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Evolution: Die große Kette der Wesen

Jahrhunderte lang betrachtete der Mensch die Natur als Stufenleiter, die auf die "Krone der Schöpfung" zuläuft. In den nüchternen Darstellungen zeitgenössischer Naturwissenschaft hat dieses Bild freilich keinen Platz mehr. Oder doch? Ein britischer Evolutionsbiologe hat aktuelle Veröffentlichungen nach dem alten Mythos durchforstet - und wurde prompt fündig.
Stammbaum
"Es geht voran!" So könnte die Kurzbeschreibung einer einflussreichen Metapher lauten, deren Geschichte der Historiker Arthur Lovejoy im Jahr 1933 untersucht hat. The Great Chain of Being, "Die große Kette der Wesen", so der Titel der Studie, begründete die Ideengeschichte und gilt daher heute noch als Klassiker. Deren Thema: Die Natur lässt sich ordnen vom Primitiven zum Vollkommenen, und diese Ordnung ist nicht zufällig. Sie beginnt bei den unbelebten Dingen, Steinen beispielsweise, dann folgen die einfachsten Lebewesen, Geziefer und Gewürm, darüber siedelt die Gruppe der "höheren" Lebewesen, an deren Spitze selbstverständlich der Mensch steht. Und schließlich folgt ganz oben: Gott.

"Wenn wir die Kette der Tiere betrachten, so ist die Abstufung der Organisation eine sichere, erwiesene Tatsache"
(Jean-Baptiste de Lamarck)
Diese Idee findet sich bereits bei Platon und lässt sich, wie Lovejoy gezeigt hat, über zahlreiche prominente Stationen bis in das 18. Jahrhundert weiterverfolgen. Wer einen Blick in die Schriften der Pioniere des evolutionären Weltbildes wirft, wird selbst dort Variationen dieses Themas entdecken. In Jean-Baptiste de Lamarcks Philosophie zoologique aus dem Jahr 1809 etwa, die – obwohl ausgesprochen modern und ohne jeglichen metaphysischen Pompanz angelegt – noch immer vom Prinzip einer Stufenleiter der Natur Gebrauch macht.

Mit der Leiter nach oben

"Wenn wir also die Kette der Tiere von den vollkommensten bis zu den unvollkommensten durchlaufen und alle Organisationssysteme nacheinander betrachten", schreibt Lamarck, "so ist die Abstufung der Organisation und die der Organe bis zu ihrem vollständigen Verschwinden eine sichere, erwiesene Tatsache."

Hier ist die Stoßrichtung folgende: Gerade weil es in der belebten Natur eine zunehmende Vervollkommnung gibt, muss man auch nach einem Vorgang suchen, der dafür verantwortlich ist. Und das ist, wie Lamarck betont, eben der Artenwandel. Hier ist es interessant zu sehen, dass Lamarck offenbar einen revolutionären Gedanken in die Wissenschaft um den Preis einführte, dass ein uralter Mythos am Leben erhalten wurde.

(Baum-)Krone der Schöpfung

Wie die Geschichte weiterging, ist bekannt. Fünfzig Jahre später verhalf ein gewisser Charles Darwin dem Prinzip des Artenwandels zum Durchbruch und fügte damit, wie Sigmund Freud einmal bemerkte, der Menschheit eine Kränkung zu, weil wir unsere Stellung als "Kröne der Schöpfung" verloren und zum Vetter der übrigen Primaten gemacht wurden.

Stammbaumvariationen | Zwei Versionen desselben Stammbaums: Obwohl die dargestellten Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Mensch, Affe, Reptil, Amphibium und Fisch bei beiden Versionen vollkommen identisch sind, wird die obere bevorzugt.
Doch gar so schlimm sollte die Kränkung nicht ausfallen, wie das Beispiel des deutschen Darwinisten Ernst Haeckel zeigt. Bei ihm mutierte die Lamarck'sche Stufenleiter zum Baum, was insofern ein Gewinn war, als damit Verwandtschaftsverhältnisse präziser dargestellt werden konnten. Haeckel lag mit seinen Vermutungen bisweilen erstaunlich nahe an der heutigen Lehrmeinung, aber wie es eben ein Baum so an sich hat, gibt es auch hier tiefer und höher liegende Äste. Und ganz oben natürlich eine Baumkrone, den Spitzenplatz. Letzterer wird bei Haeckel zwar nicht mehr von Gott besetzt, aber dafür von jener Spezies, die sich für dessen Meisterstück hält: von uns selbst. Kurzum, auch bei Haeckel gibt es eine Krönung der Evolution, und daher hat die Naturgeschichte eine Richtung. Sie verläuft bergauf.

