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Die Kugel des Anstoßes: Wie Billard die Welt eroberte

Was haben Kant, Maria Stuart und Mozart gemeinsam? Sie spielten leidenschaftlich gern Billard. Doch erst ein Zufall in einer Pariser Haftanstalt machte das Spiel zur Sensation.
Eine historische Gemäldeszene zeigt eine Gruppe von Menschen in einem Raum mit Holzbalkendecke. Im Vordergrund stehen zwei Männer in historischer Kleidung, einer in Rot und der andere in Schwarz. Im Hintergrund sind weitere Personen um einen Billardtisch versammelt, einige sitzen, andere stehen. An der Decke hängt eine Reihe von Kerzenhaltern. Die Szene vermittelt den Eindruck einer geselligen Zusammenkunft oder eines Treffens aus einer vergangenen Epoche.
Männer spielen in einem öffentlichen Salon Billard. Der Künstler Jean-Siméon Chardin malte das Bild um 1720.

François Mingaud saß in Arrest. Der französische Kavallerieoffizier hatte Napoleons Kriegspolitik kritisiert. Sein einziger Zeitvertreib war ein Billardtisch – an dem er ausgiebig spielte. Als einmal sein Queue splitterte, befestigte Mingaud kurzerhand den Lederriemen seines Schuhs auf das Stockende und raute es auf. Billardkreide gab es damals noch nicht. Doch der Effekt war derselbe: Plötzlich konnte er die Kugeln mit Drall spielen, mit sogenanntem Effet. Mingaud publizierte seine neu entdeckten Techniken im Jahr 1827 in seinem Buch »Noble Jeu de Billiard – Coups extraordinaires et surprenans« (zu Deutsch: »Das vornehme Billardspiel– außergewöhnliche und verblüffende Stoßtechniken«). Zuvor demonstrierte der Franzose seine revolutionäre Technik in Paris und tourte später durch Europa. Er soll sogar Bonaparte beeindruckt haben, dessen Frau Joséphine eine passionierte Billardspielerin war.

Nur noch wenige Originalexemplare von Mingauds Buch existieren, das inzwischen auf einen Wert von 4500 bis 5000 Euro taxiert wird. Eines besitzt Dieter Haase, der 74-jährige Kurator des Wiener Billardmuseums Weingartner, das auch eine Billardwerkstatt betreibt. Neben alten Kupfer- und Stahlstichen lagern dort Raritäten wie handgeschnitzte Queues aus dem 16. und 17. Jahrhundert und Elfenbeinkugeln aus dem 18. bis 19. Jahrhundert.

Haases Werke gelten als Standardliteratur. So hat er eine Bibliografie über alle existierenden Billardbücher geschrieben, immerhin 3600 an der Zahl, und eine Enzyklopädie über den Sport verfasst. Bei ihm zu Hause stapeln sich 600 Billardbücher in den Regalen.

»Die Geschichte des Billards ist geprägt durch viele Halbwahrheiten und Falschbehauptungen«, sagt er. »Allein die Fehlerquote bei Wikipedia liegt bei 40 bis 50 Prozent.« So hätten weder Hitler noch Lenin Billard gespielt, wie es manches Mal in Quellen zu lesen sei, »auch wenn sie jeweils zu ihrer Zeit in München mit dem Schelling-Salon die gleiche Stammkneipe hatten, in der Billard gespielt wurde«.

Unwahrheiten über den Billardsport

Das seien nicht die einzigen Fehlannahmen über den Sport mit dem Queue: »Auch Shakespeares Let's to Billiards!‹ in ›Antonius und Cleopatraist ein Anachronismus – das Spiel existierte in der Antike nicht.« Der größte Humbug, so Haase, sei die Behauptung, dass Karl IX. von Frankreich (1550–1574) während des Massenmords an Protestanten in der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572 sein Billardspiel unterbrochen habe, »um von einem Fenster des Louvre aus auf die fliehenden Hugenotten zu schießen«. Zur Einordnung: Jener Trakt des Louvre, von dem der französische König gezielt haben soll, hat zu jener Zeit noch gar nicht existiert. Die Szene wurde erfunden, um Karl als brutalen Tyrannen zu brandmarken. 

Vorformen des Billards kamen im Mittelalter auf. In den Chroniken des 13. Jahrhunderts finden sich immer wieder Hinweise auf Kugelspiele, die Aristokraten zum Zeitvertreib spielten. Billard entstand vermutlich aus dem mittelalterlichen Rasenspiel Paille-Maille, einer Krocket-Variante. Dabei werden Bälle mit einem Holzhammer (»mace«) durch hohe Eisenbogen getrieben. Um wetterunabhängig spielen zu können, verlegte der Adel sein Freizeitvergnügen im 15. Jahrhundert in die Säle und später auf Tische. Ob die Ursprünge in Frankreich, Italien oder England liegen, ist nicht eindeutig geklärt. Der französische König Ludwig XI. jedenfalls ließ 1469 den ersten Tisch bauen und mit grünem Wolltuch bespannen – belegt ist das durch Hofrechnungen.

