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Biodiversität: Die Hüter der Vielfalt

Die Indigenen am Amazonas sehen sich als Hüter des Waldes. Ihnen gelang, woran die meisten anderen scheiterten: die natürliche Vielfalt zu mehren. Wie können wir von ihnen lernen?
Angehörige vom Stamm der Kayapó

Fast scheint es ein Naturgesetz zu sein, dass aus blühender Vielfalt eine krisenanfällige Monokultur wird, sobald der Mensch auf den Plan tritt. Die Vorfahren der Maori beispielsweise rotteten Neuseelands große Beutetiere aus, kaum dass sie auf den Inseln angelangt waren. Das antike Rom verschlang derart viel Baumaterial, dass der Umkreis bald abgeholzt war. Und einer von Europas letzten Urwäldern, der Białowieża-Urwald in Polen, droht gerade unter den Äxten der Holzwirtschaftsfirmen zu fallen.

Doch es ist kein Naturgesetz. Beispiele aus manchen Weltgegenden zeigen, dass es auch anders geht. Die indigenen Bewohner des Amazonasregenwalds etwa. Sie sehen sich als die »Hüter des Waldes«. Wie gehen sie mit der Vielfalt um? Lässt sich ihr tiefgründiges Wissen, das sie und andere indigene Gemeinschaften über ihre Umwelt angesammelt haben, womöglich auch anderswo nutzen?

Der Verlust von Biodiversität wird ähnlich katastrophale Folgen haben wie der Klimawandel – so warnte etwa der Präsident des Weltbiodiversitätsrats der UNO Robert Watson im Mai 2019. Etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Es ist wie ein Strudel: Innerhalb der letzten 40 Jahre hat der Planet die Hälfte seiner natürlichen Ökosysteme verloren, und gleichzeitig verdoppelte sich der Verbrauch an natürlichen Ressourcen. Geschätzt ein Achtel der Tier- und Pflanzenarten unserer Erde könnte in den nächsten paar Jahrzehnten verschwinden, wenn es uns nicht gelingt, das Ruder herumzureißen. So steht es im Globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES (2019). In einer Zeit, die manchen bereits als sechstes großes Massenaussterben der Erdgeschichte gilt, besteht dringender Handlungsbedarf.

Biodiversität von Menschenhand

Dass am Mythos von der vermeintlich unausweichlichen Zerstörungswirkung des Homo sapiens etwas nicht stimmen kann, zeigte sich bei archäologischen Studien aus dem Amazonasbecken. Die atemberaubende Vielfalt, die wir heute dort vorfinden, so erkannten die Ausgräber, ist auch ein Werk aus Menschenhand.

Wenn wir uns heute Amazonien als den Ort unberührter Natur vorstellen, so entspricht das kaum der Realität. Das Amazonasgebiet bedeckt etwa 70 Prozent der Fläche Südamerikas. Es ist das Synonym für Diversität schlechthin – nicht allein in biologischer Hinsicht, auch die indigenen Völker haben dort ihre kulturellen Besonderheiten zu wahren gewusst; hier findet man zudem mit die größte Sprachenvielfalt der Erde.

Lange vor der Kolonisierung durch die Europäer haben sich im Amazonasbecken sehr diverse und komplexe Kulturen entwickelt und eng an ihre Umgebung angepasst. Experten schätzen, dass ein beträchtlicher Teil der Regenwälder, zehn bis zwölf Prozent, auf die sorgfältige Bewirtschaftung durch die indigene Bevölkerung zurückzuführen ist. Der Urwald ist in Wahrheit auch Kulturwald.

Mit dem Kanu auf dem Amazonas | Die Biodiversität des Amazonasregenwaldes ist zum Teil menschengemacht: Von alters her sorgen seine Bewohner für Vielfalt in ihrem Umfeld.

