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Rivalen des Ärmelkanals: Der Erste, der von Dover nach Calais schwamm

Ehrgeiz, eiserne Willens- und Muskelstärke peitschten Matthew Webb vorwärts, als er vor 150 Jahren als Erster den Ärmelkanal durchschwamm. Gefeiert wurde dafür aber zunächst ein anderer.
Eine historische Illustration zeigt eine nächtliche Szene auf dem Meer. Im Vordergrund reicht ein Mann in einem Ruderboot einem Schwimmer eine Flasche, während andere Männer im Boot zuschauen. Im Hintergrund sind Segelboote zu sehen, und der Mond scheint durch die Wolken.
Vom Beiboot aus bekam Matthew Webb beim Versuch im August 1875, den Ärmelkanal ohne Hilfsmittel zu durchschwimmen, Kaffee gereicht. Die zeitgenössische Illustration wurde später koloriert.

Es war grau und kalt und nass und windig an jenem 12. August 1875. Doch am späten Nachmittag spürte der junge Mann, dass es nun kein Zurück mehr gab. Drei Tage hatte er auf den Moment gewartet – auf wohlwollende Gezeiten und halbwegs gutes Wetter. Wäre dies ein sonniger Sommerdonnerstag gewesen, hätte er sein Ziel am Horizont sehen können: die Küste von Calais, auf der anderen Seite des Kanals, rund 34 Kilometer von Dover entfernt.

Matthew Webb (1848–1883) war eine gedrungene, muskulöse Erscheinung. Auf Fotos, die ihn mit seinem mächtigen Schnurrbart im athletischen Einteiler zeigen, sieht der damals 27-Jährige aus, wie man sich einen Gewichtheber auf einer Kirmes in Viktorianischer Zeit vorstellt. Der gut 1,70 Meter große Kapitän zur See brachte rund 92 Kilogramm auf die Waage, die zu einem Gutteil aus Muskeln bestanden. Muskeln, die er sich im Wasser angeeignet hatte, wo er seit seiner Kindheit einen erklecklichen Teil seines Lebens verbracht hatte. Das Wasser war sein Element. Und seit Langem schon träumte er davon, der erste Mensch zu sein, der den Ärmelkanal durchschwimmt.

Nun sollte es also so weit sein. Der Admiralty Pier von Dover war voller Schaulustiger, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten und ihm zujubelten. Captain Webb, ein eher in sich gekehrter, vielleicht sogar schüchterner Mann, mag die trübe Sicht auf das kalte Grau des Meeres, das in der Ferne mit dem kalten Grau des Himmels verschmolz, angespornt haben. Was ihm in diesem Moment wohl durch den Kopf ging? Endlich los, endlich allein sein? Sich der Sehnsucht nach diesem monotonen Rhythmus hingeben, dem sein Körper vollkommen folgen würde: einatmen, mit dem Kopf abtauchen, dann der Armzug, gefolgt vom kräftigen Beinschlag und schließlich das Ausatmen beim kurzen Gleiten im Wasser. Und noch einmal und noch einmal. Viele tausend Mal.

Captain Webb war in einen ärmel- und beinlosen Badeanzug aus Wolle geschlüpft, wie ihn die Männer jener Zeit trugen. Seinen Körper hatte er glattrasiert und dick mit Walfett eingeschmiert – beides schützte ihn davor, sich im aggressiven Salzwasser wundzureiben. Gegen das nur rund 15 Grad Celsius kalte Wasser aber halfen weder Fett noch Anzug. Dagegen hatte Matthew Webb sich zeitlebens in Flüssen, Seen und Meeren gewappnet – hoffte er und tauchte in die raue See.

Die Elemente waren zu mächtig

Die Stunden, die nun folgten, sind kaum in Worte zu fassen. Die Fantasie der Lesenden ist gefordert, sich auszumalen, wie es ist, in der dunklen Nacht im kalten Wasser, bei immer stürmischeren Winden, meterhohen Wellen und peitschendem Regen den ständig aus dem Blickfeld verschwindenden Begleitbooten schwimmend zu folgen. In einem kleinen Ruderboot hielt sich ein Rettungsschwimmer bereit. In einem Segler saß Webbs Freund George Toms mit seiner Crew, die auf einem Ofen Kaffee, Roastbeef sowie Sandwiches zubereiteten und sie häppchenweise an den auf- und niederschwankenden Webb reichten. Gegen den Durst gabs Bier, für die Motivation Brandy.

