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News: Der Joker aus der Petrischale

Es gibt viele Krankheiten, die wichtiges Gewebe im Körper zerstören. Und bei manchen Therapieformen ergeht es dem Körper auch nicht besser, so zum Beispiel bei der Behandlung von Leukämie mit harter Chemotherapie oder hohen Bestrahlungsdosen. Im Prinzip könnten unspezialisierte Zellen die Lücken füllen. Doch sind diese Stammzellen schwer im Labor zu kultivieren. Eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeitsgruppen kommt dem Ziel aber immer näher.
Bei vielen schwerwiegenden Krankheiten kommt es zur Degeneration entscheidender Zellen oder Gewebe: Dies betrifft zum Beispiel die Langerhansschen Inseln des Pankreas bei Diabetes und Gehirnneuronen bei der Parkinsonschen Krankheit, bei Chorea Huntington oder anderen neurologischen Störungen. Lange Zeit hat die Forschung davon geträumt, menschliche Zellen im Labor kultivieren zu können, die dann Kolonien bilden und das fehlende Gewebe ersetzen. Aber die Natur zeigte sich nicht sehr kooperativ. Krebszellen wachsen zwar leicht in einem Kulturgefäß, doch normale, gesunde Zellen stellen außerhalb des Körpers schnell ihre Vermehrung ein.

Aufgrund neuer Entdeckungen sind Forscher in der Lage, seltene Stammzellen aus wichtigen Geweben zu identifizieren und über mehrere Monate hinweg zu kultivieren. Bringt man diese Zellen in das entsprechende Gewebe, können sie den ursprünglichen Zellbestand wieder herstellen. Stammzellen wurden in mehreren Geweben entdeckt: in Nervensystem, Muskel, Knochen und Knorpel, und möglicherweise existieren sie in den Langerhansschen Inselzellen und in der Leber. Schon haben unveröffentlichte Arbeiten finzanzkräftige Unternehmer überzeugt, daß bestimmte Zellen, die ursprünglich aus Föten stammen, eine große Vielfalt an Gewebe-spezifischen Zellen bilden können.

Im Knochenmark gibt es einen Typ menschlicher Stammzellen, aus dem sämtliche Blutzellen hervorgehen und der seit seiner Entdeckung durch Irving L. Weissman von der Stanford University im Jahr 1991 weithin bekannt ist. Wird das Knochenmark eines Krebspatienten durch Chemotherapie oder starke Bestrahlung zerstört, kann der Patient mit Hilfe eines Tranplantates aus Knochenmarkszellen gerettet werden. Stammzellen in dem Transplantat ermöglichen die Bildung aller Zelltypen im Blut.

Überrascht waren die Wissenschaftler von der Entdeckung, daß Stammzellen auch im Gehirn vorkommen und alle drei dort ansässigen Zelltypen aus ihnen hervorgehen: Astrozyten, Oligodendrozyten und Neuronen. Dieses Ergebnis "widerspricht dem Lehrbuchwissen", sagt Ronald D. G. McKay vom National Institute of Neurological Disorders and Stroke. McKay berichtet, daß er in seinem Labor Stammzellen des Nervensystems so in das Gehirn von Mäusen mit künstlich erzeugtem Parkinson-ähnlichen Verhalten gebracht habe, daß die Verhaltensabnormalitäten gelindert wurden. Man habe nicht erwartet, daß Langerhanssche Insel- und Leber-Stammzellen ebenfalls weit verbreitet in adulten Organismen existieren, aber die Hinweise darauf sind nach Aussage von Weissman überwältigend.

Obwohl sie nur im Verhältnis von eins zu einigen Tausend Gewebezellen vorkommen, können Stammzellen mittels spezifischer Oberflächenmoleküle isoliert werden. Damit könnten dann die Zellen aus dem Gewebe eines Patienten oder eines gesunden Spenders isoliert und im Labor vermehrt werden. Einige Firmen arbeiten an diesem Ansatz. SyStemix in Palo Alto, Kalifornien, ein Tochterunternehmen des schweizer Pharmariesen Novartis, testet seine Methode zur Isolierung Blut-produzierender Stammzellen aus dem Knochenmark mit dem Ziel, konventionelle Knochenmarkstransplantationen zu verbessern. Entnimmt man solche Zellen einem Spender, könnten sie einem Patienten zu Immuntoleranz gegenüber allen anderen Zellen des Spenders verhelfen, bemerkt Weissman. Damit ergebe sich eine Möglichkeit, die Abstoßung eines Transplantates zu verhindern. Der Wissenschaftler hatte die Firma StemCells, Inc. gegründet, mittlerweile Teil von CytoTherapeutics in Lincoln, Rhode Island. Das Unternehmen will Stammzellinien aus kompakten Organen etablieren. Osiris Therapeutics in Baltimore untersucht mesenchymale Stammzellen aus Patienten, um geschädigtes Knorpel- und andere Gewebe zu regenerieren.

Allerdings zeigen bisher getestete Zellen aus Patienten und Spendern möglicherweise erhebliche Nachteile, erklärt Thomas B. Okarma von Geron in Menlo Park, Kalifornien. Blut-bildende Stammzellen müssen sich rasch teilen und vermehren, damit sie das Knochenmark eines Patienten erfolgreich ersetzen können. Mit jeder Zellteilung werden allerdings die Enden der Chromosomen, die Telomeren, kürzer, was ein vorzeitiges Altern der Zellen bedeutet und ihre weitere Lebensdauer begrenzen könnte.

