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Antike Bibliothek: Die Hoffnung auf das Unlesbare

Hunderte verkohlter Papyrusrollen aus Herculaneum warten darauf, gelesen zu werden. Noch nie waren die Aussichten so gut wie jetzt. Lüftet neue Technik das Geheimnis ihres Inhalts?
Schriftrolle in der Officina dei Papiri

Auf dem Weg durch den alten Palast der Könige von Neapel, der heutigen Biblioteca Nazionale di Napoli, durchquert man verwunschene Hallen und Säle voller Globen und Atlanten. In den Räumen der Officina dei Papiri schließlich stehen dunkle Holzregale, Philosophenbüsten und graugrüne Metallschränke, in denen man die Elektroinstallation vermuten könnte. Doch das Äußere der Kästen täuscht. Hier werden gut 1800 stark verkohlte Papyrusrollen und Fragmente aufbewahrt. Es sind die Überreste von rund 800 Büchern aus der nahe gelegenen antiken Stadt Herculaneum. Auf manchen sind mit bloßem Auge Buchstaben erkennbar, einige konnten den Werken antiker Philosophen zugeordnet werden.

Andere sind bis heute ein Rätsel. Knapp 300 Papyrusrollen wurden nie geöffnet. Niemand weiß, welche Texte sich darin verbergen. Und niemand weiß, wie man die Schriftstücke entrollen könnte, ohne sie in ein Häufchen verkohlter Bruchstücke zu verwandeln. Seitdem die Rollen vor gut 250 Jahren geborgen wurden, zerbrechen sich die Experten den Kopf über die richtige Technik. Nun jedoch zeichnen sich erstmals Wege ab, die einzige erhaltene Bibliothek des Altertums zu erschließen.

Die Villa dei Papiri, die Villa der Papyrusrollen, war eine palastartige Anlage am Strand der Bucht von Neapel, am nordwestlichen Ende des Hafenorts Herculaneum. Im Herbst des Jahres 79 wurde sie, wie auch Herculaneum und Pompeji, bei einer Eruption des Vesuvs verschüttet. Die Villa lag jedoch unmittelbar am Fuß des Vulkans: Während Pompeji unter einem Regen von leichtem Tuffstein langsam begraben wurde, trafen Herculaneum und die Villa erst eine Serie pyroklastischer Ströme mit bis zu 370 Grad Celsius heißem Material und anschließend heiße Schlammlawinen, so genannte Lahare.

Schriftrollen als Holzkohle

Der Schlamm verfestigte sich zu einer 30 Meter mächtigen Gesteinsschicht. Die darin gefangenen Städte gerieten in Vergessenheit. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts kamen erste Funde ans Tageslicht. Im Jahr 1750 stießen Arbeiter beim Bau eines Brunnenschachts auf einen Mosaikboden der Villa. In den folgenden Jahren trieben Arbeiter und Strafgefangene Tunnel durch die verfüllten Gänge und Räume, manchmal auch durch Wände. Das Kommando über die Arbeiten führte Roque Joaquín de Alcubierre, ein spanischer Militäringenieur, der im Auftrag Königs Karl VII. von Neapel und Sizilien handelte. Auf der Suche nach Kunstschätzen und Statuen für die königliche Sammlung nahm Alcubierre keine Rücksicht auf das augenscheinlich wertlose Zeug, das seine Männer an fünf verschiedenen Stellen zu Tage förderten: schwarze, verbeulte Zylinder ohne erkennbare Funktion. Anfangs soll man sie für Holzkohle gehalten haben, einige wurden wohl tatsächlich verheizt. Die Funde wurden kaum dokumentiert. Wo welcher Zylinder lag, verraten die Aufzeichnungen nicht. Spätere Generationen von Archäologen waren und sind auf Alcubierre nicht gut zu sprechen.

Katastrophaler Erhaltungszustand | Von manchen Rollen sind nur stark verkohlte Fragmente übrig. Vor allem die Fundstücke, die in der Vergangenheit zerlegt wurden, verfallen.

