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Abenteuerroman: Der Mann, der Robinson Crusoe war

Robinson Crusoe hat es nie gegeben, wohl aber den schottischen Matrosen Alexander Selkirk. Er saß vier Jahre auf einem Inselchen fest - und lieferte Defoe den Stoff seines Lebens.
Alexander Selkirk tanzt mit den Ziegen

Die Bootsbesatzung des englischen Kaperschiffs Duke staunte nicht schlecht über die merkwürdige Gestalt, die ihr am 12. Februar 1709 beim Landgang am Strand der Pazifikinsel Más a Tierra begegnete: Da stand urplötzlich ein zotteliges Wesen, barfuß und in Ziegenfell gehüllt. Das Logbuch von Kapitän Woodes Rogers (1679-1732) hält die Begegnung der besonderen Art für die Nachwelt fest: »Unsere Pinasse kehrte vom Ufer zurück, beladen mit Langusten und einem Mann in Ziegenfellen, der wilder aussah als die ursprünglichen Eigentümerinnen derselben.« An Bord der Duke, so erfahren wir weiter, habe der Fremde dann auf Englisch und um Worte ringend berichtet, dass er derjenige sei, der sich vor vier Jahren und vier Monaten auf diesem Eiland, knapp 700 Kilometer vor der chilenischen Westküste, aussetzen ließ: der schottische Bootsmann Alexander Selkirk.

Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass es sein Eremitendasein einmal zu Weltruhm bringen sollte – in Daniel Defoes Abenteuerroman »Das Leben und die Abenteuer des Robinson Crusoe«. Der 1719 erschienene Roman ist heute das weltweit meistgedruckte Buch nach der Bibel und dem Koran.

Politischer Vielschreiber

Als die Duke Selkirk an Bord nahm, ist der Mann, der diese Geschichte eines Tages zu einem Roman verarbeiten wird, 49 Jahre alt und in London als hoch produktiver politischer Publizist bekannt. Defoe schreibt über Gott und die Welt. Dabei hätte er ursprünglich ein Mann der Kirche werden sollen.

Anfang 1660 als Sohn einer gutbürgerlich-puritanischen Talghändler- und Fleischerfamilie in London geboren, wuchs der junge Daniel in einer bewegten Zeit auf. Es war die Zeit, in der England die Restauration der Stuart-Monarchie unter Karl II. (regierte 1660-1685) und Jakob II. (regierte 1685-1689) erlebte und in der mit der unblutigen »Glorious Revolution« (1688) der Weg hin zur parlamentarischen Monarchie in England geebnet wurde. Gleichzeitig zeichneten sich während dieser Umbruchphase erstmals die Konturen politischer Parteien ab. Auf der einen Seite die Whigs, die sich für ein starkes Parlament und weitgehende religiöse Freiheit einsetzten, auf der anderen Seite die Tories, die einen starken Monarchen, religiösen Konformismus und eine straff organisierte anglikanische Kirche favorisierten. Die Herausbildung politischer Parteien brachte alsbald auch die ersten Zeitungen hervor, die zu wichtigen Organen des öffentlichen Meinungskampfes wurden.

Vater James Foe (das vornehme »De« setzte der Sohn erst später davor, um seinem Namen einen aristokratischen Anstrich zu verpassen) gehörte der von der englischen Hochkirche verfolgten religiösen Minderheit der Dissenters an. »Abweichler« nannte man in England alle Andersgläubigen, die nicht zur anglikanischen Hochkirche gehörten – Quäker, Methodisten, Presbyterianer. Diese Nonkonformisten waren per Gesetz von vielen gesellschaftlichen Positionen ausgeschlossen, seit König Karl II. 1662 allen Dissenters den Zugang zu höheren Schulen, kirchlichen Ämtern, Universitäten und zu sämtlichen Staatsämtern verbot.

