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Ägyptische Papyri: Der Schatz von Elephantine

Was unscheinbar aussieht, birgt für Forscher wertvolles Wissen. Mit Hilfe von Computertomografen haben sie fragile Papyrusreste von der Nilinsel Elephantine wieder lesbar gemacht.
In den unscheinbaren Kisten lagerten seit über 100 Jahren Papyrusreste von der Nilinsel Elephantine.

Manchmal haben schon ein paar wenige Buchstaben eine große Bedeutung. Für Ägyptologen etwa das koptische Wort »pjoe«. Übersetzt heißt es ungefähr so viel wie »oh Herr«. Es steht mit Tinte geschrieben auf einem rund 1500 Jahre alten Papyrus, der heute im Pariser Louvre liegt. Damals hatte jemand das Schriftstück zusammengelegt, gefaltet und es vermutlich nah am Körper als Amulett getragen. Wissenschaftler um die Ägyptologin Verena Lepper von der Berliner Humboldt-Universität haben dem Papyrus das Wörtchen entlockt. Nicht etwa, indem sie das fragile Päckchen auseinandergefaltet haben – sonst wäre es wohl in kleine Stücke zerfallen. Vielmehr ist es Leppers Team erstmals gelungen, solche jahrtausendealten Papyruspäckchen virtuell zu öffnen und ihre verborgenen Botschaften wieder lesbar zu machen.

Lepper und ihre Kollegen haben dafür eine eigene Methode entwickelt: »Wir haben einen neuen Forschungsansatz verfolgt und Methoden der Physik, Informatik, Archäologie sowie der Digital Humanities kombiniert«, sagt Lepper, die auch Kuratorin am Ägyptischen Museum und Papyrussammlung in Berlin ist. Die Forscherin rief dazu ein internationales Projekt ins Leben, »Lokalisierung von 4000 Jahren Kulturgeschichte – Texte und Schriften der Insel Elephantine in Ägypten«. Die Idee dahinter: Selbst unscheinbare Papyrusreste sollen auf ihren Textinhalt hin durchleuchtet werden. »Es gab bereits erfolgreiche Versuche, Pergament virtuell zu entblättern«, sagt Lepper. Doch bei Papyrus war es bislang nicht gelungen, Texte zu entziffern. Die Struktur des Materials und etwaige Schrift heben sich durch zu wenig Kontrast nicht voneinander ab. »Dass es jetzt funktioniert hat, ist schon eine kleine Sensation.«

Ein Unikum innerhalb der Altertumswissenschaften

Allein in der Papyrussammlung des Berliner Ägyptischen Museums lagern unter Leppers Obhut tausende Papyri und Fragmente aus Elephantine, einer kleinen Nilinsel ganz im Süden Ägyptens. Die Schriftträger liegen seit mehr als 100 Jahren in Metallkisten und Schachteln des Museumsdepots. Viele der schuhkartongroßen Behälter blieben unbeachtet, seit die deutschen Ausgräber diese Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin gebracht hatten. Lepper hatte 2015 begonnen, die Geheimnisse der Grabungskisten zu lüften. Darin befinden sich Papyri, teils aufgerollt, gefaltet, zerknüllt oder gar zerrissen. Was aussieht wie der Abfall eines altägyptischen Schreibers, ist ein enormer Fundus an historischen Dokumenten und Quellen. Fast 4000 Jahre Kulturgeschichte von Elephantine sind mit den Texten nahtlos dokumentiert – für Lepper ein absolutes »Unikum« innerhalb der Altertumswissenschaften.

Elephantine | Die Insel liegt im Süden Ägyptens, nahe dem ersten Nilkatarakt. Vor mehr als 110 Jahren haben französische und deutsche Archäologen dort Hunderte von Papyri und andere beschriebene Objekte entdeckt. Die Stücke decken vier Jahrtausende Kulturgeschichte ab.

