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Psychologie: Die Macht der Geschichten

Geschichten helfen uns, Abstraktes erfahrbar zu machen. Das Problem: Was packend erzählt ist und sich gut in unser Weltbild einfügt, hinterfragen wir kaum. Hochstapler haben deshalb oft ein leichtes Spiel.
Schwebendes offenes Buch in einem Bücherfenster einer Bibliothek

»Es ist einfacher, ein Flugzeug zu bauen oder ein wildes Pferd zu reiten, als eine Blutfehde zu schlichten.« Der Satz stammt von Jenva Bashi, einem knurrigen Mann mit Gummistiefeln und Wollpulli. Er engagiert sich im albanischen Shkodra gegen die Blutrache. Immer wieder besucht er die Familienklans und versucht, sie von der grausigen Tradition abzubringen und alte Konflikte auszusöhnen. Gerade kämpft er um das Leben eines 16-Jährigen, dem auf Grund eines alten Familienstreits ein Mordanschlag droht.

Die Arbeit des Mannes könnte der Ausgangspunkt für eine fesselnde Geschichte sein. Die Sache hat allerdings einen Haken: Offenbar gibt es Jenva Bashi überhaupt nicht. Seinen bislang einzigen Auftritt hatte er in einer Reportage, die 2012 in »Cicero« und der »NZZ am Sonntag« erschienen ist. Kürzlich fragte die Schweizer Zeitung beim Nationalen Versöhnungskomitee an, für das Jenva Bashi angeblich arbeiten sollte. Doch dort hat man seinen Namen noch nie gehört.

Der Autor des Artikels ist Claas Relotius, jener preisgekrönte »Spiegel«-Redakteur, der im Dezember 2018 einen handfesten Medienskandal ins Rollen brachte. Auch seine Reportage über die Blutrache steht unter Fälschungsverdacht. Stilistisch ist sie famos: Hier ein hinkender Truthahn, dort eine vom Esel gezogene Kutsche auf einer ungeteerten Straße – man kann das albanische Bergland beim Lesen förmlich riechen. Der Text wäre ein journalistisches Glanzstück – wenn er denn wahr wäre. Doch es scheint, als hätte Relotius Herrn Bashi schlicht erfunden. Und auch andere Details des Textes sind offenbar falsch oder zumindest ungenau.

Gute Geschichten entfalten eine Sogwirkung, der wir uns nur schwer entziehen können

Es ist beeindruckend, wie lange sich Relotius mit seinen Fake Storys an den Faktencheckern in der Redaktion vorbeimogeln konnte. Sicher, eine Reportage lässt sich nie restlos verifizieren, sie lebt von einem gewissen Vertrauensvorschuss gegenüber dem Reporter. Doch schon früher gab es Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten in seinen Texten, die ihm allerdings nie zum Verhängnis wurden. Selbst nachdem Relotius' Koautor Juan Moreno erdrückende Beweise gegen seinen Kollegen zusammentrug, wollte der »Spiegel« zunächst nicht an einen Betrugsfall glauben – und vermutete stattdessen, Moreno hätte selbst Böses im Sinn.

Wir glauben, was wir glauben wollen

Claas Relotius ist ein hervorragender Geschichtenerzähler. Gerade weil er von der Wahrheit abwich, konnte er seine Storys so fesselnd gestalten. Ein Detail fügte sich mühelos ins nächste, jede Nebensächlichkeit trug zum Sound der Reportage bei. Und wie zufällig lief am Ort des Geschehens stets der passende Song im Radio, der die jeweilige Pointe des Artikels unterstrich.

Gute Geschichten entfalten eine Sogwirkung, der wir uns schwer entziehen können. Manchmal lassen wir uns nur allzu gern von ihnen einlullen. Immer wieder fallen wir auf Hochstapler herein, wenn wir ihre Geschichte für stimmig halten: In der Fußgängerzone sammeln vermeintlich Gehörlose Geld für wohltätige Zwecke. Spam-Mails gaukeln vor, eine einsame Frau aus Osteuropa suche die Liebe ihres Lebens. Online-Werbebanner preisen »geheime Tricks« an, um über Nacht mit Aktiengeschäften reich zu werden. Und auf Facebook verbreiten sich immer wieder Fake News, die sich eigentlich mit ein paar Klicks mühelos widerlegen ließen. Warum sind wir nur so leichtgläubig?