Archäologische Daten des amazonischen Tieflands reichen über 13 000 Jahre in die Vergangenheit zurück. Sie zeigen, dass dort die Menschen seit mindestens 7000 Jahren Nutzpflanzen domestiziert haben. Die amazonische Anbaupraxis ist das Ergebnis einer langen Geschichte gegenseitiger Anpassung von Mensch und Natur. Die frühen Bewohner kultivierten den Regenwald, griffen also in die Evolution von Pflanzen und Landschaften ein.

Im Team mit Biologen wiesen Archäologen nach, dass in der Umgebung menschlicher Siedlungen mehr Pflanzen und auch mehr Pflanzenarten wachsen als in unbewohnten Gebieten. »Es gibt einige weit verbreitete Arten wie den Paranussbaum, eine ikonische und wirtschaftlich wertvolle Art, die weite Teile des Amazonasbeckens beherrscht«, sagt die Archäologin Carla Jaimes Betancourt von der Universität Bonn. »Dieser Baum spielt seit Tausenden von Jahren eine wichtige Rolle für den menschlichen Lebensunterhalt. Seine derzeitige Verbreitung könnte ein Erbe früher menschlicher Siedlungen sein.«

Archäologisch-ökologische Studien über die Interaktion von Mensch und Natur zeigen zudem, wie sich die Bewirtschaftung der Amazonaswälder im Lauf der Zeit verändert hat. So unterbrach »die Kolonisierung die indigenen Bewirtschaftungspraktiken«, sagt Jaimes Betancourt. »Das ist wahrscheinlich auf den Zusammenbruch der präkolumbischen Gesellschaften zurückzuführen und hatte Auswirkungen auf die Wälder.«

Die archäologischen Erkenntnisse zeigen demnach, dass die indigenen Kulturen die Vielfalt ihrer Umwelt vermehrten und »sie auf integrierte Weise bewirtschafteten. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur verschwimmen hier«, sagt die Forscherin. Wie genau die Amazonasindianer vorgingen und was dies bewirkte, lohne sich zu erforschen. Davon könne die Naturschutzpolitik lernen.

Das Versprechen indigener Wissenssysteme

Das fordert der Weltbiodiversitätsrat. Zumal das Thema längst der Geschichtswissenschaft entwachsen ist. Inzwischen stehen die Lebensweisen heutiger indigener und lokaler Gemeinschaften im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Wie gehen sie um mit dem Druck, den Abholzung, Enteignung und politische Anfeindungen ausüben? Übrigens nicht erst seit dem Amtsantritt des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro: Seit Jahrhunderten passen sich indigene Gemeinschaften Katastrophen wie veränderten Klima- und Ökosystembedingungen an, etwa den Folgen der Kolonialisierung und der Vertreibung aus ihren Territorien. Von ihnen könnte man lernen, wie sich sozialökologische Systeme steuern lassen und wie Krisen und Veränderungen bewältigt werden.

»Wenn wir mit Indigenen Biodiversität messen wollen, müssen wir zuerst verstehen, was für sie wichtig ist und warum«
David Lam

Doch man muss sich damit beeilen. Auch in den verbliebenen indigenen Lebensräumen gerät die biokulturelle Diversität zunehmend unter Druck. Die Ausdehnung von Monokulturen und Raubbau beeinträchtigen die indigenen Pflanzer immer stärker in ihrer Fähigkeit, die wilde und domestizierte biologische Vielfalt zu erhalten. Dennoch nehmen ihr Wissen und ihre Praktiken im Landmanagement weniger schnell ab als in globalisierten Gebieten.

Gegenseitiges Verstehen, lebendiger Austausch

Forscher der Leuphana Universität Lüneburg und der Universität Stockholm haben nun kürzlich in einer gemeinsamen Studie untersucht, wie indigenes Wissen in den wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs einfließt. Dafür analysierten sie insgesamt 81 neuere Fachartikel und fanden heraus, dass indigenes Wissen häufig nur dazu genutzt wird, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Veränderung von Umwelt, Klima oder Sozialökologie zu bestätigen und zu ergänzen.