Daniel, der nach dem Willen seines Vaters eigentlich Geistlicher hätte werden sollen, schlug angesichts der staatlichen Restriktionen eine Karriere als Kaufmann ein. Anstatt mit dem Evangelium beschäftigte er sich fortan mit Soll und Haben, handelte zunächst mit Strumpfwaren und, nachdem er 1684 die Tochter eines reichen Weinküfers geehelicht hatte, auch mit Wein, Tabak, Holz, Käse, Anchovis. Daneben betätigte er sich als Ziegelfabrikant und verkaufte Schiffsversicherungen.

Daniel Defoe | Bevor Defoe seinen Bestseller veröffentlichte, war der »erste Journalist« vor allem für scharfzüngige politische Schriften bekannt.

Ende der 1680er Jahre stieg Defoe in den Überseehandel ein. Seine neue Profession führte den Anfang 30-Jährigen zwar auf viele Reisen, brachte ihm jedoch 1692 den Bankrott. Da er bei seinen Kreditgebern mit mehr als 17 000 Pfund Sterling in der Kreide stand und diesen Betrag – nach heutiger Kaufkraft fast vier Millionen Euro – nicht bezahlen konnte, wurde er zu einer Gefängnisstrafe im Fleet Prison verurteilt, wo man seinerzeit vorwiegend Schuldner und Bankrotteure inhaftierte. Defoe verlor sein Familienhaus, sein Strumpfhosengeschäft und blieb für den Rest seines Lebens verschuldet. Lediglich die Ziegelfabrik mit stellenweise mehr als 100 Mitarbeitern warf noch bescheidene Gewinne ab.

Vater des britischen Journalismus

Nachdem er als Kaufmann Schiffbruch erlitten hatte, verlegte sich Defoe aufs Schreiben, mit dem er ein einigermaßen auskömmliches Leben führen konnte. Er besaß eine rege Fantasie und eine flinke Feder, war äußerst wortgewandt und hatte ein ausgesprochen feines Gespür für das, was die Leute lesen wollten. »Es gab kaum ein Thema, über das er sich nicht ausließ«, so der Gießener Anglizist Ansgar Nünning. Tatsächlich verstand sich der talentierte Vielschreiber auf unterschiedliche literarische Genres – Essays, Reiseberichte, religiöse Erbauungsschriften, Polemiken – und diverse Themen aus Politik und Gesellschaft. Er veröffentlichte ein Erbauungsbuch über »Religiöse Gattenwahl« sowie den Dirnen- und Diebinnen-Roman von der »Berüchtigten Moll Flanders«; er publizierte einen Zukunftsentwurf über »Soziale Projekte« und ein Aufklärungsbuch über »Eheliche Hurerei«, eine »Politische Geschichte des Teufels« und eine »Geschichte der Union von Großbritannien«; er verfasste Denkschriften über den Ausbau des Spionagenetzes und ein Versepos über »Göttliches Recht«.

Bekannt wurde Defoe aber hauptsächlich durch seine politischen Pamphlete. Es war der Beginn seiner Karriere als »Ahnherr des britischen Journalismus«. 1687 publizierte er sein erstes politisches Pamphlet gegen die Kirchenpolitik Jakobs II., in dem er die Aufhebung der Strafgesetze gegen Nichtanglikaner und Katholiken als reines parteitaktisches Manöver verwarf. Damit begab sich der Meinungsjournalist Defoe auf vermintes Gelände, war doch die Frage nach dem rechten Glauben gerade auch in England ein äußerst heikles Thema. Bereits zwei Jahre zuvor, im Juni 1685, hatte der Whig-Sympathisant Defoe politisch Farbe bekannt, indem er den Staatsstreich des Herzogs von Monmouth, einem Halbbruder König James' II., unterstützte, und dabei mehr Glück als Verstand gehabt, dass er nach der Niederschlagung des Aufstandes der Verurteilung durch die berüchtigten Sondergerichte (Bloody Assizes) entging.

