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Nationale Kohorte: Deutschlands Gesundheit

Wie beeinflusst unser Lebensstil das Risiko für Krankheiten, was deutet schon früh auf eine spätere Erkrankung hin und wer hat ein besonders hohes Gefährdungspotenzial für bestimmte Volkskrankheiten? Die mit Abstand größte und umfangreichste Kohortenstudie Deutschlands, die Nationale Kohorte, soll helfen, solche Fragen zu klären – mit einer riesigen Datensammlung.
Laboruntersuchung

Rund 200 000 Menschen im Alter von 20 bis 69 Jahren werden ab dem nächsten Jahr ungewöhnliche Post bekommen: eine Einladung zur Teilnahme an einer Studie, der Nationalen Kohorte. Sie werden gebeten, sich in einem Studienzentrum untersuchen zu lassen. Zur Testbatterie gehören unter anderem Lungenfunktionstest, Blutdruckmessung, EKG, Untersuchung der Mundgesundheit, Test der Sinnesorgane und der körperlichen und geistigen Fitness. Sie sollen außerdem Blut-, Urin-, Stuhl- und Haarproben abgeben sowie zahlreiche Fragen zu Lebensweise und Lebensbedingungen beantworten, etwa ob sie rauchen, wie viel Alkohol sie trinken, wie es um ihre Arbeitssituation bestellt ist, wovon sie sich ernähren, ob sie Sport treiben, Krankheiten haben, welchen Bildungsabschuss sie haben und wie ihr soziales Umfeld aufgestellt ist – alles im Dienst der Wissenschaft. "Wir wollen besser verstehen, wie sich Krankheiten entwickeln und wie man ihnen vorbeugen kann", fasst Rudolf Kaaks die Ziele dieser umfangreichen Langzeitkohortenstudie zusammen. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins Nationale Kohorte und Leiter der Abteilung Epidemiologie von Krebserkrankungen am Deutschen Krebsforschungszentrum.

Nach etwa vier Jahren wird sich das Prozedere in ähnlicher Weise wiederholen: Die gleichen Probanden werden wieder eingeladen, untersucht, befragt. Zwischendurch und später sollen sie zusätzlich in Fragebögen Auskunft über ihre dann aktuelle Lebensweise und eventuelle Krankheiten geben. Was hat sich geändert, sind Krankheiten aufgetreten? Die Grundidee ist, von einer Zufallsstichprobe der Gesamtbevölkerung, bei der die meisten gesund sind, Daten zu erfassen, die Untersuchungs- und Befragungsdaten sowie die biologischen Proben pseudonymisiert zu speichern und danach zu sehen, wer Jahre später woran erkrankt und wer nicht. "Dann kann man auf die Daten und Proben zurückgreifen, potenzielle Einflussfaktoren erkennen und sie vergleichen", erklärt Kaaks.

Dabei geht es vor allem um die großen Volksmalaisen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Krebs, neurodegenerative und neuropsychiatrische Krankheiten – vor allem Demenz und Depression –, Erkrankungen der Atemwege und Infektionskrankheiten. "Wir wollen die Entstehungsmechanismen dieser Krankheiten besser verstehen. Dann können wir auch besser davor schützen", so Kaaks. "Seit Jahren gibt es die Debatten: Soll man weniger rotes Fleisch essen oder ist es wichtig, sich zu bewegen, viel Obst und Gemüse essen und so weiter. Offen ist: Welche Faktoren davon sind die wichtigsten?" Außerdem wollen Kaaks und seine Kollegen Modelle entwickeln, mit denen man besser abschätzen kann, wie groß das Risiko für ein Individuum ist, eine bestimmte Krankheit zu entwickeln. So könne man beispielsweise feststellen, wer häufiger zur Vorsorge gehen sollte und wer nicht. Und mit Hilfe der Kohorte wollen die Forscher auch Biomarker finden, die sich für die Früherkennung nutzen ließen. So können Wissenschaftler auf die Biobank zurückgreifen und beispielsweise bei Personen, die einen Pankreaskrebs gehabt haben, nachsehen, ob in den Blutproben bereits ein prognostischer Marker vorhanden gewesen wäre.