Die letzten Reste der Kette

Heute hat man sich vom evolutionären Fortschrittsglauben weit gehend frei gemacht, was man unter anderem daran ersehen kann, dass Stammbäume häufig von links nach rechts anstatt von unten nach oben verlaufen. Also endgültig Schluss mit der Kette der Wesen in unserer aufgeklärten Zeit?

"Wir haben ein tiefes Bedürfnis, uns als die Kulmination der Schöpfung darzustellen"
(Sean Nee)
Sean Nee von der Universität Edinburgh ist sich da nicht so sicher. Wie der britische Biologe betont, finden sich selbst in aktuellen Veröffentlichungen Reste des alten Mythos [1]. So etwa in einem Nature-Artikel aus dem letzten Jahr, in dem drei Forscher die Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt im Lauf der Jahrmillionen untersuchten [2]. Die dort dargestellte "Leiter der Co-Evolution" beginnt mit den einfachsten Mikroben, hangelt sich Sprosse um Sprosse über die ersten Eukaryonten zu den Pflanzen hoch und endet – drei mal darf man raten – bei den großen tierischen Lebewesen.

Ein anderes von Nee angeführtes Beispiel ist das jüngste Buch von Richard Dawkins, The Ancestor's Tale, in dem der britische Zoologe die übliche Perspektive umkehrt und die Naturgeschichte rückwärts erzählt. Dawkins beginnt in seinem Text mit Homo sapiens und arbeitet sich – Kapitel für Kapitel – über immer weiter entfernte Verwandte bis zum Ursprung des Lebens durch.

Doch auch eine umgedrehte Kette bleibt noch immer eine Kette: Offenbar "haben wir ein tiefes psychologisches Bedürfnis, uns als die Kulmination der Schöpfung darzustellen", konstatiert Nee nicht ohne Schadenfreude und veranschaulicht das anhand einer Abbildung. Die dargestellten Stammbäume sind inhaltlich völlig gleichwertig, aber Hand aufs Herz: Welchem der beiden würden Sie den Vorzug geben? Eben. Irgendwie scheint uns der obere Stammbaum die Verwandtschaftsverhältnisse besser darzustellen, und sei es nur deswegen, weil wir an diese Darstellung eher gewöhnt sind.

Mikroben schreiben Geschichte

Nee bietet daher eine Radikalkur an, mit der wir unseren festgefahrenen Blickwinkel öffnen können, und erzählt die Naturgeschichte noch einmal. Aber diesmal aus der Perspektive der Mikroben, die nicht nur punkto Biomasse die mit Abstand dominierende Lebensform auf der Erde darstellen, sondern auch mit ihren vielfältigen metabolischen Anpassungen die "höheren" Lebewesen ziemlich alt aussehen lassen.

Ein Beispiel dafür ist die Verschmelzung von Bakterien und Archaea zu den Eukaryoten (d.h. der Zellen mit echtem Zellkern), die in traditionellen Darstellungen immer als Meilenstein der Evolution gefeiert wird. Aus Sicht der Mikroorganismen gerät sie hingegen zu einem gewagten Experiment mit ernüchterndem Ausgang. Denn die daraus entstandenen Zellen weisen offenbar ein sehr limitiertes Repertoire an Stoffwechselwegen auf und sind daher bei der Besiedlung von Lebensräumen äußerst unflexibel.

Kaum der Rede wert

Dass sich aus den einzelligen Eukaryoten an einem Nebenschauplatz auch große Tiere entwickelt haben, wäre in der Mikroben-Geschichte kaum eine Erwähnung wert – wenn nicht in deren Inneren äußerst interessante Lebensräume entstanden wären. Die Gedärme von Tieren zählen, wie Nee bereits in einem früheren Artikel betonte [3], zu den metabolisch vielfältigsten Ökosystemen überhaupt. Das wissen zwar Mikrobiologen, so Nee, nur die Ökologen wollen anscheinend davon nichts wissen – sie sind noch immer von den eher langweiligen Regenwäldern fasziniert, in denen das grüne Einerlei von Primärproduzenten vorherrscht, um die sich lediglich ein paar Pflanzenfresser und Symbiosepartner tummeln.

Der Mensch kommt in dieser Erzählung nicht vor – oder fast nicht, um genau zu sein. Im letzten Absatz von Nees alternativer Naturgeschichte findet sich eine Randbemerkung: "Eine der großen Spezies, Homo sapiens, wurde außergewöhnlich selbstgefällig. Als sie aber zu ihrer großen Überraschung von einem Virus ausgerottet wurde, nahm das Leben auf der Erde kaum eine Notiz davon."

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