, dass etwas unbeschreiblich bleibt. Wenn Sie also an diese Art von deterministischem Universum glauben, wo stecken dann Ihrer Meinung nach dessen Geheimnisse?
Viele ungelöste Rätsel machen das Problem unheimlich schwierig. Das deterministische Universum könnte nur von jemandem mit einem sehr viel größeren Verstand vollständig begriffen werden. Sobald man hinsichtlich der vielen Möglichkeiten eine falsche Annahme trifft, kommt man wieder in diese quantenmechanische Situation, in der sich Dinge gegenseitig überlagern.
Eine einfachere Frage ist: Kann man die Quantenmechanik ohne ein Überlagerungsprinzip formulieren? Und meine Antwort lautet: Ja. In einem meiner jüngsten Paper auf arXiv.org habe ich ein kleines Modell beschrieben - zu einfach, um in der realen Welt nützlich zu sein. Das Modell ist eine Uhr mit einem Pendel, das sich auf bestimmte Weise bewegt. Das Pendel treibt ein Rad an, das die Zeit anzeigt, wie bei einer antiken Standuhr. Aus dem Pendel kann man die angezeigte Zeit ableiten. Die Zeiger sind deterministisch und beliebig präzise. Das Pendel aber kann quantisiert werden; wir können Quantengleichungen dafür formulieren. Ich habe die Verbindung zwischen der Mathematik des quantenmechanischen Pendels und derjenigen des klassischen Zeigers gefunden. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Aber ich habe nur sehr wenige Reaktionen darauf bekommen. Ich hatte erwartet, dass die Leute das Paper als Ausgangspunkt nehmen, um weiterzumachen. Aber stattdessen haben die meisten es abgestempelt als eine weitere verrückte Idee von 't Hooft.
Andere wissenschaftliche Beiträge von Ihnen hatten erhebliche kulturelle Auswirkungen, insbesondere das von Ihnen vorgeschlagene holografische Prinzip. Auf Grund dieser Idee gibt es Menschen, die glauben, dass der Kosmos in Wirklichkeit in einem Schwarzen Loch steckt oder dass wir gar nur eine Simulation in einem höherdimensionalen Computer sind. Was halten Sie von den Blüten, die Ihre vor mehr als 30 Jahren vorgebrachte theoretische Erkenntnis inzwischen treibt?
Ich habe da einige Vorbehalte. Vielleicht hätte ich nie über das holografische Prinzip sprechen sollen. Denn ja, einige Leute verfallen unsinnigen Vorstellungen und verbinden die Idee mit übernatürlichen Eigenschaften und schlecht definierten, höheren Dimensionen, was alles sehr mysteriös klingt. Damit habe ich ein großes Problem. Ich finde, man sollte die Naturgesetze nicht komplizierter formulieren als unbedingt nötig. Man sollte sie so weit wie möglich vereinfachen, darf damit aber nicht über die Grenzen der Realität und Wahrheit hinausgehen. Schon Einstein hat einmal so etwas gesagt. Wenn wir als Wissenschaftler auch nur den leisesten Anschein von Obskurität erwecken, tun wir nicht das Richtige.
Ich bin ein wenig besorgt, dass das holografische Prinzip viele dazu eingeladen hat, sich dem Mysteriösen hinzugeben, denn ich will das exakte Gegenteil erreichen. Ich möchte, dass die Menschen versuchen, rational zu sein. Für mich ist sogar die Quantenmechanik schon zu weit von der Vernunft entfernt. Wenn man die Quantenmechanik so umformuliert, dass man den Hilbertraum – einen unendlichdimensionalen Vektorraum – als etwas betrachtet, das für praktische Zwecke verwendet wird, anstatt ihn für eine grundlegende Eigenschaft der Natur zu halten, dann braucht man diese Art von Holografie gar nicht mehr. Ich wünschte, mehr Menschen würden das verstehen. Wir müssen versuchen, die Dinge präziser zu formulieren, um zu vermeiden, dass Missverständnisse der Wissenschaft schaden.
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