Die bei der heutigen Stadt Assuan gelegene, gerade einmal zwei Quadratkilometer große Insel Elephantine ist inzwischen ein Glücksfall für die Forschung. Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert gelangten die ersten Papyri auf den europäischen Antikenmarkt. Bald darauf, am Anfang des 20. Jahrhunderts, begannen Gelehrte, systematisch nach Schriftstücken zu suchen. Dabei sind die Objekte und ihre Fundplätze nicht so dokumentiert worden wie bei heutigen Grabungen. Der Archäologe Otto Rubensohn führte zusammen mit dem Papyrologen Friedrich Zucker im Auftrag der Königlichen Museen zu Berlin zwischen 1906 und 1908 drei Grabungskampagnen auf Elephantine durch – zeitgleich arbeitete dort auch ein Team französischer Ausgräber unter der Leitung von Charles Clermont-Ganneau. Einen Teil ihrer Funde verschickten die Archäologen nach Berlin und Paris. Bis nach New York gelangten die Elephantine-Papyri mit dem US-Gelehrten Charles Edwin Wilbour, der 150 Kisten der wertvollen Fracht vor Ort gekauft hatte. Heute sind die Stücke über mehrere Museen verteilt.

Die Elephantine-Papyri erzählen die Geschichte einer erstaunlich multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Gemeinschaft. Die Insel war lange vor dem Alten Reich bewohnt, bereits vor dem 3. Jahrtausend v. Chr. ließen sich dort Menschen nieder. Die ältesten Schriftzeugnisse sind in Hieroglyphen oder in Hieratisch verfasst, der hieroglyphischen Schreibschrift. Später, im 1. Jahrtausend v. Chr., hatten sich die ägyptischen Zeichen dann längst gewandelt. Nun textete man in Demotisch, aber auch Schriften auf Aramäisch oder Griechisch sind aus jener Zeit überliefert. Aus nachchristlichen Epochen stammen koptische und arabische Zeilen. Vier Jahrtausende lang schrieben Menschen auf Papyrus, Leder, Pergament, Palmblätter und Tonscherben. Aus all diesen Schriften will Lepper die Kulturgeschichte der Insel extrahieren – und das damalige Leben der Menschen erforschen. So zeigten die Texte des 5. Jahrhunderts v. Chr.: »Elephantine war ein Schmelztiegel, ein richtiger Mikrokosmos. Die Einwohner gingen kulturell und religiös frei miteinander um. Restriktionen und Labels, wie wir sie heute verteilen, spielten damals keine große Rolle«, sagt Lepper.

So finden sich wahre Erkenntnisschätze in dem Textsammelsurium, das nahezu alles von Medizin, Wissenschaft, Religion, Magie, Recht und Verwaltung bis zu Literatur und Geschichte abdeckt. Da sind etwa die Dokumente über eine Frau namens Mibtahiah. Sie lebte vor mehr als 2400 Jahren, sie war Jüdin, mehrfach verheiratet und geschieden, und sie verfügte frei über ihren eigenen Besitz. Andere Papyri wie ein Stück in Berlin berichten von einer jüdischen Söldnertruppe auf Elephantine, die dort im 5. vorchristlichen Jahrhundert ihren eigenen Tempel unterhielt.

Das friedliche Zusammenleben auf Elephantine

Doch das aus der Papyrusstaude gewonnene Material ist nicht nur reich an Informationen, sondern auch sensibel. Vieles blieb schlicht deshalb unlesbar, weil die fragilen Papyri zerfallen würden, wenn sie händisch aufgefaltet oder entrollt würden. Bislang jedenfalls. Denn da stehen sie nun, vier dunkle Buchstaben auf rissigem braunem Hintergrund, »pjoe«, die das koptische Wort für »oh Herr« ergeben, auf das sehr wahrscheinlich noch der Name des Angesprochenen folgte, »Jesus Christus«.

Das Papyruspäckchen | Händisch lässt sich das gefaltete Schriftstück aus Elephantine nicht mehr öffnen. Das fragile Material würde zerfallen.