Nach den ersten Entdeckungen dauerte es zwei Jahre, bis den Ausgräbern dämmerte, was sie da vor sich hatten. Wie viele Bücher bis dahin entsorgt wurden, wird man wohl nie erfahren. Mit den nun folgenden Versuchen, die Rollen zu öffnen, begann das nächste Kapitel dieser langen, unrühmlichen Geschichte. Als Erster bemühte sich der Illustrator und spätere Kurator des Museo Herculanense Camillo Paderni, einige Rollen der Länge nach in Hälften zu schlagen. Dabei zerstörte er vor allem das Zentrum der Rolle, jenen Teil, der meist am besten erhalten geblieben war. Spätere Verfahren führten die Schnitte nicht bis zum Zentrum, doch auch sie zerstörten mehr, als sie erschlossen. Hunderte von Rollen wurden so zu einer Sammlung von Puzzleteilen, von denen das meiste heute in der Officina dei Papiri lagert. Ihr Verfall schreitet erkennbar voran. In manchen Sammlungskästen hängen feinste Flitter losen Kohlenstoffs wie Insektenflügel an ihrem Träger aus Pappe. In anderen erkennt man die Konturen früherer Fragmente im alten Klebstoff, daneben feine Papyrusfetzen.

Im Lesesaal der Officina dei Papiri sitzen Papyrologen über Stereomikroskopen und schauen auf entrollte Fragmente. Ein Blick durch das Mikroskop zeigt, dass viele der Fragmente aus mehreren miteinander verbackenen Schichten bestehen, manche in katastrophal schlechtem Zustand. »Man muss es schräg gegen das Licht halten«, sagt Daniel Delattre, ein emeritierter Forscher des Institut de recherche et d'histoire des textes in Paris, der hochangesehene Rekonstruktionen veröffentlicht hat. In der Officina arbeitet er an einem vergleichsweise lesbaren Exemplar. »Wenn man es dann etwas bewegt, erkennt man das Relief.« Tatsächlich wirkt die Tinte unter dem Mikroskop plastisch, als könnte man sie tasten. Bisher haben Papyrologen aus den Fragmenten meist nur einzelne Buchstaben und Teilsätze rekonstruiert. Durchgängiger Text ist selten. Trotzdem konnte der größte Teil des Bestands einem einzigen griechischen Autor zugeordnet werden, Philodemos von Gadara (110 bis nach 40 v. Chr.).

Eine Spezialbibliothek der Epikureer?

Philodemos schrieb vor allem zur Lehre Epikurs. Die Epikureer fanden Seelenruhe in der Vorstellung, dass Götter zwar existieren mögen, sich mit den Menschen aber nicht befassen. Die Statue eines ruhenden Merkurs, die in der Villa gefunden wurde, macht deutlich: Für den Götterboten gibt es nichts zu tun. Die epikureische Philosophie umfasst auch den Atomismus Demokrits (er lebte während der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.). Für sie existiert in der Welt nur die Bewegung der kleinsten unsichtbaren Elementarteilchen im Raum, ihre Gruppierungen und Zusammenstöße. Das All ist unendlich und kommt ohne jede Metaphysik aus, weshalb es auch keinen Anlass gibt, sich vor dem Tod zu fürchten, »der uns nicht betrifft«, schrieb Epikur (341-270 v. Chr.).

Grundriss der Villa dei Papiri | Ende des 18. Jahrhunderts fertigte der Schweizer Ingenieur Karl Weber einen Plan der damals frei gelegten Bereiche an und verzeichnete dort auch die Fundorte einiger Schriftrollen. Die Philodemos-Rollen stammen aus einem kleinen Raum, der mit der römischen Ziffer V bezeichnet ist und sich direkt neben einem grau schattierten Areal am rechten Rand der Anlage befindet.

Die epikureische und atomistische Überlieferung ist weitgehend verloren gegangen, wie fast die gesamte Literatur der antiken Welt. Die Zahlen gehen auseinander, manche Autoren nehmen an, dass nur 0,1 Prozent des vorchristlichen Bücherbestands erhalten geblieben ist.

Jene 300 Papyrusrollen zu erschließen, die unzugänglich, aber vollständig geblieben sind, wäre da von unschätzbarer Bedeutung. Es sind aber gerade die am stärksten verkohlten Exemplare, die dem Messer Padernis entkamen. Spröde, pechschwarz und verformt, als würde ein Elefant den Rüssel rümpfen, bieten sie einen Anblick, der jeden Zugang zum Text hoffnungslos erscheinen lässt. Doch in den vergangenen Jahren wurden mehrere Methoden vorgeschlagen, mit denen man vielleicht doch noch in die verkohlten Rollen blicken könnte – und damit in die verschollene Geisteswelt der Antike.

Im Jahr 2015 veröffentlichte eine Gruppe um Delattre und den Physiker Vito Mocella vom Istituto per la microelettronica e microsistemi (IMM) in Neapel ein Verfahren, das schnell als Durchbruch gefeiert wurde. Es beruht auf Röntgenstrahlung und macht sich jenes feine Relief zu Nutze, das die Tinte auf Papyrus hinterlässt. Damit hoffen die Forscher ein Problem zu überwinden, an dem alle bisherigen Versuche mit Röntgenstrahlen gescheitert waren: die Allgegenwart von Kohle.