Matthew Webb (1848–1883) | Nach seinem Erfolg im Ärmelkanal ließ sich der Schwimmer in zeitgemäßer Sportkluft fotografieren.

Doch es half alles nichts. Am späten Abend schlugen die Wellen derart über das kleine Ruderboot mit dem Rettungsschwimmer, dass es zu sinken drohte. Webb warf das Meer ebenfalls wie »einen Federball« umher, »aber ich kam gut voran und hatte bald neun Meilen hinter mich gebracht«, zitiert die britische Journalistin Kathy Watson den Captain in ihrem Buch »The Crossing«. »Doch das kleine Boot litt mehr als ich.« Gegen Mitternacht, nach fast sieben Stunden im Wasser, zog man ihn ins Boot. »Ich kehrte als geschlagener Mann zurück. Die Elemente waren zu mächtig.«

Dieser erste, erfolglose Versuch war bereits die zweite große Enttäuschung für Captain Matthew Webb. Denn nur wenige Monate zuvor hatte bereits ein anderer den Ärmelkanal gequert: ein gewisser Captain Paul Boyton (1848–1924).

Konkurrent im Gummianzug

»Der Mann war ein offensichtlicher Betrüger«, wie Webb, dem die großen Emotionen eigentlich fremd waren, bemerkte. Tatsächlich war Boyton der Gegenentwurf zu Matthew Webb, der ein zurückhaltender Mensch mit eisernem Willen und geradezu übernatürlicher Kondition war. Boyton war zwar ebenfalls ein ausgezeichneter Schwimmer, aber auch ein gewiefter Hallodri mit großem Talent für die Selbstvermarktung und einem grenzenlosen Selbstvertrauen. Stets trat er als »Captain« auf, der er jedoch gar nicht war. Sein Aufstieg begann, als er Markenbotschafter für »Merriman's Patent Water-proof Life-Saving Apparatus« wurde.

Bei diesem »patentierten wasserdichten Rettungsgerät« handelte es sich um einen 16 Kilogramm schweren, kompliziert zusammengeschweißten, aufblasbaren Gummianzug, der Schiffbrüchigen das Überleben sichern sollte. In dem Anzug war Platz für zehn Tage Proviant, eine Lampe, eine Axt für den Schwertfischfang, ein Kampfmesser gegen Haie und Bücher gegen die Langeweile. Praktische Hilfe boten ein Paddel und ein Segel.

Im Auftrag des amerikanischen Erfinders Clark Merriman tourte der »Captain« fortan von Hafen zu Hafen, paddelte auf dem Rücken liegend vor Publikum herum, zündete Signalfackeln und rauchte Zigarre. Als Paul Boyton sich von einem Schiff vor der Küste ins Meer abseilen ließ, schaffte es Merrimans Rettungsapparat – und mit ihm der »Captain« – in die Schlagzeilen. Zwar war Boyton nicht, wie er versprochen hatte, 200 Meilen vor der Küste ausgesetzt worden, sondern nur zweieinhalb, aber egal: Fortan trat er in Häfen und Flüssen und sogar in Opernhäusern auf, wo er als »furchtloser Froschmann« in den Pausen auf die Bühne tapste und in voller Montur abenteuerliche Geschichten zum Besten gab. In wenigen Monaten, so stand es in den Zeitungen, hatten über 100 000 Menschen die Show gesehen. Darunter auch Königin Victoria, die ihn auf ihre Jacht eingeladen hatte, wo er, der Ire im Gummianzug, sich über den Kilt des schottischen Dieners lustig machte.

Dieser umtriebige Schausteller suchte die ultimative Herausforderung. In einem Bericht über eine seiner Darbietungen auf der Themse schrieb »The Times«: »Er beabsichtigt, eine Reise von Dover nach Calais zu unternehmen, sobald seine Pläne es erlauben.« Das war im März 1875. Als Webb davon erfuhr, hoffte er, dass Boyton noch Monate auf sommerliche Wassertemperaturen warten musste.