Wirklich von indigenen und lokalen Wissenssystemen zu lernen, sieht jedoch anders aus. Und es ist einfacher gesagt als getan. Denn unsere auf Objektivität und Nachweisbarkeit ausgerichtete wissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich grundlegend von indigenen Weltanschauungen und kulturellen Werten. »Wichtig ist, dass jede Wissensart ihre Integrität behält und man sich gegenseitig zu verstehen versucht«, sagt der Nachhaltigkeitsforscher David Lam, Hauptautor der Studie. Indigenes Wissen beruhe auf Beobachtungen und Erfahrungen, die über Generationen praktisch und mündlich weitergegeben würden. »Es ist oft stark von Spiritualität und Glauben geprägt«, sagt Lam, »deswegen wird es in der Wissenschaft häufig nicht ernst genommen. Aber wenn wir zusammen mit indigenen Gemeinschaften Biodiversität messen wollen, müssen wir zuerst verstehen, welche Indikatoren für diese wichtig sind und warum.«

Indigene Wissenssysteme bestehen eben auch aus spirituellen und religiösen Praktiken. Sie entwickeln sich im Prozess der Weitergabe an die nachfolgenden Generationen und passen sich so an eine sich verändernde Umwelt an. Die Beziehungen der Lebewesen (die Menschen eingeschlossen) zu dieser Umwelt werden selbst als lebendig erlebt. Innerhalb eines naturwissenschaftlichen Zugangs sind diese Aspekte schwer einzubringen. Noch vor Kurzem hätte man schamanische Aussagen über den Wald herablassend als primitiven Glauben oder bestenfalls als exotische Metaphern bezeichnet. Heute jedoch weiß man, dass dieses kosmologische Wissen nicht einfach aus der Luft gegriffen ist. Es geht darum, es zu verstehen und genauer hinzusehen.

Die Canela wüssten beispielsweise die Schönheit ihrer unterschiedlichen Bohnensorten zu schätzen, sagt die britische Ethnologin Theresa Miller. Sie erforscht Umweltästhetik und die Erhaltung der Artenvielfalt bei den Ramkokamekra-Canela im Nordosten Brasiliens. Besonders gefallen den Canela die Bohnen, die im Design ihren Körperbemalungen gleichen. Auch ziehen sie fünf unterschiedliche Sorten der Ackerbohne, deren Muster ihren rituellen Masken ähneln. Die Canela-Gärtner vergleichen die physischen Charakteristika von Bohnen und Menschen. Kulturpflanzen wie Erdnuss, Süßkartoffel, Kürbis und Mais sind für sie in der Lage, Entscheidungen zu treffen, sie hören die Gesänge der Menschen, erinnern sich und können Empfindungen haben. Die Pflanzen sind Teil ihrer Ökogesellschaft, und viele Rituale sollen sie mehren und ihr Wachstum begünstigen. Diese enge und kommunikative Verbindung zwischen Menschen und Pflanzen ist typisch für das gesamte amazonische Tiefland.

Weltmeister der Diversifizierung

Viel zu wenig wissen wir noch über die Agrodiversität traditioneller Völker im Amazonasgebiet. Die Südamerika-Ausgabe der Studienreihe »Knowing our Lands and Resources«, die im Auftrag der UNESCO und des Weltbiodiversitätsrats erstellt wurde, zeigt, dass in den Gärten der afroamerikanischen Aluku aus Französisch-Guyana eine beeindruckende Vielfalt wächst. Von ihren 38 Nutzpflanzenarten verwendeten sie insgesamt 156 verschiedene Sorten, allein beim Maniok unterscheiden sie rund 90 Varianten. Ihre Nachbarn, die Wayana, kultivieren 28 Arten und 129 Sorten. Die Bewohner des amazonischen Tieflands sind vor allem Weltmeister in der Diversifizierung von Maniokknollen, es gibt auch Spezialisten im Anbau des wilden Pfeffers. So ziehen die Baniwa vom unteren Içana-Fluss nicht weniger als 78 unterschiedliche Pfeffersorten. Das Interesse am Experimentieren mit den unterschiedlichen Arten ist für Amazonien vielfach belegt. Neben den heimischen Spezies verstehen sich die Bewohner des amazonischen Tieflands auch auf die Diversifizierung exotischer Pflanzen wie Zuckerrohr oder Bohnen. Schnell nehmen sie diese Pflanzen in ihre Kollektion auf und variieren sie.