Antike Autoren nutzten eine Tinte, die im Wesentlichen aus Ruß oder Holzkohle und einem Bindemittel bestand. Selbst mit dem besten Röntgengerät war es den Wissenschaftlern nicht gelungen, zwischen der Kohle in der Tinte und der des verkohlten Papyrus zu unterscheiden. Allerdings hatten sie dazu lediglich den so genannten Absorptionskontrast betrachtet, jenes Phänomen, mit dem beispielsweise auch in der Medizin Bilder produziert werden. Delattre und Mocella verfolgten nun eine andere Idee: Vielleicht ließe sich der kleine Hügel aus Tintenpigmenten mit Hilfe der Phasenverschiebung des Röntgenlichts erkennen. Dieser Phasenkontrast entsteht, wenn Röntgenstrahlen auf dem Weg durch verschiedene Materialien auf unterschiedliche Weise gebrochen werden.

Der entscheidende Vorteil der Röntgen-Phasenkontrasttomografie ist die Fähigkeit, selbst sehr geringen Kontrast noch abzubilden. Ihr Nachteil ist, dass sie nach einem Teilchenbeschleuniger als Strahlenquelle verlangt. Um die Phasenverschiebung zuordnen zu können, nutzt man Röntgenlicht mit dem Charakter eines Laserstrahls. Einen solchen haarfeinen, kohärenten Strahl mit eng definiertem, »monochromatischen« Energieniveau erzeugten die Forscher in einem ringförmigen Beschleuniger, einem Synchrotron, und tasteten eine der Rollen aus Herculaneum Zeile für Zeile ab. Das Verfahren lieferte brillante Bilder aus dem zerknautschten Inneren der Rolle. Die deutlichste Struktur im Papyrus jedoch waren Gitter aus Pflanzenfasern; beim Herstellungsprozess wird das Mark der Stängel in Streifen geschnitten, kreuzweise übereinandergelegt und gepresst. Allerdings berichten Delattre und Mocalla in ihrem Artikel von 2015 im Fachmagazin »Nature Communications« auch von einer Reihe Buchstaben, die sie erkannt haben wollen – einzelne, sehr unscharfe Strukturen. Ob es sich wirklich um Schriftzeichen handelt oder ob die Forscher in der Gitterstruktur des Papyrus lediglich das fanden, was sie finden wollten, darüber wird in der kleinen Gemeinde der Schriftrollenexperten seither teils heftig gestritten.

Blei macht die Tinte sichtbar

Schon im folgenden Jahr versprach eine Studie, an der wieder Mocella und Delattre beteiligt waren, einen Weg, die Tomografie erheblich zu verbessern. Bei einer Röntgenfloureszenzanalyse werden Atome mit dem intensiven Röntgenlicht des Synchrotrons dazu angeregt, in der jeweils für sie charakteristischen Wellenlänge nachzuleuchten. Mit dieser Methode konnten die Autoren am ESRF-Elektronenspeicherring in Grenoble nachweisen, dass die Tinte auf zwei winzigen Papyrusfragmenten, die am Institut de France in Paris aufbewahrt werden, Blei enthält. Warum es sich dort findet, ist ungeklärt. Es könnte aber von großem Vorteil für die Entschlüsselung sein. Ab einer hinreichend hohen Konzentration ist Blei eine sehr gute Quelle für verschiedene Formen von Röntgenkontrast. Grenzt man den Strahl eines Synchrotrons auf die Wellenlänge ein, die das Schwermetall bevorzugt absorbiert, wird eine Darstellung von dessen Verteilung möglich, und damit indirekt auch von der Tinte. Ob und wenn ja, wie viel Blei in den 300 noch verschlossenen Rollen zu erwarten ist, weiß derzeit niemand.

© VisCenter
Die Computertomografie erlaubt einen »Flug durch die Papyrusrolle«
Die Strukturen um die eng gewickelte Rolle herum rühren von dem Container her, mit dem der Papyrus in den Scanner geschoben wird.