Auftragsschreiber

In der Folgezeit diente sich Defoe als Auftragsschreiber wechselnden Regierungen an, schrieb einmal für die liberale Whig-Partei, einmal für die konservativen Tories. In diese Zeit fällt eine Reihe von journalistischen Streitschriften, die ihn nicht nur in Konflikt mit der Staatsmacht, sondern auch mit seinen Schriftstellerkollegen brachten. Die verachteten ihn ohnehin schon wegen seiner niederen Herkunft und »hohen Meinung von sich selbst«. Für Jonathan Swift (1667-1745) war Defoe ein »ungebildeter Schmierfink«, und Alexander Pope (1688-1744) hieß ihn einen »dogmatischen Schurken«. Was beide aber vor allem auf die Palme brachte, war der Umstand, dass sich dieser »salbungsvolle Vielschreiber« jedem für Geld andiente. »Grub Street Authors« nannte man solche Auftragsschreiber: literarische Prostituierte.

Defoe fochten derartige Anwürfe wenig an, schließlich bestritt der gescheiterte Kaufmann mit den Auftragsarbeiten seinen Lebensunterhalt. Einen Namen machte er sich mit zwei streitbar-ironischen Schriften, in denen er mit der spitzen Feder des Essayisten zu tagespolitischen Fragen kritisch Stellung bezog. In seinem 1701 veröffentlichten, satirischen Gedicht »The Trueborn Englishman« (Der waschechte Engländer) schrieb er gegen die Fremdenfeindlichkeit im liberalen England an. Und im Jahr darauf erschienenen Traktat »The Shortest Way with Dissenters« (Kurzer Prozess mit den Abweichlern, 1702) geißelte er die anglikanische Kirche wegen ihrer religiösen Intoleranz gegenüber Andersgläubigen. Damit handelte sich Defoe handfesten Ärger ein, hatte er doch darin die Geistlichkeit mächtig veräppelt. Denn seine Forderung, alle Nonkonformisten schnellstmöglich zu vernichten, hätte subversiver nicht sein können. Anfangs von der anglikanischen Kirche bejubelt, stellte sich bald heraus, dass das Ganze ironisch gemeint war. Nach dem Verfasser der »aufrührerischen Schrift« wurde steckbrieflich gefahndet. Der Inkriminierte tauchte unter, wurde aber nach fünf Monaten gefasst und vor Gericht gestellt. Unglücklicherweise gehörten sowohl die Richter als auch die Geschworenen zu denjenigen, die Defoe zuvor schon in Pamphleten mit beißendem Spott überzogen hatte, so dass das Urteil eine ausgemachte Sache war. Defoe wurde zu einer hohen Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt und für drei Tage an den Pranger gestellt.

Während Defoe seine Haftstrafe im berüchtigten Newgate-Gefängnis absaß, erhielt er die Hiobsbotschaft, dass die Ziegelei, von deren Einnahmen seine Familie während seiner Inhaftierung mehr schlecht als recht hatte leben können, geschlossen wurde. Diese existenzielle Notlage erklärt wohl auch, warum sich der Dissenter Defoe für die Sache der konservativen Tories einspannen ließ, die ihn aus dem Gefängnis freikauften. Sie taten es freilich nicht umsonst: Der Freikauf war an die Bedingung geknüpft, als Journalist für die Tories zu arbeiten. Defoe stimmte zu. 1704 gründete er mit »The Review« die erste politische Zeitung Englands, die zwischen 1704 und 1713 dreimal in der Woche erschien und die er zum Großteil mit eigenen Texten füllte. Defoe, der Unmittelbarkeit und Detailreichtum zu seinem publizistischen Prinzip erhob, beschränkte sich nicht nur auf bloßes Bekanntmachen von Neuigkeiten, sondern versah diese – ein Novum im Journalismus – mit ›eigenen‹ Kommentaren. Wobei diese zumeist die Meinung seiner Auftraggeber widerspiegelten. Einmal in den Fängen der Staatsmacht, ließ er sich bald auch für Spionagedienste der Tory-Partei in Schottland einspannen.

Verkrachte Existenz

Von dort trat zur selben Zeit ein anderer Mann eine Reise an: jener Alexander Selkirk, den die Crew der Duke Anfang 1709 aus seinem selbst gewählten Eremitendasein befreien wird.