Königlicher Sport | Sein Leibarzt verschrieb Ludwig XIV. das Billardspielen; es helfe gegen Blähungen. Mit dabei: sein späterer Staatskriegsminister Michel de Chamillart, der angeblich weder Billard noch das Amtsgeschäft beherrschte. Der später kolorierte Druck stammt aus dem Jahr 1694.

Die Bande hatte anfangs nur die Funktion, die Bälle vom Herunterfallen abzuhalten. Auf den Tischen befanden sich diverse Hindernisse wie Löcher, Tore, Bögen oder Kegel, die bespielt wurden. Die Kugeln waren aus Holz, später aus Elfenbein und wurden mit dem dicken Schlägerende wie im Eishockey, Cricket oder Golf vorwärtsgetrieben.

Ein Zeitvertreib der Aristokratie

Billard war bis tief ins 18. Jahrhundert hinein dem Adel am Hofe vorbehalten oder wurde von betuchten Aristokraten in schicken Ballhäusern gespielt. Wer hatte schon genügend Geld und vor allem Platz, sich einen Tisch mit dem kolossalen Umfang von vier mal zwei Metern – so groß oder noch größer waren die ersten Spieltische – zuhause aufzustellen?

Doch nicht nur Männer, auch Frauen entwickelten eine Passion für Billard, wie die englische Königin Elisabeth I. oder ihre Konkurrentin auf dem Thron, Maria Stuart (1542–1587). Der schottischen Königin, so ist es dokumentiert, nahm man kurz vor ihrer Enthauptung den geliebten Billardtisch weg, um Platz für ihre Exekution zu schaffen. Historisch nicht belegt, aber immer wieder behauptet: Vor der Hinrichtung durfte sie dann noch eine Partie spielen. Was für ein makabrer Abschied vom irdischen Dasein, sollte es so gewesen sein.

Billard kurz vor dem Ableben, aber auch Billard, um unbeschwert zu leben: So soll der Leibarzt von Ludwig XIV. (1638–1715) dem König Billard gegen seine chronischen Verdauungsprobleme verschrieben haben. Die gebückte Haltung sollte Blähungen lindern. Sein Spielpartner Michel de Chamillart verlor meist aus taktischen Gründen gegen den Monarchen und wurde dafür vom Sonnenkönig zum Kriegsminister befördert, später aber wegen Erfolglosigkeit entlassen. Ein spöttisches Epigramm, das nach dessen Tod mündlich kursierte, hielt fest: »Hier liegt der berühmte Chamillart, seines Königs Obernotar, der ein Held am Billard, eine Null im Ministerium war.«

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts löste der schlanke Queue die Mace mit ihrem breiten, pilzförmigen Kopf ab. Der Ball wurde von nun an nicht mehr geschoben, sondern gestoßen. Das veränderte die Spielphysik und schloss zunehmend Frauen aus. »Die neue Stabform erforderte eine tiefe Vorbeuge für Frauen, die in den damals getragenen Korsetts und Reifröcken unmöglich war«, sagt der Kurator des Billardmuseums Weingartner in Wien, Dieter Haase. »Die Drahtgestelle ihrer Roben ließen nur aufrechtes Schreiten zu. Hinzu kamen hochgetürmte Frisuren, die die nötige Kopfneigung blockierten.«

Ein reiner Männersport – und ein Glücksspiel

Mit dem Aufkommen des Bürgertums und obwohl sich die weibliche Mode hin zu wallenden Gewändern wandelte, hatten Frauen kaum noch Zugang zum Spiel. In den Salons durften nur Kurtisanen und Prostituierte verkehren. Allein die Kellnerinnen waren weiblich. Und so verwandelten sich die Spielsäle in einen Ort männlicher politischer Debatten, aber auch des Glücksspiels.

»Der notorisch klamme Mozart konnte zwar mit dem Taktstock umgehen, aber nicht mit dem Billardstock – und verspielte Unsummen«, sagt Haase. »Schiller und Goethe haben ebenfalls leidenschaftlich gezockt, während Immanuel Kant ein wahrer Meister am Tisch war. Der Philosoph hat sich damit seinen sogar Lebensunterhalt verdient, wenn er Schreibblockaden hatte.«

Mit der Französischen Revolution 1789 wurde Billard volkstümlich, und in Frankreich setzte sich mehr und mehr Karambolage durch, die Spielart mit drei Kugeln und ohne Taschen, während die Engländer weiterhin Lochbillard spielten.