Genau das scheint ein wichtiges Merkmal und eine Besonderheit indigener Pflanzer zu sein: Sie haben es wohl weniger auf die vollständige Domestizierung der Pflanzen und damit auf eine Fixierung ihrer Merkmale abgesehen als vielmehr auf das ständige Experimentieren mit neuen Wildsorten, die sie in ihren Gärten wachsen lassen, so Manuela Carneiro da Cunha und Ana Gabriela Morim de Lima, die Autorinnen von Kapitel 5 der UNESCO-Studie .

Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel der Sateré-Mawé. Sie sind die Erfinder des Extraktionsprozesses der Guaraná-Frucht, einer wilden Kletterpflanze. Die Sateré sind auf deren »Nichtdomestizierung« spezialisiert und weigern sich, standardisierte Guaraná-Sorten zu benutzen, die mittlerweile großflächig für industriell hergestellte Guaraná-Limonade angebaut werden. Stattdessen graben sie immer wieder neue Ableger wilder Ranken aus, pflanzen sie in ihren artenreichen »Waldgärten« an und vertreiben die Ernte innerhalb eines Fair-Trade-Unternehmens, dem Consórcio dos Produtores Sateré-Mawé.

Hierin könnte der Schlüssel zum Verständnis der besonderen Resilienz der indigenen Völker des Amazonasbeckens liegen, die sie gegenüber der ständigen Veränderung und Bedrohung ihrer Lebensgrundlagen aufbringen müssen: Sie bleiben flexibel, hegen und pflegen die Vielfalt ihrer Nahrungsgrundlagen und passen sich so den Gegebenheiten ihrer biosozialen Umwelt bestmöglich an. Doch seien die Vorteile, die sich daraus ergäben, immer noch nicht genügend anerkannt, so die Autorinnen der Studie. Von der offiziellen Politik würden sie viel zu wenig zur Kenntnis genommen.

Grenzen indigener Resilienz

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit indigenen Wissenssystemen sollte zu einer weiteren Einsicht beitragen: Wenn sich die indigenen Völker, die nicht nur in Brasilien Verfolgung, Mord und Übergriffen auf ihr Land ausgesetzt sind, als »Hüter des Regenwaldes« bezeichnen, so sind das keine leeren Phrasen. Sie haben es über Jahrhunderte hinweg bewiesen. Doch noch nie war die Verteidigung der Wälder, Berge und Flüsse Lateinamerikas so gefährlich wie heute. Auf der Internetplattform »Tierra de Resistentes« veröffentlichten kürzlich 30 Journalisten die Ergebnisse ihrer Recherchen. Es wird deutlich: Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas zahlt einen hohen Preis für die Verteidigung der Diversität. Gemeldet wurden für den Zeitraum von 2009 bis 2018 insgesamt 1356 Angriffe auf indigene Menschen und lokale Gemeinschaften, die ihr Land verteidigen. Davon endeten 375 tödlich.

»Wir schützen den Wald für alle. Wir arbeiten mit unseren Schamanen zusammen, die sich gut darauf verstehen und deren Weisheit aus dem Kontakt mit ihrem Land kommt«, sagt Davi Kopenava, Angehörige der Yanomami und frisch gekürter Träger des alternativen Nobelpreises, gegenüber dem Magazin »Mongabay«. »Die Weißen können unser Haus nicht zerstören, denn wenn sie es tun, wird es für die ganze Welt nicht gut ausgehen.«

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