Forscher befassen sich schon länger mit der Frage, wann wir einen Bericht für bare Münze nehmen – und wann wir Zweifel anmelden. Das hängt offenbar zum einen von relativ objektiven Fakten ab. So bevorzugen wir etwa namentlich genannte Quellen, während anonyme Aussagen uns misstrauisch stimmen. Konkrete Zahlen und Statistiken lassen einen Text ebenfalls plausibler wirken. Daneben spielen aber auch ganz persönliche Überzeugungen und Einstellungen eine große Rolle: Wir glauben nämlich vor allem das, was am besten in unser Weltbild passt.

Yorgo Pasadeos von der University of Alabama konnte das gemeinsam mit Kyun Soo Kim nachweisen, indem sie knapp 250 Probanden einen längeren Artikel über die »Pille danach« präsentierten, den es in drei verschiedenen Ausführungen gab. Wer welche Fassung erhielt, wurde vor Beginn des Versuchs ausgelost. Die erste Version des Textes schlug sich auf die Seite der Abtreibungsgegner (»pro-life«), die die Abgabe des Medikaments einschränken wollen. Die zweite Variante unterstützte die liberale Position (»pro-choice«), nach der das Medikament ohne Rezept frei verfügbar sein sollte. Eine dritte, ausgewogene Fassung zählte schließlich die Argumente beider Seiten auf. Anschließend fragten die Forscher ihre Probanden, für wie glaubwürdig sie den Artikel hielten. Dabei zeigte sich: Wer dem Präparat vorher ohnehin schon skeptisch gegenüberstand, misstraute vor allem dem positiven Bericht. Die Befürworter der Pille danach zweifelten hingegen vor allem die negative Darstellung an. Doch auch der neutrale Text stieß auf Misstrauen: Beide Lager hielten ihm vor, er würde für die jeweils andere Seite Partei ergreifen.

Das Experiment zeigt, wie anfällig unser kritischer Blick ist: Misstrauisch werden wir oft erst, wenn eine Meldung mit unserem eigenen Wertesystem kollidiert. Was sich bequem in unser Weltbild einfügt, hinterfragen wir hingegen kaum. Vielleicht hat ebendieser Effekt dazu beigetragen, dass Relotius mit seinen frisierten Reportagen so lange durchkam: Sie waren bequem zu lesen und bedienten oft die Vorstellungen seines Publikums. So etwa seine Südosteuropa-Reportagen: »Krieg, Blutrache, patriarchale Geschlechterbilder – das sind genau die Klischeethemen, die viele mitteleuropäische Leser und Redakteure mit dem Balkan verbinden«, schreibt Krsto Lazarević im Onlinemagazin »Übermedien«. »Es sind Schauergeschichten über wilde Bergvölker im Südosten Europas, die sich allesamt untereinander töten.« Lazarević berichtet selbst häufig über die Region. Der Journalist hält Relotius' Geschichten nicht nur für unterkomplex und fehlerhaft, sondern auch für vorurteilsbeladen. So sei die Blutrache in Albanien längst nicht so stark verbreitet wie von Relotius behauptet. Im Gegenteil, das Land gilt als relativ sicher. Doch wie lässt sich daraus noch eine packende Geschichte konstruieren?

Zu gut, um falsch zu sein

Relotius ist nicht der erste Hochstapler, der sich die Sogwirkung packender Geschichten zu Nutze machte. 1980 veröffentlichte die »Washington Post« eine ergreifende Reportage über einen heroinabhängigen Jungen, der gerade mal acht Jahre alt war. Die Autorin Janet Cooke erhielt für ihr Werk den Pulitzer-Preis. Erst danach stellte sich heraus: Den Jungen hat es nie gegeben. Und in Deutschland behauptete der Fälscher Konrad Kujau, im Besitz der originalen Tagebücher von Adolf Hitler zu sein. Der »Stern« fiel darauf herein und machte die »Hitler-Tagebücher« 1983 zum Titelthema – wenig später flog der Schwindel auf. In beiden Fällen ergaben sich schon früh Unstimmigkeiten, doch die Beteiligten schlugen die Zweifel in den Wind. Manche Storys sind wohl einfach zu gut, um falsch zu sein!

Erzählungen lassen uns komplexe Zusammenhänge verstehen und machen Abstraktes plötzlich greifbar; sie übersetzen eine unübersichtliche Realität in anschauliche, leicht verdauliche Bilder. Aus diesem Grund finden wir Reportagen oft spannender als nüchterne Zeitungsberichte, Dokumentarfilme reizvoller als die »Tagesschau«. »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«, heißt es in Max Frischs Roman »Mein Name sei Gantenbein«. Das macht die Magie des Erzählens aus: Geschichten helfen uns dabei, für einen Moment in ein anderes Ich zu schlüpfen – und zu fabulieren, wie es sich anfühlen würde, eine Bomberpilotin, ein Hacker oder ein Pornostar zu sein.