Durchgeführt wird die Nationale Kohorte von 18 Studienzentren – Universitäten, Kliniken, Helmholtz-Zentren und Leibniz-Instituten –, die über ganz Deutschland verteilt sind. Das Projekt ist für die ersten zehn Jahre mit insgesamt 210 Millionnen Euro finanziert,zwei Drittel davon kommen direkt vom Bund, der Rest aus dem Etat der Helmholtz-Gemeinschaft. Insgesamt soll die Studie 25 bis 35 Jahre laufen, und für die Organisation wurde nun ein Verein gegründet, in dem alle Beteiligten Mitglied sind.

Prospektiv hat sich bewährt

Karl-Heinz Jöckel, Direktor am Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie am Universitätsklinikum Essen, ist der Vorsitzende des Vereins "Nationale Kohorte". Wie die meisten beteiligten Wissenschaftler hat er bereits Erfahrung mit prospektiven Kohortenstudien. In den letzten zehn Jahren koordinierte er die Heinz-Nixdorf-Recall-Studie, die sich auf die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzentriert hat. "Im Vergleich zu Studien, die erst ansetzen, wenn die Krankheit eingetreten ist, haben prospektive Kohortenstudien einen eindeutigen Vorteil: Ursache und Wirkung können nicht verwechselt werden. Wenn ich jetzt etwas tue, mache ich das unabhängig von einer zukünftigen Krankheit. Denn ich weiß ja noch nicht, dass ich erkranken werde", erklärt er.

Die Erkenntnisse solcher Kohortenstudien können helfen, Gesundheitsrisiken zu vermeiden, aber auch, wenn der Schaden erst einmal eingetreten ist, durch entsprechende medikamentöse Behandlung den Schaden zu begrenzen. So stammt beispielsweise die Erkenntnis, dass Bluthochdruck ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, aus der Framingham-Herz-Studie, der "Mutter aller Kohorten", wie sie Karl-Heinz Jöckel nennt. Vor der Studie waren sich die Experten noch nicht einig, ob man den Bluthochdruck, beispielsweise bei älteren Menschen, überhaupt behandeln sollte. "Das Ergebnis der Studie hat dann die Medizin revolutioniert", macht Jöckel deutlich. Mittlerweile werden viele Bluthochdruckpatienten auch mit Medikamenten behandelt. "Aus klinischen Studien wissen wir, dass diese Bluthochdrucktherapie wirksam ist: Sie verhindert Herzinfarkte", sagt der Experte. "Und wir wissen, dass auch durch die bessere Blutdrucktherapie die Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit vielen Jahren sinkt."

"Wir haben zu wenig verschiedene Proben, um die Fragen, wie Genetik und andere Risikofaktoren miteinander interagieren, statistisch relevant zu beantworten"
Karl-Heinz Jöckel

Eine andere bekannte prospektive Studie, die britische Ärzte-Studie, konnte zum ersten Mal statistisch eindeutig belegen, dass Tabakrauchen ein wichtiger Risikofaktor für Lungenkrebs ist. Davor hatten einige Wissenschaftler den Zusammenhang zwar schon vermutet, allgemein gab es aber noch keine eindeutige Erklärung für den Anstieg der Lungenkrebsfälle.

Größere Fallzahlen müssen her

Auch in Deutschland gab und gibt es bereits prospektive Kohortenstudien (zum Beispiel KORA, Heinz Nixdorf Recall Studie, SHIP). Tatsächlich ist sogar von fast allen vorangegangen Studien mindestens jeweils ein Wissenschaftler auch an der Nationalen Kohorte beteiligt. Doch die bisherigen Untersuchungen haben sich im Gegensatz zum jetzigen Großprojekt häufig auf bestimmte Krankheiten beschränkt, alle waren regional begrenzt und hatten im Vergleich deutlich weniger Teilnehmer. Natürlich könne man mit den in diesen Kohorten bereits gesammelten Daten und Proben weiterhin Forschung betreiben und tue das auch, so Jöckel. Doch für manche Fragestellungen reichen die bisherigen Erhebungen nicht mehr aus. Auch die vorhandenen biologischen Proben werden langsam knapp.