600 Pfund für den Misserfolg

Doch Boyton wartete nur bis April. Um 3:00 Uhr am Morgen des 10. zwängte er sich in seine aufblasbare Gummihülle, legte sich rücklings ins Wasser und begann zu paddeln. An seinem Fuß hisste er ein kleines Segel, winkte heiter den Männern an Bord zweier Begleitboote zu und macht alsbald ordentlich Strecke. Nach drei Stunden lag die französische Küste nur noch acht Meilen voraus, als zwei Brieftauben die Nachricht »all well« an Land brachten. Ein bisschen zu voreilig, denn nun wandten sich Wind und Wetter gegen ihn. Und zwar so heftig, dass die Männer in den Begleitbooten um ihr Leben fürchteten und die Mission abbrachen.

»Furchtloser Froschmann« | Nachdem im April 1875 ein Versuch gescheitert war, gelang es Entertainer Paul Boyton Ende Mai desselben Jahres, den Ärmelkanal in einem Gummianzug zu durchqueren. Er segelte damit rücklings durchs Wasser.

Unwillig fügte sich Boyton, paddelte aber noch einmal trotzig um das Schiff herum, bevor er an Bord ging – einfach, um zu zeigen, dass es sicher nicht an ihm gelegen habe. Bevor er im Hafen von Boulogne an Land ging, schmiss er sich wieder in seinen Anzug und genoss den Applaus. Später waren ungefähr 20 000 Menschen in den Hafen gekommen, um ihn zu feiern – als hätte er die Strecke geschafft. Zurück in England kassierte Boyton allein für drei Tage Vorführungen mehr als 600 Pfund an Eintrittsgeldern.

Doch der Misserfolg nagte an ihm, weshalb er Ende Mai kurzerhand zurück nach England paddelte. Nach 23 Stunden und 30 Minuten hatte er es geschafft. Alles war reibungslos verlaufen, ein Arzt bescheinigte ihm einen guten Zustand. Damit war Boyton zweifellos der Erste, der den Ärmelkanal ohne Boot querte – nur eben im aufblasbaren Gummianzug und mithilfe von Segel und Paddel.

Webb konnte und wollte noch der Erste sein

Matthew Webb ließ sich von Boytons Erfolg nicht beirren. Im Gegenteil: Nun trainierte er umso verbissener. Der Anzug könne wohl für die Menschheit nützlich sein, doch sehe man darin so albern aus, dass man ihn unmöglich ständig trage. Webb konnte immer noch der Erste sein, der die Querung allein mit menschlicher Muskelkraft schaffte. Und das wollte er unbedingt.

Im viktorianischen England war Schwimmen aus Vergnügen oder mit sportlichem Ziel keineswegs üblich. Der Aufenthalt im Wasser diente in jener Zeit vor allem therapeutischen Zwecken und sollte alle möglichen Gebrechen lindern, Rheuma oder Unfruchtbarkeit, Erkrankungen der Geschlechtsteile, Hühneraugen und neurotische Stimmungen (vor allem bei Frauen). Badeanstalten gab es wenige, in einer davon zog Webb im Frühjahr und Sommer 1875 diszipliniert Bahn um Bahn. Tag für Tag, Stunde um Stunde.

Webb war Brustschwimmer und mit der Technik eigentlich aus der Zeit gefallen. Wer damals schnell im Wasser sein wollte, war Seitenschwimmer und damit um einiges flotter unterwegs. Doch Webb beharrte auf seiner ihm so vertrauten Art zu schwimmen, weshalb viele nicht an ihn glauben wollten und finanzielle Förderer, die er genauso brauchte wie Boyton, eher zögerlich reagierten. Schließlich gelang es ihm, den berühmten »Schwimmprofessor« und Schausteller Frederick Beckwith (1821–1898) zu überzeugen, der Webb vor Publikum in die Themse schickte. Anfang Juli, sechs Wochen vor seinem ersten Versuch, den Ärmelkanal zu queren, schaffte er in der Themse eine Strecke, die ähnlich lang war wie die von Dover nach Calais. Er brauchte knapp fünf Stunden.