Mingauds Entdeckung 1807, Kugeln mit Effet zu spielen, inspirierte auch die Wissenschaft. 1835 veröffentlichte der französische Mathematiker Gaspard Gustave de Coriolis ein Buch über die messbaren physikalischen Kräfte des Spiels. Seine »Théorie mathématique des effets du jeu de billard« diente vielleicht als Vorlage für die prägnante Aussage, die immer wieder Albert Einstein in den Mund gelegt wird: Billard sei nicht nur ein Spiel, sondern die »Kunst des Vorausdenkens«, ein Sport, der Ausdauer, das logische Denken des Schachs und die Präzision des Klavierspiels erfordert.

Neue Materialien machten Billard zum Breitensport

Parallel verbesserten sich im Zuge der industriellen Revolution die Materialien: Marmor und Schieferplatten ersetzten das Holz für den Tisch, Gummibanden lösten die stoffgepolsterten Varianten ab. Nachdem der US-amerikanische Chemiker John Wesley Hyatt 1869 das Zelluloid erfunden hatte, wurden auch die teuren Elfenbeinkugeln seltener zum Spielen benutzt. Allerdings verschwanden sie ganz erst 1991. Bis dahin reichte die Qualität der Kunststoffbälle nicht an sie heran. Artenschutz spielte damals keine Rolle.

Billard zu Hofe | Die Zeichnung des Malers Adriaen van de Venne aus den 1620er Jahren zeigt den böhmischen König Friedrich V. (rechts), seine Gattin Elisabeth Stuart (ganz links) und die Hofdame Amalie zu Solms-Braunfels beim Billardspiel – im Exil in den Niederlanden.

In den englischen Pubs entstanden unzählige Billardräume als Treffpunkte für die Arbeiterklasse. Auch in den USA war der Sport inzwischen populär, vor allem Poolbillard, eine der heute bekanntesten Varianten des Spiels. In New York wurde 1873 auch die erste Profi-Weltmeisterschaft ausgetragen – in der Karambolage-Variante »Freie Partie«.

Der britische Offizier der Royal Army, Neville Chamberlain (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen späteren Premierminister), spielte 1875 in Südindien Billard mit einem Kadetten, der den weißen Ball so perfekt spielte, dass er selbst nicht mehr zum Zuge kam und ihn daraufhin als »real Snooker« beschimpfte, eine in Offizierskreisen übliche Beleidigung für junge Offiziersanwärter. Gleichzeitig war er so fasziniert von seiner Demontage am Tisch, dass er mit mehreren Kugeln experimentierte und den Grundstein für das Kultspiel mit 22 Bällen legte. Er nannte es: Snooker.

Als Ende der 1960er Jahre das Farbfernsehen aufkam, zeigte die BBC Snooker-Turniere, die beim Publikum voll einschlugen. So viele kunstvoll gespielte bunte Bälle auf einmal präsentiert zu bekommen, traf offenbar den Sehnerv der Zuschauer. In den 1980er und 1990er Jahren flimmerte Snooker sogar häufiger über den Bildschirm als Fußball – gesponsert von der Zigarettenmarke Benson & Hedges. Mit dem Verbot der Zigarettenwerbung gingen die Übertragungen jedoch komplett zurück. Erst Wettanbieterfirmen machten Snooker später wieder zu einem lohnenden Geschäft für die Fernsehstationen.

Kinohelden spielen Billard

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte Billard eine Romantisierung durch Spielfilme wie »Haie der Großstadt« mit Paul Newman, der als Antiheld mit Billard sein Glück erzwingen will. Seine Schauspielerkollegen Marlon Brando, James Dean und Steve McQueen, ähnlich rebellische Charaktere auf der Leinwand, spielten zwar in keinen Billard-Filmen mit, ließen sich aber gerne privat dabei ablichten.

Heute dominieren Snooker, Poolbillard und Karambolage die mehr als 30 bekannten Spielvarianten. Billard hat sich zu einem professionellen Sport entwickelt, bei dem die besten Spieler und Spielerinnen der Welt hohe Preisgelder bei internationalen Turnieren verdienen. Darts hat Billard als führenden Kneipensport zwar inzwischen abgelöst, Schätzungen zufolge sind es in Deutschland aber rund eine halbe Million Menschen, die wöchentlich in ihrer Freizeit spielen.

Inzwischen nutzen Billardlehrer und Fachbuchverlage vermehrt KI-Tools: Roboter simulieren Stöße, Smartphone-Apps analysieren Winkel in Echtzeit. Doch die echten Könner lässt das kalt: »Ich kenne keinen Profi, der sich künstliche Intelligenz antut«, sagt Haase. »Die verlassen sich lieber auf sich selbst.«

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  • Quellen

Boru, S., The Little Book of Snooker, 2010

Haase, D., Das Billardspiel, 2016

Shamos, M. I., The New Illustrated Encyclopedia of Billiards, 1999

Stein, V., Rubino, P., The Billiard Encyclopedia, 2008

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