Direkt zum Inhalt

Heimat: Die Alpen bröckeln

Nirgendwo zeigt sich in Mitteleuropa der Klimawandel stärker als in den Alpen. Der Fels wird instabiler. Selbst Wahrzeichen wie das Matterhorn sind betroffen.
Das Matterhorn von der Schweiz aus gesehen. Direkt östlich des Berges lief eine wichtige Verbindungsroute über den Bergkamm.

Es ist der frühe Morgen des 24. Juli 2019, als sich am Matterhorn ein schweres Unglück ereignet. Ein Bergführer und sein Gast passieren gerade den Kreuzsatz unweit des Gipfels, als sich plötzlich ein Fels löst. Gesteinsmassen reißen die beiden Männer 800 Meter in die Tiefe. Sie haben keine Chance. Die Steinschläge dauern den ganzen Tag, die Leichen können erst am Abend aus der Wand geborgen werden.

Dass Menschen am Matterhorn verunglücken, gehört zur Geschichte dieses Bergs und seiner Besteigung. Von Anfang an, auch wenn Felsstürze ein eher seltenes Ereignis sind. Nach diesem Unglück allerdings schleicht sich in und um Zermatt schnell ein Verdacht ein, denn es geschieht zum Höhepunkt der größten Hitzewelle des Sommers 2019. Haben die hohen Temperaturen den Felsen gelöst? Lässt der Klimawandel das berühmte Wahrzeichen der Schweiz immer schneller zerbröseln?

Anfang August schreckt eine Schlagzeile dann das ganze Land auf: »Matterhorn soll gesperrt werden«, titelte die Schweizer »SonntagsZeitung«. Der Permafrost taue in immer höheren Lagen, Bergführer fordern daher Schutz für Alpinisten. Die Nachricht verbreitet sich nicht nur in der Schweiz. Weltweit macht sie ihre Runde, immerhin handelt es sich um das helvetische Markenzeichen. Für Nichtschweizer klingt es, als ob nicht nur ein Berg, sondern gleich das ganze Land abgeriegelt werden soll. Doch in Zermatt regte sich schnell Widerstand. »Das Matterhorn wird nicht gesperrt«, ließ dort die Gemeindepräsidentin mitteilen. Man verstehe die Aufregung nicht.

Heißer Sommer hinterließ Spuren

Das Matterhorn, Ikone der Alpen, kann also weiter erklommen werden. Dabei bleibt es, und doch hat dieser Sommer einiges verändert. Die Hitzewellen haben Spuren im Hochgebirge hinterlassen, mehrmals stieg die Null-Grad-Grenze weit über 5000 Meter. Die Alpen schwitzen, und die offensichtlichen Folgen der globalen Erwärmung sind seit Jahrzehnten bekannt: Gletscher schmelzen und ziehen sich zurück. Weniger bekannt ist, was unterhalb der Oberfläche passiert: Dort taut der Permafrost, jener Kitt der Alpen, der die Berge im Innersten zusammenhält.

© DonQuijoteTV
Bergsturz in der Schweiz

Was das mit den Bergen macht, untersucht der Geoinformatiker Jan Beutel an der ETH Zürich. Permafrost, auch Dauerfrostboden genannt, ist permanent gefrorener Boden oder gefrorenes Gestein mit unterschiedlicher Mächtigkeit. Von 2500 bis 3000 Metern aufwärts sind die alpinen Riesen tiefgefroren, je nach Lage, Boden, Gefälle und Exposition des Hangs. »Man muss sich Permafrost wie einen Gefrierschrank vorstellen, den man längere Zeit nicht abgetaut hat«, erklärt Beutel. Das Eis verklebt Fächer und Tür, irgendwann lässt sich nichts mehr öffnen – alles ist kompakt gefroren. So ähnlich ist es im Gebirge: Permafrost verbackt Fels, Stein und Geröll, verleiht den Bergen Halt und Stabilität.

Auf Permafrost trifft man nicht nur im Hochgebirge, er bedeckt außerdem weite Landflächen: Ein Viertel der Nordhalbkugel ist im Untergrund durch und durch gefroren. Man findet den tiefgefrorenen Boden dort, wo die Temperatur im Jahresmittel unter dem Gefrierpunkt bleibt. In den Alpen sind fünf Prozent der Fläche unter Permafrost erstarrt, das ist das Doppelte des mit Gletschern bedeckten Gebiets. Sie bleiben aber nicht zu allen Jahreszeiten wie ein Eisblock gefroren. Im Sommer weicht die obere Schicht des Permafrosts auf, sie wird daher als Auftauschicht bezeichnet oder als »active layer«.