Deshalb will Geron auf eine andere Quelle zurückgreifen, von der die gewünschten Zellen abgeleitet werden sollen: nicht-alternde embryonale Keimzellen. Von diesen allgemein sehr vielseitigen Zellen glaubt Okarma, daß sie unbegrenzt in Kultur gehalten werden und jeden Zelltypus des Körpers entstehen lassen können. Sie sind den embryonalen Stammzellen der Tiere vergleichbar.

Bei der Maus entnimmt man solche Zellen lebenden Embryonen in sehr frühen Entwicklungsstadien. Injiziert man sie einem Embryo, siedeln sie sich dort an und können zu allen Gewebetypen differenzieren. Aufgrund gesetzlicher Einschränkungen ist in den USA die Anwendung dieser Methode auf menschliche embryonale Stammzellen nicht möglich. Eine Institution, die einen solchen Weg verfolgen wollte, würde ihre staatlichen Fördermittel verlieren. Um dem auszuweichen, hat John D. Gearhart, Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Johns Hopkins University, eine andere Methode für die Etablierung humaner Zellinien entwickelt. Diese scheinen die Eigenschaften embryonaler Stammzellen zu besitzen. Gearhart wußte, daß sich bei Mäusen Vorläuferzellen der Gonaden, die man in Föten bringt, wie echte embryonale Stammzellen verhalten. Er und sein Mitarbeiter Michael Shamblott haben deshalb embryonale Keimzellinien aus menschlichen Gonaden-Vorläuferzellen aufgebaut, die sie abgetriebenen Föten entnommen hatten. Gearhart implantiert diese Zellen in Mäuse mit defektem Immunsystem, wo sie zu Tumoren führen. Auf diesem Wege untersucht er, ob die Zellen tatsächlich in der Lage sind, sich zu sämtlichen Zelltypen zu entwickeln. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt läßt Gearhart nur vernehmen, daß er "mehrere Zelltypen" in dem Tumor gesehen habe und daß er plane, die Details innerhalb der nächsten Monate zu veröffentlichen. Sollten die Zellinien Gearharts oder seiner Kollegen halten, was ihre Planer versprechen, könnten sie eine langlebige Quelle für menschliche Gewebe- und Stammzellen werden.

Mehrere Forscher haben im Verlauf der letzten Jahre gezeigt, daß embryonale Stammzellen mit gentechnischen Methoden angeregt werden können, sich in Gewebe-spezifische Zellen umzuwandeln:
Loren J. Field und seine Mitarbeiter an der Indiana University beispielsweise haben per Zugabe spezifischer DNA-Sequenzen zu embryonalen Stammzellen der Maus Herzmuskelzellen erzeugen können. Die entstehenden Zellen wuchsen in einem heranwachsenden Herzen.
McKay ist in der Lage, Zellen des zentralen Nervensystems aus embryonalen Stammzellen der Maus zu gewinnen. "Humane embryonale Stammzellen hätten tiefgreifende Auswirkungen auf die Behandlung menschlicher Krankheiten", merkt James A. Thomson von der University of Wisconsin an.
Geron plant die Entwicklung von Techniken, mit denen Gearharts Zellen zur medizinischen Anwendungsreife gebracht werden sollen. Da embryonale Keimzellen nicht altern, sollte es möglich sein, sie gentechnisch so zu präparieren, daß sie andere immunologische Eigenschaften bekommen. So sollten dann Ärzte in der Lage sein, in das Gehirn eines Patienten, der regeneriertes neurales Gewebe benötigt, Zellen einzupflanzen, die immunologisch verträglich und in neurale Vorläuferzellen umwandelbar sind. Gelegentlich wird fötales Gewebe genommen, es steht allerdings nur begrenzt zur Verfügung. Okarma spekuliert sogar, daß mit der Methode des Kerntransfers möglicherweise Gewebe erzeugt werden könnte, das immunologisch mit dem des Patienten identisch ist, falls das nötig ist. Ebenso zeigt Geron lebhaftes Interesse an der sogenannten Telomerase. Dieses Enzym verhindert, daß die Telomeren an den Chromosomenenden mit jeder Zellteilung kürzer werden. Wissenschaftler von Geron haben bereits in diesem Jahr nachgewiesen, daß sich menschliche Zellen ohne Telomerase unbegrenzt in Kultur teilen, wenn man ihnen vorher das Telomerase-Gen einpflanzt und dieses aktiv ist. Die Forscher planen Untersuchungen, ob die Telomerase die unbegrenzte Kultur Gewebe-spezifischer Stammzellen erlaube.

Isolierung und Kultivierung von Stammzellen bleibt eine ernstzunehmende Aufgabe. Darüber hinaus sind strenge Untersuchungen notwendig, bevor Mediziner modifizierte Zellen einem Patienten einimpfen. Schließlich ist es denkbar, daß die Zellen zu Krebszellen entarten. Dennoch, die breiten und langfristigen Anwendungsmöglichkeiten von Stammzellen in der Therapie sind offensichtlich. In der Zwischenzeit erhoffen sich die Unternehmen von humanen Stammzellen günstige Auswirkungen auf die Entwicklung von Medikamenten.

Stammzellen könnten letztendlich auch helfen, das alte Versprechen der Gentherapie einlösen. Die Methode ist noch kein gangbarer Weg für eine Behandlung, weil sich gezeigt hat, wie schwer es ist, therapeutische Gene in reifen Zellen aktiv zu halten. Wenn jedoch therapeutische Gene in nur wenige Stammzellen eingeführt werden können, sind sie kultivierbar und dann in großer Zahl einsetzbar.

Wie lange dauert es noch, bis Stammzellen für den medizinischen Gebrauch verwendet werden können? Thomson möchte sich nicht genau festlegen. Aber er schätzt, daß "wir innerhalb der nächsten fünf Jahre wissen werden, wie man spezifische Zelltypen herstellt".

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