Dass der 1676 im schottischen Fischerort Largo bei Edinburgh als Sohn eines Schuhmachers geborene Selkirk überhaupt in die Situation kam, mehr als vier Jahre seines Lebens auf einer einsamen Insel, 11 000 Seemeilen von der Heimat entfernt, zu verbringen, ist den Umständen der Zeit, aber auch der streitbaren Natur des in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Teenagers geschuldet.

Seit 1701 kreuzte die aufstrebende Seemacht England mit der absteigenden Weltmacht Spanien und der dominierenden Kontinentalmacht Frankreich die Klingen im so genannten Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713). Der Waffengang, der nicht nur halb Europa zum Schlachtfeld machte, sondern die Kämpfe auch auf die überseeischen Kolonien ausdehnte, brachte mit der Freibeuterei eine Art von Kriegsführung hervor, die laut dem britischen Marinehistoriker Andrew Gordon »zu einer Art Volkssport der Engländer« wurde. Männer wie Blackbeard (um 1680-1718) oder der berüchtigte englische Freibeuter William Dampier (1651-1719), durch amtliche Kaperbriefe Ihrer Majestäten legitimiert, führten auf den Weltmeeren einen versteckten Wirtschaftskrieg, indem sie fremde Schiffe aufbrachten. Als Helden ihrer Zeit übten sie besonders auf die jüngere Generation eine große Anziehungskraft aus, wie der britische Kultursoziologe Richard Hoggart feststellte. Die Suche nach Abenteuer und die Aussicht auf schnelles Geld weckten die Sehnsüchte vieler junger Männer. Auch Alexander Selkirk träumte von einem aufregenden Leben fern der heimischen Eintönigkeit. Der notorische Tunichtgut, der seiner Biografin Diana Souhami zufolge keinem Händel aus dem Weg ging und mehrfach wegen Schlägereien mit dem Gesetz in Konflikt geriet, nutzte die erstbeste Gelegenheit, um seiner Heimat den Rücken zu kehren. Im gleichen Jahr (1695), in dem er wegen ungebührlichen Verhaltens in einem Gotteshaus vor die Kirchenversammlung zitiert wurde, heuerte er auf einem Schiff der »Schottischen Gesellschaft« an. Auf hoher See eignete sich der 19-jährige Selkirk sehr schnell nautische Kenntnisse an, weswegen ihn später William Dampier als Steuermann mit an Bord der HMS Saint George nahm.

Blick über Selkirks Insel | Die Robinson-Crusoe-Insel, früher Más a Tierra, ist die zweitgrößte der Juan-Fernández-Inseln und heute Heimat von rund 800 Menschen. Alexander Selkirk hatte das knapp 50 Quadratkilometer große Inselchen noch ganz für sich.

Zusammen mit der HMS Cinque Ports, einem überalterten 96-Tonner, stach die Saint George 1703 in Richtung Südpazifik in See, wo man im Auftrag der britischen Krone Jagd auf dickbäuchige spanische Galeonen machen wollte. Doch die Erfolge im Kaperkrieg blieben aus, und das Dasein in der Enge an Bord zerrte an den Nerven der Besatzung. Es kam zu Spannungen, für die nicht selten Selkirk verantwortlich war. Um die Lage zu beruhigen, versetzte Dampier einige der Hitzköpfe, darunter Selkirk, kurzerhand auf die Cinque Ports, wo der herrische Leutnant Thomas Stradling das Kommando für den an Skorbut gestorbenen Kapitän Charles Pickering übernommen hatte.

Reif für die Insel

Doch auch hier sorgte der leicht aufbrausende Raufbold für allerlei Querelen, überwarf sich bald mit dem erst 21 Jahre alten Kapitän und der halben Schiffsbesatzung. Als die Cinque Ports Anfang September 1704 die im Südpazifik gelegene Juan-Fernández-Inselgruppe anlief, um frisches Trinkwasser an Bord zu nehmen, fasste der inzwischen 28-jährige Selkirk einen folgenschweren Entschluss: Er ließ sich auf der unbewohnten Insel Más a Tierra an Land setzen. Was den Aussteiger tatsächlich dazu bewog, ein einsames Leben fernab der Zivilisation zu führen, kann keiner mehr genau sagen. Vielleicht waren es die ständigen Reibereien an Bord, vielleicht war es auch – wie Selkirk später berichtet – der Rumpf der Cinque Ports, den Bohrmuscheln, die Borkenkäfer der Meere, wie ein Sieb durchlöchert haben, so dass er sich dem Kaperschiff nicht länger anvertrauen wollte. Fest steht, dass Selkirk zunächst das Richtige tat: Nur wenige Wochen später ging die Cinque Ports unter und riss die gesamte Mannschaft mit in den Tod.