Vor allem aber sind die bisherigen Fallzahlen für viele Fragestellungen zu klein. "Früher blendete man beispielsweise den Faktor Genetik weit gehend aus, da man noch nicht die nötige Technik hatte. Heute haben wir zwar schon einige Proben aus früheren Studien für genetische Analysen verwendet, doch da stoßen wir schnell an eine Grenze: Wir haben zu wenig verschiedene Proben, um die Fragen, wie Genetik und andere Risikofaktoren miteinander interagieren, statistisch relevant zu beantworten", erklärt Jöckel.

Zwar kann man in begrenztem Umfang auch die Daten von verschiedenen Kohortenstudien gemeinsam auswerten, die es insgesamt auf etwa 100 000 Teilnehmer bringen. Das ist jedoch nur in begrenztem Umfang möglich, da die Studien sich zwar aneinander orientiert haben, jedoch immer mit etwas anderen Designs gearbeitet haben. Die Nationale Kohorte soll hingegen doppelt so viele Menschen erfassen. Die Experten rechnen mit einer Teilnehmerquote von 50 Prozent, weshalb rund 400 000 Personen angeschrieben werden müssen. Zusätzlich wollen die Forscher auch noch international mit anderen laufenden Studien kooperieren, weshalb das Studiendesign extra an die internationalen Vergleiche angelehnt wurde.

Möglichst viel sammeln

Für die deutschlandweite Erhebung planen die Mitglieder außerdem deutlich tiefer gehende Untersuchungen, als in den meisten Studien national und international in diesem Umfang bisher gemacht wurden – eine Untergruppe der Teilnehmer soll sogar noch genauer untersucht werden, bis hin zur Magnetresonanztomografie des gesamten Körpers. "So etwas ist in einer so großen Studie weltweit einmalig", sagt Kaaks. Beim Blick auf die Liste aller geplanten Untersuchungen und Befragungen gewinnt der Leser denn auch leicht den Eindruck, dass bei der Nationalen Kohorte vor allem eines gemacht wird: emsig gesammelt. Und zwar so viel wie möglich.

"Wir versuchen die Biobank mit den Proben möglichst divers aufzubauen, so dass sie in Zukunft für eine Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen nutzbar sein wird", erklärt Kaaks. "Sowohl an den biologischen Proben als auch in gewissem Maß an den Daten aus den bildgebenden Verfahren können später viele verschiedene Vergleiche gemacht werden, die man heute noch gar nicht genau benennen kann." Karl-Heinz Jöckel betont: "Wir machen keine Feld-, Wald- und Wiesensammlung. Dennoch: Am Ende so einer Studie, wenn sie 15 oder 20 Jahre gelaufen ist, könnte etwa der Verdacht aufkommen, dass ein Stoff eine bestimmte Krankheit mitverursacht. Und gleichzeitig ist bekannt, dass dieser Stoff bei einer Bedingung, etwa durch Rauchen, entsteht. Dann müssen sich die Forscher anhand der Studiendaten ansehen, ob diese Bedingung bei denen, die die Krankheit bekommen haben, häufiger war als bei denen, die nicht erkrankt sind. "Wenn man Glück hat, hat man diese Bedingung mit abgefragt. Insofern gibt es schon immer den unterschwelligen Wunsch nach Sammeln von möglichst vielen Daten", sagt Jöckel.

Trotzdem geschehe dies nicht ziellos. Die Fragen, die die Wissenschaftler mit der Studie stellen, werden entweder nach aktuellem Wissensstand üblicherweise bei solchen Studien gefragt – etwa nach dem Rauchverhalten. Oder es stehen ganz bestimmte Hypothesen dahinter, die zuvor mit vielen Experten erarbeitet worden sind. Im Prinzip ist das Sammeln der Daten der Nationalen Kohorte erst der erste Schritt. "Hier wird eine Forschungsinfrastruktur für die medizinische Forschung geschaffen", erläutert Karl-Heinz Jöckel. "Die Auswertung, die Forschung mit den Daten, kommt erst danach."

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