Dann, an jenem 12. August 1875, drei Monate nach Boytons Kanalquerung, scheiterte Matthew Webb bei seinem ersten Versuch. Nach sieben Stunden.

Der Geist entscheidet über den Körper

Doch Aufgeben kam Webb nicht in den Sinn, erst recht nicht nach Boytons Erfolg. Keine zwei Wochen später, am 24. August 1875, stand Matthew Webb erneut am Ende des Admiralty Pier, wohl allzu gut wissend, was ihn nun erwartete: die Kälte, die Dunkelheit, die Wellen, das ätzende Salzwasser, das die Zunge anschwellen ließ und das Atmen mühsam machte. Und die Gedanken, die er unbedingt daran hindern musste, sich um die vor ihm liegenden Qualen zu drehen. Langstreckenschwimmer wissen, dass es nicht so sehr der Körper ist, der versagt, sondern der Geist. Webb hatte jedoch Körper und Geist trainiert und war imstande, sich über Stunden einzig und allein auf seinen Körper zu konzentrieren. Er zählte systematisch seine Armzüge, achtete auf das gleichmäßige Strecken der Beine und sein rhythmisches Atmen dazu. So bewahrte er die absolute Kontrolle über sich und widerstand Schmerz und Erschöpfung in unvorstellbarem Maß. Um 12:55 Uhr sprang Matthew Webb ins Wasser.

Niagarafälle | Das Magazin »The Graphic« berichtete 1883 vom Tod Matthew Webbs. Der Profischwimmer war beim Versuch, die Stromschnellen unterhalb der Niagarafälle zu durchschwimmen, verunglückt. Die Zeitungsillustration zeigt die Unglücksstelle vom 24. Juli 1883.

In der Themse hatte er die Distanz in fünf Stunden geschafft. Hier im Kanal war er nach fünf Stunden längst von einer Strömung erfasst worden, die ihn parallel zur Küste in Richtung Nordsee trieb. Erst gegen 20:00 Uhr führte ihn die Strömung wieder nach Südwesten in Richtung Frankreich. Unbeirrt und beinahe in Trance zog er sich durchs Meer. Zug um Zug, Stunde um Stunde. Er gönnte sich nur kurze Pausen, in denen die Crew ihn stärkte. Dann ging es weiter, unermüdlich, bis der Morgen graute.

Nach 63 Kilometern am Ziel

Endlich kam die französische Küste in Sicht, wirkte so nah und schien doch unerreichbar fern – vor allem für jemanden, der sich seit 20 Stunden durchs kalte Wasser kämpfte. Zog er sich anfangs mit 25 kräftigen Zügen pro Minute in den Kanal, stemmte sich Webb am Morgen des 25. August mit kraftlosen 15 Zügen gegen den Ebbestrom. Sein Körper war grau und wund, seine Bewegungen unkoordiniert. Schwamm er noch oder kämpfte er um sein Überleben? Kurz schien es, als hätte sein Geist die Kontrolle über den Körper verloren. Der Rettungsschwimmer im Beiboot machte sich schon bereit. »Dieses Meer bringt mich um, Stück für Stück«, rief Webb mit schwacher Stimme. Und hielt doch durch. Sein übermenschlicher Wille hatte wieder die Kontrolle über den Körper übernommen. Langsam zwar, aber wie von einem mechanischen Werk angetrieben, strebte er seinem Ziel entgegen.

Um genau 10:41 Uhr schleppte sich der Captain an den französischen Strand. Nach 21 Stunden und 45 Minuten. Aufgrund der starken Strömungen hatte er nicht 34, sondern 63 Kilometer bewältigt. Matthew Webb hatte seinen Lebenstraum verwirklicht. Das Publikum am Strand jubelte ihm zu, tagelang priesen ihn die Zeitungen als den Menschen, der er so lange schon sein wollte: der erste Schwimmer, der den Ärmelkanal bezwang. Nur mit dem eigenen Körper und dem eigenen Willen. Das konnte ihm nun niemand mehr nehmen – schon gar nicht Paul Boyton in seinem Gummianzug.

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  • Quellen

Boyton, P., The Story of Paul Boyton, 2016

Watson, K., The Crossing, 2001

Webb, M., The Art of Swimming, 1875

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