Selkirks neues Zuhause findet sich zwischen dem 33. und 34. Grad südlicher Breite vor der Küste von Südchile auf der Höhe von Valparaiso im Pazifischen Ozean. Die Insel ist rund 22 Kilometer lang und acht Kilometer breit. Selkirk hatte eine Flinte mit Munition, Beil und Messer, nautische Instrumente, einige Geräte und Werkzeuge, Tabak, eine Bibel und einige Bücher mitbekommen, dazu eine volle Kleiderkiste und Lebensmittel. Er richtete sich auf seiner Insel ein. Und was keiner für möglich gehalten hätte: Unter den Menschen nie klargekommen, überstand Selkirk seine Zeit in der Wildnis und Einsamkeit mit Bravour. Das lag vor allem an der üppigen Vegetation. In den Farn-, Palm- und Myrtenwäldern fand Selkirk, was er zum Überleben brauchte: wilde Ziegen, Schweine und Hühner, die Seeräuber einst als Notproviant auf dem entlegenen Eiland ausgesetzt hatten. Außerdem Fische, Krebse, Langusten und Früchte aller Art sowie Trinkwasser aus mehreren Quellen.

Anfangs bedrückte Selkirk die Einsamkeit sehr, und die Suche nach Nahrung gestaltete sich als nackter Überlebenskampf in der Wildnis. Zum Glück hatten ihm seine Schiffskameraden ein paar Katzen dagelassen, da er sich sonst der Heerscharen von Ratten nicht hätte erwehren können, die auf der Insel lebten und von seinen Vorräten fraßen. Mehrfach warf es Selkirk nieder, doch seine kräftige Konstitution überwand schließlich alle Krankheiten.

Mit der Zeit gewöhnte er sich an das Alleinsein und verlor jede Schwermut. Nachdem der Aussteiger eine Zeit lang in einer Höhle gewohnt hatte, baute er sich aus Pimentholz zwei Hütten, von denen er eine als Wohnung, die andere als Küche benutzte. Als seine Munition zu Ende ging, stieg er den wilden Bergziegen nach. Sie stammten von Paaren ab, die der spanische Seefahrer Juan Fernández als Frischfleischvorrat frei gelassen hatte. Er hatte die nach ihm benannten Inseln am 22. November 1574 entdeckt und vergeblich versucht, sie zu kolonisieren. Selkirk jedenfalls gelang es, einige der Tiere, die er nach einer mühseligen Kletterei fangen konnte, zu zähmen und durch einen Schlitz in den Ohren zu markieren. Noch Jahre später fand der Seefahrer Lord George Anson (1697-1762) Bergziegen auf der Insel, die das Zeichen Selkirks trugen.

Als seine Kleidung allmählich zerfiel, nähte sich Selkirk aus Ziegenfellen Rock, Hose und Mütze und sogar einen Regenschirm, der ihm auch als Schutz vor der sengenden Sonne diente. Feuer konnte er sich mit Stahl und Zunder schlagen, und Holz gab es (damals noch) reichlich. Nur an Salz mangelte es ihm anfangs, doch er lernte, sich das lebensnotwendige Mineral zu beschaffen – und zwar in den zahlreichen Lachen am Strand, in denen das Seewasser verdunstete.