»Wir haben hier ein Amulett aus dem 5. bis 8. Jahrhundert mit eindeutig christlichem Bezug«, sagt Lepper. Es sei ein Beleg dafür, dass auch Christen auf Elephantine gelebt haben. Man schrieb Texte auf Koptisch, die arabische Namen enthalten, sowie arabische Texte, die christliche Personen erwähnen. »Beide Kulturen lebten offenbar friedlich zusammen«, ist Lepper überzeugt.

Dass die Forscher dem dunkelbraunen Päckchen die Informationen entlocken konnten, ist der Erfolg einer internationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit: Die Berliner Trias aus Helmholtz-Zentrum, Zuse-Institut (ZIB) sowie Ägyptischem Museum und Papyrussammlung kombinierte in ihrem Projekt Algorithmen, Falttechnikexpertise und Computertomografie. Bei letzterem Verfahren ließen die Forscher das Papyruspäckchen auf einer Drehscheibe um eine Achse rotieren und durchleuchteten es so von vielen verschiedenen Seiten mit Röntgenstrahlen. Das Ergebnis sind hunderte einzelne Schnittbilder, die am Computer zu einem dreidimensionalen Bild zusammengesetzt werden. Hinzu kommt: Trifft ein Röntgenstrahl auf das Untersuchungsobjekt, wird er teilweise absorbiert – wie stark, hängt von der Dichte des Materials ab. Metallhaltige Tinte etwa nimmt die Strahlung stärker auf als der Papyrus, auf dem mit ihr geschrieben worden ist. Auf dem Bildschirm entsteht dann ein genügend großer Kontrast. Die Schrift wird lesbar.

Profilansichten eines Papyrus | Die Forscher haben die Computertomografendaten eines gefalteten Papyrus in mehrere Richtungen »geschnitten«. Oben links eine CT-Ansicht mit den Schnittlinien (a, b, c), daneben die jeweiligen Profilansichten. Hieraus berechneten die Mathematiker, wie das Schriftstück virtuell aufzufalten ist.

Um die mit metallhaltiger Tinte beschrifteten Papyri ausfindig zu machen, untersuchten die Forscher mehrere Überreste zunächst mit einem Handröntgengerät. Im Louvre wurde die internationale Gruppe dann fündig. Dort lagerte das Amulettpäckchen, das französische Archäologen zwischen 1906 und 1908 auf Elephantine entdeckt hatten und das lesbare Texte versprach.

Altägyptisches Origami

Mit einem Computertomografen des Helmholtz-Zentrums durchleuchteten der Physiker Heinz-Eberhard Mahnke von der Freien Universität Berlin und sein Team das Päckchen mit einer Beschleunigungsspannung von 40 und 50 Kilovolt. Dies ergab genügend Daten, um ein dreidimensionales Bild zu erzeugen. Der Mathematiker Felix Herter vom ZIB entwickelte anschließend einen bestehenden Algorithmus fort, um das Päckchen virtuell auseinanderzufalten. »Hier hat sich wirklich gezeigt, wie wichtig die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit für unser Projekt war«, sagt Lepper. Denn der Mathematiker musste wissen, wie solche Papyruspäckchen überhaupt zusammengelegt wurden. »Dabei half ihm unsere Restauratorin«, erzählt die Berliner Ägyptologin.

Für ägyptische Papyri sind zahlreiche Knicktechniken belegt. Experten können oft schon an der Faltweise und den Bruchstellen erkennen, um welche Art von Text es sich handelt. Lepper und ihr Team wagten sich mit dem Pariser Päckchen an die so genannte magische Faltung, wie sie für rituelle Anlässe verwendet wurde. Dabei wurde der Papyrus zusammengelegt und dann zweimal gefaltet: einmal von der einen Seite nach innen, dann von der anderen Seite. Zuletzt klappte man das Päckchen noch einmal zusammen. Das ist an sich schon ein ziemlich komplexer Zustand für einen Algorithmus. Darüber hinaus erschwert es die Faserstruktur des Papyrus, einzelne Schichten zu erkennen. Wie beim Öffnen einer diffizilen Origamifigur musste der Algorithmus Faltung für Faltung rückwärts wieder aufklappen. In etlichen Einzelschritten rechnete er sich so zum Ziel.