Misstrauisch werden wir oft erst, wenn eine Meldung mit unserem eigenen Wertesystem kollidiert

Geschichten prägen die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Schon Kinder erwerben eine Art »Erzählgrammatik«, die ihre Wahrnehmung und ihr Gedächtnis prägt. In einer Studie von Nancy Stein und Christine Glenn aus dem Jahr 1975 sollten sich Erst- und Fünftklässler kurze Erzählungen einprägen – allerdings waren diese unvollständig. So fehlte beispielsweise der Anfang einer Geschichte, in der Fuchs und Bär gemeinsam ein Huhn fürs Abendessen töten wollen. Eine Woche später sollten die Kinder das Gelernte wiedergeben. Ohne danach gefragt worden zu sein, erfanden ein Drittel der Erstklässler und drei Viertel der Fünftklässler einen eigenen Anfang für die Geschichte, etwa: »Sie hatten seit Tagen nichts mehr gegessen und brauchten Nahrung.« Die Kinder passten den Bericht an, damit sich eine sinnvolle und abgerundete Geschichte ergab – auch wenn sie damit von ihrer eigentlichen Aufgabe abwichen.

Offenbar brauchen wir narrative Strukturen, um uns die Welt zu erschließen. Wo keine Geschichten zu finden sind, halluzinieren wir manchmal sogar welche herbei! Das verdeutlicht eine Studie von Fritz Heider und Marianne Simmel aus dem Jahr 1944 – mittlerweile ein Klassiker der Gestaltpsychologie. Die Forscher zeigten ihren Teilnehmern einen kurzen Trickfilm, in dem sich zwei verschieden große Dreiecke und ein Kreis in komplexer Reihenfolge durch das Bild bewegten. Anschließend sollten die Probanden berichten, was sie soeben gesehen hatten. Trotz der nüchternen Darbietung vermenschlichten sie die geometrischen Figuren auf der Leinwand und erzählten regelrechte Dramen: Den Kreis und das kleinere Dreieck erklärte ein Zuschauer beispielsweise zum jungen Liebespaar, und aus dem großen Dreieck wurde plötzlich ein Schurke, »geblendet von Wut und Frustration«. Nur einer der 34 Probanden beschrieb den Film als geometrischen Prozess. Alle anderen tischten den Versuchsleitern packende Geschichten auf.

Findige Köpfe haben längst Mittel und Wege gefunden, um unsere Gier nach Geschichten zu Geld zu machen. »Corporate Storytelling« lautet ein Schlagwort aus der Werbebranche. Dabei hüllen Marken ihre Produkte in blumige Erzählungen und laden sie so emotional auf. Zwei alte Freunde bauen eine alte Tankstelle eigenhändig zu ihrer ersten Eisdiele um: So lautet der Gründungsmythos, mit dem »Ben & Jerry's« bis heute seine Eisbecher verkauft. Und auch im Netz machen sich so genannte Clickbaiting-Seiten klassische Erzählstrukturen zu Nutze. Portale wie »Upworthy« oder »Heftig« bauen schon in der Überschrift maximale Spannung auf: »Eigentlich filmte er nur ein bisschen den Strand. Dann traute er seinen Augen kaum.« Wer will da nicht wissen, wie es weitergeht?

»Wer in eine fesselnde Geschichtenwelt verfrachtet wird, hat womöglich nicht die kognitiven Ressourcen, um den Implikationen der Geschichte zu widersprechen«
Melanie Green, Kommunikationsforscherin

Andere versuchen, die Macht der Erzählungen für gute Zwecke zu nutzen – etwa, um Unfälle zu verhindern. Mitch Ricketts von der Kansas State University arbeitet gemeinsam mit seinem Team an der Frage, wie Warnhinweise mehr Wirkung entfalten können. Für seine Studie sollten Freiwillige eine Kinderschaukel aufbauen. Was Ricketts den Teilnehmern nicht verriet: Je nach Versuchsgruppe unterschieden sich die Sicherheitshinweise. Zwar warnte jede Montageanleitung vor herausstehenden Schrauben am Schaukelgerüst – schließlich könnten sich Kinder mit ihrem Schmuck daran verheddern. Doch bei einem Teil der Probanden ergänzte Ricketts den Hinweis um eine Horrorstory: Ein zweijähriges Mädchen habe sich beim Schaukeln mit ihrer eigenen Halskette erdrosselt, weil ein Bolzen zu weit aus dem Gestell herausragte. Als die Großmutter ihre Enkelin auffand, habe das Mädchen schon nicht mehr geatmet. Mit der abschreckenden Story in der Anleitung montierten die Teilnehmer messbar sicherere Schaukeln, bei denen seltener Schraubgewinde aus dem Gerüst ragten. Die kleine Intervention zeigte also offenbar große Wirkung. Andere, ähnlich aufgebaute Studien konnten diesen Geschichten-Effekt allerdings nicht immer bestätigen.