Endlich, nach vier Jahren und vier Monaten, schaffte es Selkirk, von seinem Ausguck auf einem Berggipfel ein Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Die Männer der Duke bemerkten seine Rauch- und Feuerzeichen, und Kapitän Woodes Rogers setzte Kurs auf die Insel. Selkirk wurde in die Besatzung aufgenommen und tat Dienst als Bootsmann. Mit den britischen Freibeutern, die ihn gerettet hatten, segelte er fast noch drei Jahre um die halbe Welt, bis die Reise am 14. Oktober 1711 mit dem Einlaufen in die Themsemündung endete.

Zu neuen Ufern

Im gleichen Jahr, in dem Alexander Selkirk aus seinem selbst gewählten Eremitendasein erlöst wird, strandeten über 10 000 pfälzische Bootsflüchtlinge an Englands Küste. Auf der Flucht vor Armut und politischer Verfolgung in der Heimat baten die Protestanten um Asyl bei ihren Glaubensbrüdern. Defoe griff das Thema 1709 in seiner »Kurze[n] Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge« auf. Auf den gesunden Menschenverstand setzend statt auf engstirnige Emotionen riet er zur Aufnahme der Fremden. Sie wäre eine »Ehre und ein beträchtlicher Gewinn für die gesamte britische Nation, da sie den Handel fördert und den Reichtum des Königreiches mehret«. Doch Gehör fand Defoe nur bedingt. Aus Angst vor einer weiteren Flüchtlingswelle und Protesten der einheimischen Bevölkerung verhängte die britische Regierung einen Aufnahmestopp. Lediglich 3000 der Asylsuchenden durften in England bleiben. Den Rest der Flüchtlinge schickte man schon im Sommer 1709 teils aufs europäische Festland zurück, teils nach Irland oder brachte sie als billige Arbeitskräfte in die britischen Kolonien in Übersee.

Defoe am Pranger | Der höchst produktive Autor Defoe verscherzte es sich mehr als einmal mit den Mächtigen seiner Zeit. 1703 musste er an den Pranger.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der langsam auf das 50. Lebensjahr zugehende Schriftsteller und Journalist bereits alle Höhen und Tiefen des Lebens kennen gelernt. Er war ein hochtalentierter Journalist, aber ein lausiger Geschäftsmann gewesen und hatte sowohl wegen Zahlungsunfähigkeit als auch wegen Verleumdung im Gefängnis gesessen. Den Glauben an die Politik hatte er längst verloren. »Ich habe das Innere aller Parteien bis in den hintersten Winkel kennen gelernt, und ich sage: alles bloß Komödie und leere Fassade. Die Opposition heuchelt, um an die Regierung zu kommen, und die Regierung heuchelt, um an der Macht zu bleiben. Alles nur Maske.«

Defoe suchte nach neuen journalistischen Aufgaben. Für ein Skandalblatt schlüpfte er in die Rolle eines Ghostwriters prominenter Verbrecher seiner Zeit, deren Autobiografien anlässlich ihrer Exekution als Sonderdrucke vertrieben wurden. Der Erfolg gab ihm Recht, die fiktiven Selbstbeschreibungen der einschlägig bekannten Kriminellen fanden reißenden Absatz. Wieder einmal hatte der fixe Vielschreiber den richtigen Riecher. »Defoe«, so beschreibt ihn sein Biograf Maximillian Ernst Novak, vormaliger Professor für Englische Literatur an der University of California, Los Angeles, »finanziell stets klamm, schrieb alles, was einen Markt hatte.« Dass er marktgerecht auch seine Überzeugungen wechselte und sein Fähnchen nach dem politischen Wind richtete, hat der Mann mit der spitzen Feder selbst folgendermaßen gerechtfertigt: »Gefängnis, Pranger und Ähnliches mehr haben mich davon überzeugt, dass ich zum Erdulden nicht genug Mut besitze. So werde ich es künftighin nicht mehr für beleidigend halten, wenn die Leute mich einen Feigling heißen.«

Für Defoe war es Zeit, sich wieder einmal auf neues Terrain zu wagen: Er widmete sich einem ganz neuen literarischen Genre, das ihn weltberühmt machen sollte.