Im Sommer 2019 fanden sich fast alle, die Rang und Namen in der Papyrologenszene haben, zu einer Konferenz im italienischen Lecce ein, auf der Ergebnisse wie diese diskutiert wurden. Der versammelten Kollegenschar stellte Mocella zudem ein weiteres mögliches Bildgebungsverfahren vor. Auch diese Variante basiert auf dem Bleigehalt der Tinte und Synchrotronstrahlung. Zwei voneinander unabhängige Messköpfe sollen stereoskopisch Ausschau halten nach der Fluoreszenz des Bleis, wenn der Röntgenstrahl den jeweiligen Messpunkt im Inneren einer Rolle durchquert. Die Röntgenfluoreszenz der meisten Elemente ist von niedriger Frequenz und damit zu weich, um aus dem Inneren einer Papyrusrolle zu entkommen. Schwere Atomkerne dagegen leuchten mit härterer Röntgenstrahlung nach, die es, ohne absorbiert zu werden, zu den Messköpfen schafft. Blei in der Tinte ist also auch für diese »konfokale Fluoreszenztomografie« ein Glücksfall.

Da kommt es sehr gelegen, dass eine Gruppe um Olivier Bonnerot und Ira Rabin von der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung in Berlin den Fund von Blei auf einem dritten Fragment aus Herculaneum vorstellen konnte. Die gemessenen Konzentrationen variierten erneut sehr stark, doch dass Blei in Tinte aus Herculaneum vorkommt, dürfte damit als ausgemacht gelten. Allerdings hat jeder Einsatz von Synchronstrahlung mit einer zentralen Herausforderung zu kämpfen: »Beamtime«. Die verfügbare Arbeitszeit in einer der Stationen genannten Messplätze der Beschleunigerringe ist teuer. Der Prozess aus Anträgen und Bewilligung der Finanzmittel hält Forscher monate- bis jahrelang auf Trab, ehe auch nur eine einzige Messung stattfinden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass Speicherringe stationäre Großanlagen sind. Die Papyri müssen von den Instituten, die sie aufbewahren, dorthin ausgeliehen werden. Außer in der Officina dei Papiri, die mit Abstand die meisten Rollen und Fragmente besitzt, liegen noch vier im Institut de France in Paris und vermutlich acht in der Bodleian Library in Oxford. Insgesamt jedoch ist die Situation schwierig. Die Kulturverwaltung dazu zu bewegen, Originale für Untersuchungen an fremde Institute herauszugeben, hat sich als größte Hürde für interessierte Forscher herausgestellt. Die Verfügungsgewalt über die Rollen verleiht den Instituten Bedeutung. Die Folge davon ist, dass bisher nur eine Hand voll röntgentomografischer Untersuchungen stattfinden konnte.

Per KI in die Papyri blicken

Auffallend abwesend auf der zentralen Versammlung seines Forschungsfelds in Lecce war ein Forscher, der bei den ersten Versuchen mit Synchrotronstrahlung noch mit Mocella und Delattre zusammengearbeitet hatte, inzwischen aber eigene Wege geht, der Informatiker Brent Seales. Im Mai 2019 veröffentlichte seine Gruppe von der University of Kentucky eine Arbeit, die sich die Erfolge künstlicher Intelligenz zu Nutze machte. In Versuchen mit nachgebauten Papyri demonstrierte das Team um Erstautor Clifford Seth Parker, wie ein neuronales Netz, das durch »Deep Learning« trainiert wird, herculaneische Tinte auch in den Datensätzen konventioneller Industrieröntgengeräte aufspüren kann. Hochauflösende dreidimensionale Röntgenbilder, so genannte Micro-CTs, enthalten demnach »subtile« Informationen zu Strukturunterschieden zwischen Tinte und Papyrus. Auf Abbildungen sind diese mangels Kontrast nicht zu erkennen. Ein selbstlernender Algorithmus aber könne die gesuchte Information aus 3-D-Scans gewinnen, wenn er vorher gezeigt bekommt, wie sich der »morphologische Kontrast« der Tinte äußert. Die Versuche demonstrierten zwar vorerst nur, dass die Software Tinte erkennt, die vielfach überzeichnet wurde. Doch die zu Grunde liegende Idee ist viel versprechend. Auf einem Micro-CT-Bild eines Fragments habe sein Algorithmus bereits einen kleinen, frei liegenden Buchstaben erkennen können, erläuterte Seales auf einem Vortrag in Malibu im Oktober 2019.

Schriftrolle im Institut de France | Mit Hilfe der Beschleunigeranlage Diamond Light Source in Oxford sollen Papyri aus Herculaneum durchleuchtet werden. Das Team um den Informatiker Brent Seales von der University of Kentucky plant, die Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz auszuwerten.

