Ursachen von Gewalt: Die fatalen Folgen von Ausgrenzung

»Hurt people hurt people.« Diese Lebensweisheit ist intuitiv plausibel: Wer selbst verletzt wurde, verletzt daraufhin andere. Dieses Muster zeigt sich im Alltag, aber auch bei Extremsituationen wie Gewalttaten und Terroranschlägen. Forscherinnen und Forscher sehen Erfahrungen von Ausgrenzung als zentralen Faktor, um etwa die Radikalisierung von Einzelnen zu begreifen.
Die Wissenschaft untersucht seit Jahrzehnten die psychologischen Folgen von Ausgrenzung. Das Bild ist klar: Ausgrenzung schmerzt und kann Aggressionen verursachen.
»In der Forschung sprechen wir von Ostrazismus«, sagt Selma Rudert, Professorin für Sozialpsychologie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Das Wort leitet sich vom altgriechischen Wort für Tonscherbe ab, ὄστρακον (»ostrakon«). Im antiken Athen stimmten die Bürger einmal im Jahr darüber ab, welche missliebigen Mitbürger sie verbannen wollten, und schrieben deren Namen auf Tonscherben. An dieses so genannte Scherbengericht (»ostrakismos«) lehnt sich der psychologische Fachbegriff an.
»Ausgrenzung bedroht grundlegende psychische Bedürfnisse«, erklärt Rudert: nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Kontrolle. Eine solche Erfahrung verursacht Ärger und Frust. »Ein möglicher Umgang damit ist, den Frust rauszulassen und sich aggressiv zu verhalten.«
»Ausgrenzung bedroht grundlegende psychische Bedürfnisse«Selma Rudert, Sozialpsychologin
Um einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und Aggression nachzuweisen, braucht es Experimente mit kontrollierten Bedingungen – doch aus ethischen Gründen sind die Möglichkeiten von Forscherinnen und Forschern hier beschränkt. Sie können kaum in Kauf nehmen, dass ihre Versuchspersonen tatsächlich gewalttätig werden oder anderen Versuchspersonen realen Schaden zufügen. Deshalb haben sie vergleichsweise harmlose Methoden ersonnen, um im Labor Ausgrenzung spürbar und Aggressionen messbar zu machen. Das klassische Rezept: ein Ballspiel – und eine äußerst scharfe Soße.
Experimente mit Ball und Soße
Auf diese Zutaten griff 2006 auch ein Team um den australischen Aggressionsforscher Wayne Warburton in einer wegweisenden experimentellen Studie zurück. Die Gruppe ließ Studierende »Cyberball« spielen, ein virtuelles Ballspiel, das für diese Art der Forschung entwickelt wurde. Dabei wurden manche Versuchspersonen gezielt vom Spiel ausgeschlossen, indem die vermeintlichen (in Wahrheit computergesteuerten) Mitspieler ihnen den Ball partout nicht mehr gaben. So konnten die Reaktionen der Ausgeschlossenen mit denen der übrigen, ins Spiel einbezogenen Versuchspersonen verglichen werden. Wer zu welcher Gruppe gehörte, bestimmte der Zufall.
Im Anschluss setzten die Forschenden ihre Studierenden höchst unangenehmen Geräuschen aus, zum Beispiel menschlichen Schreien oder quietschender Kreide auf einer Tafel. Ein Teil von ihnen konnte die akustische Tortur allerdings selbst starten, behielt also ein gewisses Maß an Kontrolle. Danach wurden alle unter einem Vorwand gebeten, auf den Teller einer fremden Person eine äußerst scharfe Soße zu geben, wobei sie die Menge selbst bestimmen sollten. Die Portionsgröße diente den Forschenden als Maß für Aggression.