Papierheld Robinson

Dabei kam ihm zupass, dass die literarische Vorlage zu seinem Roman bereits existierte. Schon ein Jahr nach Selkirks Rückkehr nach England hatte Kapitän Rogers in seinem Reiseband »Cruising Voyage of Captain Woodes Rogers round the World« von dem schottischen Bootsmann Selkirk berichtet. Bald erzählte man sich landauf, landab von dem abenteuerlichen Schicksal des Gestrandeten. Seine Geschichte machte die Runde, in Tavernen und Pubs ebenso wie in den Salons und Klubs der ehrenwerten Gesellschaft. 1713 erschien sie in der Zeitschrift »The Englishman«.

Ob Daniel Defoe den schottischen Aussteiger selbst getroffen hat, lässt sich nicht mehr genau sagen. Fest steht allerdings, dass dem aufmerksamen Journalisten Selkirks Geschichte bald nach Bekanntwerden im »The Englishman« zu Ohren kam. Und dass ihm schnell bewusst wurde, welches Potenzial diese »Story« barg. Wieder hatte er den richtigen Riecher. Er nahm die Geschichte von der glücklichen Rettung des schottischen Matrosen Alexander Selkirk und begann im vorgerückten Alter eine neue Karriere als Romanautor. Der Titel seines Buchs war zugleich Inhaltsangabe: »Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemannes aus York: Welcher achtundzwanzig Jahre ganz allein auf einer unbewohnten Insel an der amerikanischen Küste, nahe der Mündung des großen Flusses Oroonoque lebte; an deren Strand er geworfen wurde nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam. Nebst einem Bericht, wie er wundersam durch Piraten gerettet wurde. Geschrieben von ihm selbst«.

Das war natürlich frei erfunden, denn die Figur »Robinson Crusoe« war ein Kunstprodukt und entsprang der Fantasie ihres Autors, der es meisterhaft verstand, wenig Wahres mit viel Erfundenem zu vermischen. Es gab aber das verbürgte Schicksal von Alexander Selkirk, dessen Erlebnisse Defoe literarisch ausschmückte, um die Dramaturgie der Handlung zu steigern.

Hierzu gehört die Begegnung mit nackten Menschenfressern und dem gehorsamen Wilden Freitag, den Robinson vor den Kannibalen rettete und ihn zum gottesfürchtigen Protestanten erzog. Ebenso in die Kategorie künstlerische Freiheit fällt die Wahl der Örtlichkeit: Defoe verlegt die Handlung des Geschehens auf eine tropische Insel in der Karibik, eine Weltregion also, in der seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus Geschäft und Sklavenhandel blühten.

Robinson Crusoe der Erstausgabe | Die Titelseite der Erstausgabe zeigt Robinson Crusoe in der typischen Darstellung: mit hohem Hut und Fellkleidung – nur der Sonnenschirm fehlt hier noch.

Auch der Titelheld, den manche Literaturhistoriker für eine verkappte, idealisierende Selbstdarstellung des Autors halten, unterscheidet sich von der historischen Vorlage. Defoes Robinson ist kein schottischer Rabauke, sondern ein 1632 im mittelenglischen York geborener gottesfürchtiger Mann mit deutschem Migrationshintergrund. Nach dem Willen des Vaters, eines aus Bremen ausgewanderten Kaufmanns, der ursprünglich Kreutzner hieß, soll der Filius in seine Fußstapfen treten. Doch statt die Handelsgeschäfte des Vaters zu übernehmen, zieht es den 27-Jährigen in die Ferne. Ohne von den Eltern Abschied zu nehmen, heuert Robinson auf einem Frachter an, segelt über den Atlantik, kommt in Brasilien zu Geld, kauft eine Zuckerplantage und besteigt erneut ein Segelschiff, um Sklaven in Afrika zu kaufen. Das Schiff gerät in Seenot. Robinson strandet als einziger Überlebender am 30. September 1659 auf einer tropischen Insel in der Karibik, wo die große Überlebensübung beginnt. Allerdings nicht vier Jahre und vier Monate, wie bei Selkirk, sondern ganze 28 Jahre, zwei Monate und 19 Tage.