Die Wahrheit ist niemals rund

Doch warum ziehen uns ausgerechnet Erzählungen so leicht in ihren Bann? Damit befasst sich unter anderem die Kommunikationsforscherin Melanie Green von der University at Buffalo in New York. Ihr Fachgebiet heißt »Narrative Persuasion«, frei übersetzt: Überzeugen durch Erzählen. Gute Geschichten erzeugen eine Art mentale Simulation, vermutet Green. Sie saugen uns regelrecht in ihre Welt hinein, so dass wir unsere Außenwelt für einen Moment vergessen und uns als Teil der Fiktion wähnen. Deswegen schlägt unser Herz schneller, wenn die Romanheldin in Gefahr ist. Wird es allzu brenzlig, wollen wir ihr gar zurufen: »Pass auf, hinter dir!« Genau dieser Prozess mache Erzählungen so mächtig. Green schreibt: »Wer in eine fesselnde Geschichtenwelt verfrachtet wird, hat womöglich nicht die kognitiven Ressourcen, um den Implikationen der Geschichte zu widersprechen.« Viele wären schlichtweg nicht daran interessiert, ihre genussvolle Fantasiereise zu stören. Zudem würden wir uns oft derart mit den Figuren identifizieren, dass sich die Handlung beinahe wie eine persönliche Erfahrung anfühle.

Auch frei erfundene Geschichten können deshalb überzeugend wirken. In einem Experiment von Markus Appel von der Universität Würzburg mussten alle Probanden dieselbe Kurzgeschichte lesen. Sie handelte von einem Psychiatriepatienten, der in einem Einkaufszentrum ein junges Mädchen ersticht. Je nach Versuchsgruppe wurde die Geschichte allerdings unterschiedlich eingeordnet: Mal wurde sie als reales Ereignis, mal als Fiktion oder als Falschnachricht dargestellt. Hatten die Probanden ausgelesen, sollten sie angeben, für wie gefährlich sie psychisch kranke Menschen hielten – und ob man es Patienten erlauben sollte, tagsüber die Klinik zu verlassen. In allen drei Fällen schätzten die Teilnehmer Psychiatriepatienten nach der Lektüre als riskanter ein. Zwischen den drei Versuchsgruppen gab es dabei keine nennenswerten Unterschiede: Ob die Begebenheit überhaupt stimmte, schien für das Urteil der Teilnehmer kaum eine Rolle zu spielen.

Unsere Liebe zur Erzählform macht uns also anfällig für Manipulation. Geschichten geben die Realität nur ausschnittsweise wieder, pressen sie in ein Story-Raster. Deswegen sind Zweifel angebracht, wenn sie das Leben als allzu rund und pointiert darstellen. Denn die Wirklichkeit ist niemals rund. Sie ist verwirrend und widersprüchlich, hat Unebenheiten und Fransen.

Der Regisseur Werner Herzog ist dennoch ein vehementer Verteidiger der Zuspitzung. Er prägte den Begriff der »ekstatischen Wahrheit«. Herzog ist bekannt für seine cineastischen Inszenierungen, in der Realität und Fiktion fließend ineinander übergehen. »Ich habe Dokumentationen gedreht, in denen so gut wie jedes Detail erfunden ist und die genau deshalb viel mehr Wahrheit enthalten als viele andere, die sich buchhalterisch an Objektivismus klammern«, so Herzog in einem Interview mit dem »Tagesspiegel«. »Wenn ich die Welt so zeige, wie sie ist, oberflächlich also, dann stoße ich doch nie zu ihrer inneren Wahrheit vor.«

Das wäre eigentlich ein schönes Schlusswort. Bislang ist jedoch noch unklar, ob Herzog das jemals wirklich so gesagt hat. Das Interview führte Claas Relotius, und auch hier hat er, wie er es ausdrückt, »einige Passagen verdichtet«. Der »Tagesspiegel« prüft die Aussagen des Interviews deshalb – und behält sich vor, es unter Umständen wieder zu löschen.

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