Das Ergebnis: Versuchspersonen, die während des Spiels ausgeschlossen wurden und die Geräusche nicht selbst starten durften, verteilten im Mittel mehr als viermal so viel Soße wie jene Personen, die nicht ausgegrenzt wurden und die Geräusche selbst starteten. Wenn sie zumindest dieses bisschen Kontrolle über ihre Umwelt hatten, waren auch die Ausgeschlossenen nicht signifikant aggressiver als jene, die beim Spiel einbezogen wurden. Das Gefühl von Kontrolle senkte demnach das Aggressionspotenzial nach einer zuvor erlebten Ausgrenzung.
Auch wenn der Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und Aggression bereits mit vielen Experimenten und verschiedenen Methoden belegt wurde: Befunde aus dem Labor sind nur begrenzt aussagekräftig für das echte Leben. »Experimente finden in künstlichen Kontexten statt«, sagt Selma Rudert. Die Versuchspersonen bekommen nur wenige Handlungsmöglichkeiten, und sie kennen sich untereinander in der Regel nicht. So hat eine Person keine langfristigen sozialen Konsequenzen zu fürchten, wenn sie sich im Laborexperiment aggressiv verhält. Im Alltag ist das oft anders.
Deshalb hat Selma Rudert mit einem Forschungsteam unter Leitung von Christiane Büttner in einer 2024 veröffentlichten Studie untersucht, wie Menschen im normalen Leben auf Ausgrenzung reagieren. Die Teilnehmenden dokumentierten dabei in einer App Situationen, in denen sie sich ausgegrenzt oder ignoriert fühlten und wie sie damit umgehen wollten. Die Mehrheit meldete im Verlauf von zwei Wochen mindestens einen solchen Moment, im Mittel sogar zwei bis drei pro Woche. Meist ging die Ausgrenzung vom privaten Umfeld aus.
»Wir haben auch im Alltag einen klaren Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und Aggression gefunden«, sagt Rudert. Die individuelle Reaktion hänge aber stark davon ab, wie schlimm die Ausgrenzung empfunden wurde und wie stark sich die Menschen in ihren Grundbedürfnissen bedroht fühlten. Auf eine schwere Bedrohung reagieren die meisten mit Rückzug oder Aggression. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Betroffenen auch unmittelbar aggressiv verhalten. »Im Alltag kontrollieren die meisten Menschen diese Tendenzen und zeigen keine Aggression«, erklärt Rudert. Handelt es sich dagegen um eine geringfügigere Bedrohung, suchen die Menschen tendenziell eher erneut Anschluss, auch in sozialen Medien.
Wie Ausgrenzung zu Radikalisierung führt
Paradoxerweise kann dieses eigentlich prosoziale Verhalten über einen Umweg zu Gewalttaten beitragen – wenn ausgegrenzte Menschen Anschluss bei radikalen Gruppen suchen. »Wir sehen einen klaren Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und Radikalisierung«, sagt Michaela Pfundmair, Professorin für Nachrichtendienst-Psychologie an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Sie kann das mit zahlreichen eigenen Studien belegen.
»Radikalisierung wird viel stärker durch Zuneigung zur eigenen Gruppe angetrieben als durch Hass gegenüber anderen Gruppen«Michaela Pfundmair, Psychologin
»Menschen reagieren auf Exklusion auch mit prosozialem Verhalten«, berichtet Michaela Pfundmair – sie suchen Anschluss, zeigen Gehorsam. Das kann Radikalisierung befeuern, weil die Gruppe enorm an Bedeutung gewinnt. »Exklusion stärkt die Identifikation mit einer Gruppe«, erklärt die Psychologin. »Radikalisierung wird viel stärker durch Zuneigung zur eigenen Gruppe angetrieben als durch Hass gegenüber anderen Gruppen.«
Eine Studie, die Pfundmair 2023 gemeinsam mit Luisa Mahr vorlegte, bestätigt die Bedeutung dieser Gruppenprozesse für die Radikalisierung. Teilnehmer, die etwa beim Cyberball oder bei einer Online-Konferenz ausgegrenzt wurden, zeigten in der Regel mehr Sympathie für ihre eigene Gruppe und mehr Ablehnung gegenüber der anderen. Außerdem nahmen sie größere Bedrohungen für die eigene Gruppe wahr. »All diese Faktoren treiben eine größere Bereitschaft zu radikalen Handlungen.« In weiteren Experimenten belegte Pfundmair unter anderem, dass Versuchspersonen nach erlebter Ausgrenzung extreme Taten von radikalen Tierschützern eher befürworteten und sich sogar selbst an ihnen beteiligen wollten.