Das Buch fand reißenden Absatz. Kurz nach Erscheinen am 25. April 1719 war die erste Auflage von 1000 Exemplaren im Handumdrehen vergriffen. Schon ein Jahr später zählte man in Deutschland allein fünf Übersetzungen. Heute ist der in alle Kultursprachen übersetzte Abenteuerroman ein belletristischer Weltbestseller. Doch erst die einfühlsame Bearbeitung des Hamburger Pädagogen Joachim Heinrich Campe im Jahr 1779 machte das Buch zur fesselnden Kinderlektüre, die schon Goethe als »Evangelium der Kinder« pries.

Unrühmliches Ende

Zum Zeitpunkt seines Erscheinens war der Mann, der die Vorlage zu diesem Roman geliefert hatte, bereits wieder auf hoher See. Denn anders als sein Alter Ego Robinson, der als gereifter Mann in die Zivilisation zurückkehrt und dort Fuß fasst, kommt Alexander Selkirk mit dieser nicht mehr klar. Das Prisengeld von 800 Pfund Sterling, mit dem er in seine Geburtsstadt Largo zurückgekehrt war, erfüllte den Weitgereisten nicht. Ein Journalist zitierte ihn mit den Worten: »Ich habe jetzt 800 Pfund, aber nie wieder werde ich so glücklich sein wie damals, als ich keinen Viertelpenny besaß.« Geld allein macht eben doch nicht glücklich.

Selkirk, der in der Einsamkeit sein Glück fand, kann das Leben daheim nicht lange ertragen. Er verfiel in sein altes Lotterleben, soff, prügelte sich, führte zwei Ehen gleichzeitig und eckte mit der Justiz an. Bald packte ihn die Wehmut nach seinem Vagabundendasein auf den Weltmeeren. 1717 heuerte er als Erster Maat auf der HMS Weymouth an. Knapp vier Jahre lang fuhr Alexander Selkirk noch zur See, dann, am 13. Dezember 1721, raffte ihn an Bord das Gelbfieber im Alter von 45 Jahren dahin. Der Mann, der in seinem literarischen Leben Robinson hieß, endete im realen Leben vor der Westküste Afrikas, auf hoher See in einem Seemannsgrab. So steht es auf der Gedenktafel, die 1868 von Kommodore Powell und den Offizieren der HMS Topaze auf dem Cerro Mirador in der Nähe von Selkirks Aussichtspunkt errichtet wurde. Dies ist eine der wenigen Überbleibsel, die an den schottischen Matrosen Alexander Selkirk erinnern.

Nicht einmal »seine« Insel trägt heute seinen Namen. Stattdessen benannte man sie 1966 nach Defoes Robinson Crusoe. Romanfiguren, die sich mit Kannibalen herumschlagen und einen Eingeborenen zum Freund haben, liegen den Menschen eben doch näher als kauzige Raufbolde, die mutterseelenallein einen winzigen Flecken Erde im Ozean bewohnen.

Und Daniel Defoe? Während sein Romanheld bis zum 73. Lebensjahr seinen Lebensabend glücklich und zufrieden im Kreis der Familie verbrachte, war dem Autor, der gleich alt wurde, ein so friedliches Ende nicht vergönnt. Wieder einmal in Geldnöten hatte er das Manuskript zu seinem »Robinson« dem Londoner Verleger William Taylor für nur zehn Pfund Sterling und gegen eine geringe prozentuale Beteiligung bei weiteren Auflagen verkauft. Während sich der Verleger an dem Roman eine goldene Nase verdiente, ging der Autor fast leer aus.

Von seinem belletristischen Weltbestseller war Daniel Defoe nur der Nachruhm geblieben. Gesundheitlich angeschlagen und stets von den Gläubigern für frühere Schulden verfolgt, war er aus Angst, im Alter im Gefängnis zu landen, gezwungen, sich für den Rest seines Lebens zu verstecken. Der achtfache Familienvater verließ seine Familie und tauchte in der Anonymität der Themsemetropole unter. Dort starb er am 26. April 1731 einsam und in Armut in einer billigen Pension eines Londoner Vororts.

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