Drohende Katastrophe: Die große Gefahr hinter dem Erdbeben von Istanbul

Diesmal blieb die befürchtete Katastrophe aus. Doch die Bebenserie, die am Mittag des 23. April 2025 die Gegend im Westen der türkischen Millionenstadt Istanbul erschüttert hat, könnte ein verheerendes Starkbeben auslösen. Die beiden heftigsten Erschütterungen mit den Magnituden 6,2 und 5,3 fanden nicht weit vom westlichen Ende einer seit Jahrhunderten verkeilten Bruchzone statt. Es ist somit möglich, dass sich die Spannung im Gestein schon bald mit vernichtender Gewalt löst.
Die Beben ereigneten sich rund 60 Kilometer westlich von Istanbul in einer Region tief unter dem zentralen Marmarameer, in der immer wieder kleinere Erschütterungen auftreten. Ursprung ist die Marmarameer-Hauptverwerfung, eine große Bruchzone in der Erdkruste, die sich nach Westen Richtung Mittelmeer erstreckt. Ihr östliches Ende hat keine heftigen Erdbeben mehr hervorgebracht, seit im Jahr 1766 ein Beben der Magnitude 7 schwere Schäden in Istanbul verursachte.
Die Marmarameer-Hauptverwerfung geht bei Istanbul in die Nordanatolische Verwerfung über. Zusammen bilden sie den Nordrand der Anatolischen Platte – ein keilförmiges Bruchstück, das von der aus Süden herandrängenden Arabischen Platte nach Westen gepresst wird. Dabei reibt die Anatolische Platte im Norden an der Eurasischen Platte entlang, eine Bewegung, die immer wieder schwere Erdbeben verursacht – und zahllose kleinere.
Das drohende Megabeben
Zu Letzteren gehören auch die nun registrierten Erdstöße im Marmarameer. Mit einer Geschwindigkeit von etwa zwei Zentimeter pro Jahr gleiten die Anatolische und die Eurasische Platte hier aneinander vorbei und lösen immer wieder Erdbeben aus, mit Ausnahme eben jenes Abschnitts wenige Kilometer südlich von Istanbul. Eine Verschiebung von bis zu fünf Metern hat sich seit dem letzten großen Beben von 1766 dort angesammelt.
»Insgesamt ist in dieser Verwerfung Energie für ein Erdbeben einer Magnitude bis hin zu 7,4 gespeichert«, erklärt Marco Bohnhoff, Leiter der Sektion Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren am GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam in einer Stellungnahme des Instituts. Eine solche Erschütterung wäre durch die logarithmische Magnitudenskala etwa 60-fach stärker als das stärkste der aktuellen Beben – und fände keine 20 Kilometer von der Millionenmetropole entfernt statt.
Die Folgen dieses als nahezu unvermeidlich geltenden Bebens wären verheerend. Rund 70 Prozent der Gebäude in Istanbul gelten als nicht erdbebensicher, wie Fachleute nach den schweren Erdbeben in der Südtürkei feststellten. Laut einer Studie der Stadtverwaltung würden durch ein Beben der Magnitude 7,5 etwa 14 500 Menschen in Istanbul sterben, andere Fachleute gehen von weit größeren Zahlen aus.
Während nahezu alle Erdbebenfachleute davon ausgehen, dass das Starkbeben irgendwann stattfindet, ist noch völlig unklar, wann es passiert. Eine wichtige Rolle bei der Vorhersage spielen zudem andere Erdbeben. Beben an großen Verwerfungen lösen nicht nur die Spannungen im Gestein, sie können sie auch an anderen Orten erhöhen und so dort ebenfalls Erdbeben verursachen. Seit 1939 wandern entlang der 1500 Kilometer langen Nordanatolischen Verwerfung Schritt für Schritt schwere Erdbeben gen Westen. Diese Serie gilt als klassisches Beispiel dafür, wie Erdbeben Spannungen in der Erdkruste umverteilen und so das jeweils nächste Segment der Verwerfung brechen lassen. Zuletzt trafen schwere Erdbeben im Jahr 1999 die Städte Izmit und Düzce. Das nächste Segment ist Istanbul.
Countdown zur Katastrophe?
Doch dieses seit Langem verhakte Verwerfungssegment liegt in einer Region, in der die Verhältnisse noch deutlich komplizierter werden. Hier nämlich geht der einfache Bruch zwischen der Eurasischen und Anatolischen Platte plötzlich in eine ganze Schar weit aufgefächerter Verwerfungen über. Im Inneren dieses Fächers liegt das Marmarameer – eine Dehnungszone, in der Teile der Erdkruste abgesunken sind. Zwischen den sich gegeneinander verschiebenden Erdplatten im Norden und Süden rotieren vier abgesunkene Blöcke der Erdkruste wie ein Kugellager.
Die Marmarameer-Hauptstörung ist die westliche Verlängerung der Bruchlinie entlang der Nordanatolischen Verwerfung. An ihr fand die jüngste Bebenserie nahe Istanbul statt, unmittelbar am westlichen Ende des verhakten Segments. Hier befindet sich eine Übergangszone zwischen zwei Bereichen, in denen kaum starke Beben auftreten. Während das jedoch im Osten am verkeilten Gestein liegt, bewegen sich im Westen des Marmarameeres die Erdplatten gleitend gegeneinander, so dass sich dort keine nennenswerte Spannung aufbaut.
In dem Übergangsbereich zwischen beiden bebt die Erde immer wieder, zuletzt 2019 in der gleichen Region. Auch solche Beben transferieren Spannung entlang des Verwerfungssystems und könnten die Zone bei Istanbul näher an eine Entladung bringen. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien: Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab«, erklärt Bohnhoff, »oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region.«
Dass die zweite, gefährlichere Möglichkeit sehr realistisch ist, darauf gibt die Bebenserie selbst Hinweise. Kurz nach der Haupterschütterung nämlich gab es ein weiteres Beben weiter östlich, südlich von Istanbul. Es hatte zwar weniger als ein Zwanzigstel der Energie des vorherigen Bebens, doch es zeigt vermutlich, dass die Spannung im verkeilten Segment angestiegen ist.
Zusätzlich zu der westwärts wandernden Stressübertragung entlang des gigantischen Verwerfungssystems in der Türkei legen die neuen Beben damit nahe, dass auch von Osten her Spannung entlang der Grenze zwischen den Erdplatten wandert. Die zunehmenden Kräfte fokussieren sich in dem seit 1766 verhakten Segment südlich von Istanbul. Das ist die tatsächliche Bedeutung der Bebenserie: Die große Katastrophe ist näher gerückt. Doch wie nah, das weiß niemand.
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