Jan Beutel hat mit seinen Kollegen das Messnetz PermaSense aufgebaut, mit dem die Berge im Schweizer Alpenbogen erforscht und überwacht werden. Darunter auch das Jungfraujoch und natürlich das Matterhorn im Wallis. Allein am Matterhorn hat Beutel an 29 Stellen verschiedene Sensoren installiert, die seit elf Jahren permanent Daten nach Zürich ins ETH-Hauptgebäude senden. Es ist das ambitionierteste Projekt zur Überwachung der Alpen, noch nie wurden die Berge über einen so langen Zeitraum derart minutiös untersucht.

Warnsystem für die Täler und Dörfer

Hinter dem Projekt steckt wissenschaftliche Neugier. Aber es erfüllt auch den Sicherheitsanspruch der Bevölkerung. 17 Sensortypen wachen über die Hänge, um die Alpendörfer zu schützen. Das Warnsystem schlägt Alarm, bevor Felsen in die Täler stürzen -so stellen sich die Betreiber den Ernstfall vor. Um rechtzeitig warnen zu können, haben die ETH-Forscher so genannte Crackmeter verbaut. Diese werden über Risse und Spalten gelegt und schlagen bei den geringsten Veränderungen an. Außerdem lauschen Akustiksensoren in den Berg hinein, und es wachen sensible GPS-Sensoren über den kritischen Hängen sowie seismische Sensoren, die jede Schwingung spüren.

Jan Beutel kennt die Schweizer Berge, er ist Skilehrer und Bergführer, das Matterhorn hat er mehrfach bestiegen. Das erste Mal kletterte er im Jahrhundertsommer 2003 den Berg hoch, kurz nachdem 1000 Kubikmeter Fels am Hörnligrat hinuntergestürzt waren und das geologische Heiligtum tatsächlich für einige Tage gesperrt werden musste. Hier, auf der Schulter des Matterhorns auf 3500 Meter Höhe, sind jetzt die meisten Sensoren installiert. Dieser Bereich des Matterhorns gilt als besonders zerbrechlich, »Blätterteiggipfeli« sagt Beutel dazu. Der Grat kippt an dieser Stelle einfach auseinander, das Matterhorn zerbröselt. Die entscheidende Frage ist allerdings: Hat sich der Zerfall tatsächlich beschleunigt?

Die Resultate der Untersuchungen deuten darauf hin. Beutel macht diesen Trend nicht nur an den jüngsten Daten fest, er liest ihn auch aus den langjährigen Messreihen heraus. Die längste Beobachtung zum Permafrost stammt vom Corvatsch im Engadin, unweit von St. Moritz. Hier wird seit mehr als 30 Jahren gemessen und das Ergebnis ist eindeutig: Die Temperatur im (!) Berg steigt.

Seit 2015 beobachtet Beutel sogar eine Beschleunigung des Zerfalls der Berge, es gebe immer häufiger größere Felsstürze und Rutschungen. In jenem heißen Sommer flog ein Fels in Größe eines Kleinwagens das Matterhorn hinunter, zwei Jahre später passierte etwas ganz ähnliches. Pures Glück, dass niemand verletzt wurde. »Es beginnt richtig zu klappern da oben«, sagt Beutel.

Gestützt wird dieser Eindruck von der Veröffentlichung des Weltklimarats IPCC, die im September 2019 in Monaco vorgestellt wurde. An dem Sonderbericht über den Zustand der Ozeane und der Kryosphäre wirkten mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 36 Ländern mit, sie werteten fast 7000 wissenschaftliche Publikationen aus. Ihr Fazit ist alarmierend: Weltweit schwindet das Eis, sowohl an den Polen als auch in den Hochgebirgen. Die Gletscher ziehen sich immer weiter zurück, bis zum Jahr 2100 werden sie voraussichtlich mehr als 80 Prozent ihrer Masse verloren haben, sollte sich an den Klimaschutzanstrengungen nur wenig geändert haben. Die Alpen werden dann praktisch eisfrei sein.

Außerdem, so das IPCC, wird der Permafrost tauen, weltweit könnten sich 70 Prozent der vermeintlich ewig gefrorenen Flächen bald in Matsch verwandeln. Begrenzt der Mensch den Anstieg der globalen Temperatur auf 1,5 Grad Celsius, wären dennoch etwa ein Viertel aller Permafrostflächen verloren.