»Die Radikalisierung kann verletzte fundamentale Bedürfnisse befriedigen«, erklärt Pfundmair. Nicht nur durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – die Hingabe an eine radikale Idee sei auch eine Möglichkeit, Gefühle von Sicherheit und Kontrolle zurückzuerlangen. Man verschreibt sich einem höheren Ziel, steht vermeintlich auf der Seite des Guten, bekämpft das Böse.
Die Rolle der Persönlichkeit
Natürlich reagiert nicht jeder Mensch in dieser Weise auf Ausgrenzung. Wissenschaftlerinnen in Schweden setzten ihre Probandinnen und Probanden verschiedenen Formen von Ausgrenzung aus: in den sozialen Medien, beim Cyberball und bei der Bewerbung um Aufnahme in eine fiktive studentische Organisation auf dem Universitätscampus. Anschließend wurde getestet, wie empfänglich sich die Versuchspersonen für die Ansprache einer radikalen Gruppierung zeigten. Ergebnis: Wer sehr empfindlich gegenüber Zurückweisung war, war nach der Ausgrenzung eher bereit, sich einer radikalen Gruppierung anzuschließen. Bei weniger empfindlichen Teilnehmern fiel der Effekt schwächer aus.
Die Psychologin Michaela Pfundmair warnt allerdings davor, von einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur auszugehen, die gewisse Menschen grundsätzlich anfälliger für eine Radikalisierung macht. »Der Forschung zufolge sind dafür eher situative Faktoren verantwortlich, die jeden treffen können – soziale Isolation, mangelnde Perspektiven oder auch traumatische Erlebnisse, die subjektiv die eigene Sinnhaftigkeit und Bedeutung schmälern.«
Was letztlich entscheidend ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Laut den Experimenten der schwedischen Forscherinnen könnte es auf die Art der Ausgrenzung ankommen. Von Angesicht zu Angesicht in der realen Welt sei der Effekt deutlich: Die meisten Teilnehmer waren anschließend eher bereit, eine radikale Gruppierung zu unterstützen – und das umso mehr, wenn sie auf Zurückweisungen empfindlich reagierten. Doch andere Studien finden keinen Unterschied zwischen Erfahrungen im virtuellen Raum und im wahren Leben.
Ein nettes Gespräch kann schon genügen
Welche Ansätze bieten diese Erkenntnisse für die Prävention? Forschende haben ganz unterschiedliche Mittel gefunden, um die negativen Konsequenzen von Ausgrenzung abzufedern: Achtsamkeitsübungen, Gebete, Ablenkung, Zucker, Berührungen. Aber der wohl wichtigste Schlüssel liegt darin, nach erlebter Ausgrenzung wieder ein Gefühl von Zugehörigkeit zu erfahren – und sei es nur durch ein kurzes, nettes Gespräch.
Im Rahmen eines Experiments von 2007 lernten sich Versuchspersonen in kleinen Gruppen kennen. Anschließend wurde jede gebeten, die Person zu nennen, mit der sie am liebsten zu zweit zusammenarbeiten würde. Unabhängig von den tatsächlichen Antworten bekam die Hälfte von ihnen gesagt, dass niemand mit ihnen zusammenarbeiten wollte, während die anderen vermeintlich von allen Gruppenmitgliedern ausgewählt wurden. Bei einem Teil bedankte sich der Versuchsleiter danach in einem kurzen Gespräch herzlich für die Teilnahme und übergab eine Tüte Süßigkeiten. Der andere Teil erhielt lediglich eine schriftliche Teilnahmebestätigung.