Entblättert | Nachdem die Forscher das Papyruspäckchen aus dem Louvre virtuell auseinandergefaltet hatten, konnten sie das koptische Wort »pjoe« erkennen, zu Deutsch: »oh Herr«. Von vergleichbaren Texten wissen Ägyptologen, dass auf »pjoe« noch die beiden Buchstaben »is« folgten – eine Abkürzung des Namens Jesus Christus.

Mehrfach gefaltete Papyri – das ist sozusagen die Meisterklasse der Röntgenmethoden zur Erkennung von Schriftzeugnissen. Und erst der Anfang. Die rund 10 000 Elephantine-Papyri sind auf 60 Institutionen in 24 Ländern verteilt, die größten Konvolute befinden sich in Kairo, Berlin, Paris und New York – ein gigantisches internationales Puzzle, das Lepper gemeinsam mit ihren Kollegen nun Teil für Teil zusammensetzt und zugänglich macht. Dass noch immer etwa 80 Prozent der Handschriften unerforscht und unveröffentlicht weltweit in Kisten liegen, ist der Fundgeschichte geschuldet. Die Papyri gelangten eben nicht an einen einzigen Ort, sondern wurden über die halbe Welt verschickt und verkauft.

Open Access für die Papyrusforschung

Als die Sammlungen von Leppers ambitioniertem Projekt hörten, reagierten sie durchweg positiv, fast alle sagten ihre Unterstützung zu. Im Gegenzug haben Forscher nun die Möglichkeit, einen gigantischen Schatz an Informationen zu heben. Unter dem Titel »Rubensohn-Bibliothek« sind die ersten 1000 Schriftstücke aus Elephantine online verschlagwortet, katalogisiert, fotografiert, transkribiert und übersetzt. »Jeder kann unsere öffentliche Datenbank durchsuchen und das Material für eigene wissenschaftliche Fragestellungen heranziehen. So können in Zukunft etliche Folgeprojekte generiert werden«, berichtet die Ägyptologin.

Fingerspitzengefühl | Eine Restauratorin am Ägyptischen Museum in Berlin bearbeitet einen Papyrus aus Elephantine.

Das Rätsel um die gefalteten Handschriften hat man nach jahrelanger Arbeit und Tüftelei geknackt. Doch in der Antike wurden nicht nur metallhaltige Schreibflüssigkeiten genutzt, die meist aus Eisengallustinte bestehen. Sie hatte man aus Galläpfeln gewonnen. Daneben existierte auch Rußtinte. Dieses Gemisch wurde aus Holzkohle hergestellt. Diese Texte sind mit einem Standard-Computertomografen allerdings kaum abzubilden. Kohlenstoffhaltige Tinte und die Papyrusstaude sind in ihrer Struktur zu ähnlich, um einen ausreichenden Kontrast zu erzeugen.

Es gab zwar bereits viel versprechende Versuche. So hatten die Forscher Vito Mocella und Daniel Delattre versucht, verkohlte Papyrusrollen aus Herculaneum bei Pompeji virtuell zu öffnen. Mehr als ein paar Schriftzeichen wurden dabei allerdings nicht zu Tage gefördert – und selbst über deren Existenz wird innerhalb der Forschergemeinschaft heftig debattiert. Hoffnung besteht dennoch, da in einigen der Schriftrollen Spuren von Blei nachgewiesen werden konnten. »Es wäre schön, sich auch Papyri mit karbonhaltiger Tinte anzuschauen, aber das ist eine ganz eigene Studie«, sagt Lepper. Und dafür müssen die Forscher erst ein neues Verfahren entwickeln.

Anm. der Redaktion: Im Text hieß es, die Insel Elephantine sei im 3. Jahrtausend v. Chr. besiedelt worden. Korrekt ist aber, dass sie bereits vor dieser Zeit bewohnt war.

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