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UN-Biodiversitätsgipfel: Die Chance für eine globale Ökowende war nie besser

Der erste Biodiversitätsgipfel in der Geschichte der Vereinten Nationen zeigt: Es tut sich etwas beim Schutz von Natur und Klima. Das ist das Verdienst der Wissenschaft.
Wer springt als Erster?

Das Superjahr zur Rettung des Planeten ist vertagt. Weltklimagipfel, Weltbiodiversitätskonferenz, Weltnaturschutzgipfel – alle für 2020 geplanten Megaevents zum Natur- und Klimaschutz mussten wegen der Corona-Pandemie ins nächste Jahr verschoben werden. Lediglich ein Großereignis blieb, wenn auch nur als Abfolge aufgezeichneter Videobotschaften: der UN-Gipfel zur biologischen Vielfalt, der in der Nacht zum 1. Oktober zu Ende gegangen ist.

Von ihm hatten sich viele Umweltverbände, Naturschützer, Wissenschaftler und an nachhaltiger Entwicklung des Planeten interessierte Politiker ein Aufbruchssignal für eine weltweite Ökowende versprochen. Und tatsächlich, wenn auch weniger deutlich, als von vielen erhofft, das Signal kam. Fast alle der über 100 Staats- und Regierungschefs sicherten zu, bei der Weltbiodiversitätskonferenz im Jahr 2021 Ziele unterstützen zu wollen, die ehrgeizig genug wären, um das weltweite Artensterben zu stoppen. »Wir brauchen eine globale Trendwende«, sagte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Worte sind noch keine Taten, doch allein der Umstand, dass sich eine dreistellige Zahl von Staatenlenkern erstmals überhaupt in der UN-Geschichte zu einem (wenn auch nur virtuellen) Naturschutzgipfel zusammenfand, ist bereits für sich genommen ein durchaus gewichtiges Signal in der internationalen Politik. Auch dass die erhofften Finanzzusagen für den ökologischen Umbau, den Schutz der Regenwälder und Ozeane ausblieben, sollte man nicht zum Anlass nehmen, im Gipfel eine reine Showveranstaltung zu sehen. Denn das liegt am durcheinandergeratenen Zeitplan. Ursprünglich hätte wenige Tage nach diesem Gipfel das entscheidende Ereignis unter den globalen Megaevents zur Rettung der Natur auf dem Planeten folgen sollen, die Weltbiodiversitätskonferenz, im UN-Sprech CBD-COP-15 genannt.

Bei diesem Treffen der mehr als 190 Mitgliedstaaten der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) im chinesischen Kunming wären laut Plan die Naturschutzziele der Weltgemeinschaft für die kommenden zehn Jahre und darüber hinaus festgelegt worden.

Finanzspritzen sollen andere zum Mitziehen bewegen

Welche das sein sollen, wird gerade ausgehandelt. Ein erster Entwurf sieht beispielsweise vor, 30 Prozent der Landfläche und einen ebenso großen Teil des Meeres bis 2030 als Schutzgebiete auszuweisen. Ohne die Corona-Pandemie wäre der Gipfel gestern die beste Gelegenheit für die Geldgebernationen gewesen, auf den letzten Metern Verhandlungsblockaden durch die Ankündigung von Finanzspritzen aufzulösen. Von der Bundesregierung wird beispielsweise erwartet, dass sie den gegenwärtigen Beitrag von jährlich 500 Millionen Euro auf eine Milliarde verdoppeln könnte. Wegen der Verschiebung des Kunming-Gipfels aber zieht sich der Verhandlungsprozess noch um Monate in die Länge – Länder wie Deutschland halten ihr Pulver noch trocken, so jedenfalls die Lesart von Insidern des Verhandlungsprozesses.

Während Merkel in ihrer Rede nur auf die bisherigen Ausgaben Deutschlands verwies, gab der scheidende und damit unabhängige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller hier ein Signal. Er versprach der internationalen Gemeinschaft: »Wir werden unseren Beitrag erhöhen.«

Auch Chinas Präsident Xi Jinping machte deutlich, dass das Gastgeberland beim Kunming-Gipfel etwas erreichen will. Zur Überraschung aller kündigte er das Erreichen von Klimaneutralität in China bis 2060 an. Vor diesem Hintergrund erscheinen seine Ambitionen glaubwürdig, in Kunming einen Meilenstein auf dem Weg zum UN-Ziel zu setzen, bis 2050 »in Harmonie mit der Natur« zu leben.

Staatenlenker geben ein Versprechen

Die deutlichsten Hinweise darauf, dass es viele Staatenlenker diesmal wirklich ernst meinen mit dem Schutz von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen, gerechterer Verteilung natürlicher Ressourcen und dem damit verbundenen nachhaltigen Umbau vieler weiterer Bereiche der Gesellschaften, lieferte das kurz vor dem eigentlichen Gipfel von mehr als 70 Staaten eingegangene »Versprechen an die Natur«.

Beim »Leader's pledge for nature« verpflichteten sich Anfang der Woche die Unterzeichner unter anderem, dass der Wiederaufbau nach dem Ende der Coronakrise nicht zu Lasten der Umwelt gehen werde, dass sie den ökologischen Umbau von Land- und Forstwirtschaft vorantreiben werden, umweltschädliche Subventionen abbauen und die Überfischung der Weltmeere und ihre Vermüllung mit Plastik bis zur Mitte des Jahrhunderts beenden werden.