Anschließend nahmen alle an einem weiteren Experiment teil, vermeintlich zu zweit mit einem neuen, unbekannten Mitspieler. Über mehrere Runden sollten beide so schnell wie möglich einen Knopf drücken, und der Verlierer bekam über Kopfhörer Lärm auf die Ohren. Vorab konnten die Teilnehmer in jeder Runde festlegen, wie lange und wie laut der Lärm für den Mitspieler sein sollte – ein Maß für die Aggression der Versuchspersonen.
Gemessen daran verhielten sich Probanden, die Ablehnung erfahren hatten, danach im Mittel aggressiver als jene mit positiver Rückmeldung. Allerdings mit großen Unterschieden: Wer Dank und Süßigkeiten erhalten hatten, war offenbar besänftigt und zeigte sich weniger aggressiv als ohne diese freundliche Geste.
In weiteren Experimenten stellten die Forschenden fest, dass es einen ähnlich positiven Effekt hatte, über ein Familienmitglied, einen Freund oder auch nur ein prominentes Idol zu schreiben. Offenbar genügte schon der Gedanke an soziale Bande, um die Aggression zu dämpfen.
Die Anforderungen verändern
Ist das ein viel versprechender Weg? »In radikalisierten Biografien sind solche kleinen Interventionen vermutlich nicht die große Lösung«, sagt Michaela Pfundmair. Der Grundgedanke sei jedoch richtig: Auch in der Deradikalisierungsarbeit gehe es darum, Bedürfnisse wie Zugehörigkeit oder Selbstwirksamkeit auf andere Weise zu stillen und Alternativen aufzuzeigen. Das kann ganz unterschiedlich aussehen – eine berufliche Perspektive bieten, familiäre oder freundschaftliche Beziehungen stärken. Die Psychologin versteht Ausgrenzung auch als strukturelles Problem. »Wer Exklusion verhindert, vermeidet womöglich auch, dass es überhaupt zu einer Radikalisierung kommt.«
Selma Rudert sieht das ähnlich. Sie empfiehlt, bei den Menschen anzusetzen, die ausgrenzen, sowie an den Strukturen, die Ausgrenzung hervorbringen. »Die Forschung zu Interventionen steckt noch in den Kinderschuhen«, räumt die Sozialpsychologin ein.
In einer 2023 veröffentlichten Studie untersuchte sie mit Kollegen, wie äußere Anforderungen zu Ausgrenzung beitragen. Ein leistungsorientiertes Umfeld etwa führt dazu, dass leistungsschwächere Menschen ausgegrenzt werden; sie verstoßen gegen die Norm und werden als entbehrlich wahrgenommen. Verändert man die Anforderungen, lässt sich Ausgrenzung womöglich vermeiden, folgert Rudert.
Institutionen wie Schulen oder Arbeitgeber könnten dazu beitragen, für das Thema zu sensibilisieren. Eine Ausgrenzung kann unbewusst sein und sehr subtil – eine ausbleibende Einladung zum Geburtstag, eine ignorierte Nachricht. Erste Befunde legen nahe, dass Menschen weniger ausgrenzend handeln, wenn sie sich in Achtsamkeit üben.
»Ganz abschaffen kann man Ausgrenzung nicht«, räumt Selma Rudert ein. Ob bei Aktivitäten im Freundeskreis oder bei Einladungen zu Meetings – dass nicht immer alle dabei sind, lässt sich gar nicht vermeiden. Entscheidend sei, was man in solchen Situationen kommuniziert. »Man darf eine Person nicht einfach ignorieren, sondern sollte die Gründe für die Entscheidung erklären, sie nicht einzubeziehen.« Das sei fordernd und oft unangenehm, doch dafür umso wichtiger.
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