Vor wenigen Wochen konnte der Forscher zudem erstmals herculaneische Rollen mit der effektiveren Synchrotronstrahlung durchleuchten. Das Institut de France hatte ihm zwei Rollen zur Verfügung gestellt, die am Beschleunigerring Diamond Light Source bei Oxford untersucht wurden. Die subtilen Signale sollten hier besser sichtbar gemacht werden können als mit konventionellem Micro-CT. Die Auswertung wird viele Monate in Anspruch nehmen, und die Entwicklung des Algorithmus, der Unmengen an Informationen braucht, um zu lernen, ist längst nicht abgeschlossen. Die Idee aber, den morphologischen Kontrast zu erkennen, lässt sich auf andere Methoden anwenden, die für sich allein genommen knapp scheitern würden.

Ob die geborgenen Bücher mit einer dieser Methoden künftig zerstörungsfrei gelesen werden können, ist auch wesentlich für einen Streit um das weitere Vorgehen an der Fundstelle. Die Ausgräber unter dem Kommando Alcubierres hatten die Buchrollen teils in kleinen Kommoden, teils in Transportboxen gefunden, so genannten Capsae. Manche lagen lose auf dem Boden, was mit der Schlammlawine zu tun haben dürfte, die in die Räume eindrang. Die meisten Bücher aber fanden sich in Regalen, die alle Wände eines kleinen, fensterlosen Raums bedeckten. Ende des 18. Jahrhunderts hat der Schweizer Ingenieur Karl Weber die Tunnel vermessen und den Plan eines Stockwerks der Villa erstellt, auf dem die Fundorte benannt sind. Darauf wird deutlich: Die kleine Kammer war zum Lesen ungeeignet. Es dürfte Sitte gewesen sein, Bücherlager und Lesesäle getrennt zu halten. Der »Handbestand«, der gerade Leser fand, wurde wohl in Capsae und Kommoden in den lichteren Räumen versammelt. Dafür spricht auch die Existenz eines Raums, in dem über 50 Stühle im Halbkreis gestanden haben sollen, vermutlich ein Vorlesungssaal.

Die eigentliche Bibliothek liegt noch begraben

Heute geht man davon aus, dass die Mehrheit der Texte – jene in griechischer Sprache und mit Bezug zu Philodemos – aus dem kleinen Lagerraum geborgen wurden, die Lateinischen dagegen aus Capsae und in den Lesesälen. Das legen beispielswiese Unterschiede im Erhaltungszustand nahe. Der kleine Raum könnte also eine Art Philodemos-Gedenkarchiv gewesen sein, eine philologische Einrichtung für Gelehrte. Tatsächlich lagen Philodemos' Bücher zum Teil in ähnlichen Versionen vor. Manche Texte tragen editorische Kommentare wie frühe Entwürfe, obwohl Philodemos beim Ausbruch des Vesuvs bereits über 100 Jahre verstorben war.

Rekonstruktion der Villa dei Papiri | Die Schriftrollen wurden in einem herrschaftlichen Anwesen direkt am Meer gefunden. Große Teile der Anlage sind immer noch unter Gestein verborgen. Wer sie einst bewohnte, ist nicht sicher. Doch die Bibliothek dürfte ein Anziehungspunkt für Gelehrte gewesen sein.

Zugleich spricht einiges dafür, dass die eigentliche Bibliothek, aus der der »Handbestand« in den Capsae stammt, nie geborgen worden ist. So fanden Ausgrabungen in den 1990er Jahren zwei zusätzliche Stockwerke, die 1750 noch unbekannt waren. Wartet im versteinerten Schlamm, der diesen Gebäudeteil ausfüllt, der größte Neufund antiker Literatur seit der Renaissance?

1999 stoppte der zuständige Superintendent der Kulturgüterverwaltung Piero Giovanni Guzzo die letzten Ausgrabungen mit dem Argument, Konservierungsarbeiten hätten Vorrang. Seither liegt die halb fertige Ausgrabung still. Zu ihrem Vermächtnis zählt, neben neuen Erkenntnissen, auch ein 30 Meter tiefer Geländeeinschnitt, der unter dauernder Gefahr des Grundwassereinbruchs steht. Pumpen wurden bereits installiert. Ob dadurch die Bibliothek im angrenzenden Gestein, falls sie denn existiert, vom Wasser verschont bleibt, ist umstritten, ebenso wie die Frage, ob man mit einem Tunnel zu den verschütteten Büchern vordringen könnte. Vor Jahren schon ließ Guzzo wissen, dass »unkonventionelle Bergungsverfahren« auf ihre Machbarkeit abgeklopft würden. Geschehen ist davon anscheinend nichts. Ist die Bibliothek aber sicher, so lautet das Argument, dann solle man besser die Finger von ihr lassen. Man könne das Material dann ja doch kaum mehr vor dem Verfall retten – und seinen Inhalt ohnehin nicht lesen.

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