Die Wassertürme verlieren ihre Funktion

Im Hochgebirge wirken sich die Folgen direkt auf die Menschen aus. Wenn das Eis schwindet, sind Landwirtschaft, Tourismus und Infrastruktur gefährdet; das große Schmelzen beeinflusst Energiewirtschaft sowie Wasserversorgung und führt zu mehr Naturgefahren in einem ohnehin hochriskanten Raum. Zudem ist das Eis verloren. Es kommt nicht zurück. Den Pizolgletscher im Osten der Schweiz beispielsweise haben Umweltaktivisten im September 2019 medienwirksam für tot erklärt.

Dass sich die Berge verändern, lasse sich sogar mit bloßem Auge beobachten, berichtet Jan Beutel. Die Eis- und Schneebedeckung werde radikal weniger, die Hänge glitzerten immer seltener. Während man vor ein paar Jahren im April noch durch den Tiefschnee stapfen musste, um einen Gipfel zu erreichen, würden mittlerweile sehr früh die nackten Felsen aus dem weiten Weiß herausschauen. Damit fehlt jetzt schon im Frühjahr jene natürliche Isolationsschicht, die den tiefgefrorenen Berg zusammenhält. Ohne Schnee ist das Gestein den Kräften der Verwitterung schutzlos ausgeliefert. Allerdings ist die isolierende Wirkung des Schnees nicht nur von Vorteil: Im Herbst und Frühwinter verhindert er wiederum, dass die Sommerwärme entweicht.

Das Tauen des Permafrosts ist ein weltweites Phänomen. Die Geschwindigkeit des Schmelzens überrascht aber sogar die Wissenschaftler. Ob Kanada, Sibirien oder Alaska: Von überall im hohen Norden mehren sich die Berichte über einsturzgefährdete Gebäude und zerstörte Straßen. Die Lage ist wirklich ernst. Das Eis schmilzt immer schneller und immer früher im Jahr. Zudem tauen die Böden auf, und das in immer größeren Tiefen.

Dass der Klimawandel die eisigen Regionen im hohen Norden im Sommerhalbjahr immer häufiger in eine Landschaft aus Seen und Matsch verwandelt, dass er im Gebirge die Hänge lockert und Grate abbrechen lässt, liegt an der enormen Geschwindigkeit, mit der die Klimaveränderung in diesen Räumen voranschreitet. In der Arktis und im Hochgebirge erwärmt sich die Luft zwei- bis dreimal so stark wie im globalen Durchschnitt und die schmelzenden Flächen aus Eis und Schnee verstärken den Wärmeeffekt: Dunkle Böden und Wasseroberflächen nehmen noch mehr Sonnenenergie auf als helle.

Die zerstörerische Kraft des Wassers

Das größte Problem tauender Felsen und Böden ist aber nicht die zerstörerische Kraft der Sonne, sondern die des Wassers. Die Kältestarre verhindert normalerweise, dass Regen in den Stein eindringen kann. Der Berg ist dann wie verplombt. Nun dringt allerdings Regen in den Untergrund ein, fließt in Risse und Spalten, sammelt sich in Hohlräumen. Dadurch steigt der Druck, die Risse weiten sich – die Gefahr, dass Felsen abbrechen, steigt. Zudem bringt der Regen zusätzliche Wärme in den Berg, und die Zerstörung beschleunigt sich.

Es ist aber nicht nur die erodierende und frostsprengende Kraft des Wassers, die den Wissenschaftlern Sorgen bereitet, sondern auch die schiere Masse. Je mehr Wasser ins Gestein eindringt, desto mehr sammelt sich davon im Berg und desto größer ist die Gefahr, dass ganze Felstürme abbrechen und zu Tal donnern. Beispiele für gewaltige Bergstürze gibt es etliche in den Alpen, und man muss kein Geologe sein oder erst den IPCC-Sonderbericht gelesen haben, um ihre Spuren zu erkennen.

Wird es in den Alpen künftig gefährlicher? Es sieht ganz danach aus. Mit dem Rückzug der Gletscher und dem Tauen des Permafrosts verlieren die Berge ihren Halt, verlieren faszinierende Gipfel wie das Matterhorn irgendwann den Kampf gegen die Schwerkraft. An die Bilder von stürzenden und rutschenden Gesteinsmassen wird man sich also gewöhnen müssen. Selbst die imposantesten Berge sind nicht für die Ewigkeit gemacht.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.