Selbst wenn man den der UN eigenen Pathos und das Fehlen etwa der USA, Brasiliens, Russlands und Chinas unter der Erklärung abzieht, bleibt diese Selbstverpflichtung ein bemerkenswert ambitioniertes Dokument. »Wir befinden uns an einem Wendepunkt unserer Zivilisation, wir brauchen eine Generalmobilmachung«, sagte etwa die französische Umweltministerin Barbara Pompili. »Lassen sie uns Geschichte schreiben.« Sowohl EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als auch ihr Vize Frans Timmermans unterstützten das Ziel, 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz zu stellen, das auch in ihrer EU-Biodiversitätsstrategie enthalten ist, um die gerade heftig gerungen wird. Gemeinsam mit Merkel, der derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden, haben sie bei den laufenden EU-Haushaltsverhandlungen die Gelegenheit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Geht es nach dem Europaparlament, sollen künftig zehn Prozent des gesamten EU-Haushalts für den Erhalt der Biodiversität ausgegeben werden. Nach allem, was zu hören ist, verlaufen die Gespräche über diese Forderung äußerst zäh.

Die Staatengemeinschaft hat sich festgelegt

Nach ihren feierlichen Worten in New York steht von der Leyen nun in der Pflicht, die Kernpunkte ihrer Strategie durchzusetzen, will sie glaubwürdig bleiben: 50 Prozent weniger Pestizide einsetzen, 20 Milliarden Euro im Jahr für Naturschutz aufwenden, die Wiederherstellung zerstörter Lebensräume vorantreiben und die Landwirtschaft ökologisieren.

Noch nie gab es so viele, so fundierte wissenschaftliche Belege für die globale Krise der Natur

Und auch die Staatengemeinschaft kann nun nach dem Gipfel in New York nicht mehr zurückfallen hinter wichtige Schritte wie dem 30-Prozent-Ziel bei der Schaffung von Schutzgebieten – das viele Fachleute allerdings immer noch für unzureichend halten. Gleiches gilt für eine bessere Finanzausstattung des Naturschutzes in Entwicklungsländern. Allein das hat den Gipfel gelohnt.

Diese – vorläufig nur rhetorische – Wende kommt nicht von ungefähr. Sie ist maßgeblich das Verdienst der Wissenschaftler. Denn noch nie gab es so viele, so fundierte wissenschaftliche Belege für die globale Krise der Natur. Allein in den letzten Monaten präsentierten Forscherinnen und Forscher so viele unumstößliche Belege für einen historischen Notstand des Planeten, wie in dieser Dichte wohl nie zuvor.

So legte der Weltbiodiversitätsrat IPBES mit seiner globalen Bestandsaufnahme zum Schwund von Arten und Lebensräumen im Mai letzten Jahres ein Dokument vor, das mehr Beachtung fand als alle vorhergehenden Umweltberichte. Die Kernbotschaften daraus schafften es ins kollektive Bewusstsein: Die gegenwärtige Rate des Aussterbens von Tier- und Pflanzenarten ist zehn- bis hundertmal höher als der Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre – und sie steigt sogar noch an. Eine Million Arten könnten binnen weniger Jahrzehnte aussterben, wenn nicht rasch umgelenkt wird.

Der WWF-Living-Planet-Bericht schockierte Anfang September mit der Nachricht, dass die Tierbestände weltweit gegenüber den 1970er Jahren um fast 70 Prozent zurückgegangen sind.

Alarmrufe ohne Pause

Und vor wenigen Tagen legten die Vereinten Nationen eine Bilanz der weltweiten Naturschutzziele vor, die sich die Staatengemeinschaft vor zehn Jahren selbst gesetzt hatte. Fazit: Kein einziges der so genannten Aichi-Ziele (über deren Nachfolger in Kunming beschlossen wird) wurde erreicht, in vielen Feldern, darunter dem Versuch, das Artensterben aufzuhalten, gab es sogar häufig Rückschläge.

Auch auf regionaler Ebene haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse aufgezeigt, wie katastrophal es um die Natur bestellt ist. Die Vogelstatistiker des Dachverbands Deutscher Avifaunisten meldeten beispielsweise im Frühjahr, dass heute 14 Millionen Vögel weniger in Deutschland leben als noch vor 25 Jahren. Und der Bericht der Krefelder Insektenforscher über den rapiden Verlust von 75 Prozent der Insektenbiomasse in ausgewählten Gebieten wirkt auf den Tag genau fast drei Jahre nach seiner Veröffentlichung nach.

»Der Kenntnisstand zum Zustand der Erde ist einzigartig, und er zeigt Wirkung«, sagt Josef Settele. Der Biodiversitätsforscher vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle war als einer der Kovorsitzenden maßgeblich an der Ausarbeitung des Global Report des IPBES beteiligt.

Ob die wissenschaftlichen Alarmrufe am laufenden Band ausreichen, eine kritische Masse zu erzeugen, die die Regierungen zum Handeln zwingt, wird sich in Kunming zeigen. »Zumindest haben wir die kritischste Masse für Veränderungen, die es bisher je gab«, sagt Settele. »Die Chancen für eine Wende könnten noch besser sein, aber sie sind so gut wie nie zuvor.«

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