Interview: Die nächste Stufe der Epigenetik
Spektrum.de: Herr Carell, Sie arbeiten an epigenetischen Markern jenseits der DNA-Methylierung. Was hat es damit auf sich?
Thomas Carell: Ich denke, das allgemeine Problem ist, dass man bisher immer gedacht hat, dass der genetische Kode eigentlich relativ starr ist. Man hat in jeder Zelle die gleiche Sequenz. Nun sind natürlich die Zellen unterschiedlich. Neuronen lesen Gene ab, die für Neuronen wichtig, und Fibroblasten lesen Gene ab, die für Fibroblasten wichtig sind. Bisher ging man davon aus, dass das allein über die Methylierung der DNA-Base Cytosin gesteuert wird, weil die eingebauten Methylcytosine dafür sorgen, dass das zugehörige Gen stillgelegt wird.
Und jetzt sehen wir, dass das eigentlich nur die halbe Wahrheit ist: Die Methylcytosine können auch wieder entfernt werden. Das heißt, ausgeschaltete Gene können auch wieder angeschaltet werden. Das gibt der ganzen Genetik ein gewisses Maß an Plastizität. Zum Beispiel hat das Lernen vermutlich damit zu tun, wie sich diese Basen auf Genomebene verändern und die Gene dadurch anders abgelesen werden.
Sind die zusätzlichen Basen, die durch weitere Veränderung aus dem methylierten Cytosin entstehen, bloß Teil des Methylierungssystems, oder haben sie auch eigene Steuerungsfunktionen?
Das ist eine gute Frage; ich glaube, die kann man noch nicht beantworten. Nach den bisherigen Daten wird jede dieser Basen durch spezielle Proteine erkannt. Was wir nicht wissen, ist, ob diese Erkennung dann auch wirklich eine eigene biologische Funktion hat. Beim Hydroxymethylcytosin sind wir wahrscheinlich am dichtesten dran zu wissen, dass das Vorhandensein dieser spezifischen Base die Aktivität des Gens wirklich beeinflusst. Wir hatten eine Arbeit, in der wir zeigen konnten, dass die Hydroxymethylgruppe statt der Methylgruppe dazu führt, dass ein zuvor durch Methylierung inaktiviertes Gen wieder angeschaltet ist.
Ich glaube, man kann schon sagen, dass Hydroxymethylcytosin eine eigene Funktion hat, zumal es im Gehirn relativ stabil etwa 1,3 Prozent der Basen ausmacht. Wir können natürlich nicht sagen, ob es sich in bestimmten Positionen verändert, aber im Großen und Ganzen haben wir 1,3 Prozent. Beim Formylcytosin, der nächsten Base im Zyklus, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es gibt Gruppen in Cambridge, die es für eine stabile epigenetische Base halten. Wir finden auch Proteine, die daran binden, aber ich bin mir da nicht so sicher. Es kann auch sein, dass diese Base nur ein Intermediat auf dem Weg zur Demethylierung ist: Methylcytosin und Hydroxymethylcytosin haben eine Funktion, dann entsteht Formylcytosin, die Formylgruppe wird abgespalten und es entsteht wieder Cytosin (siehe Abbildung). Dann hat man also drei verschiedene funktionale Varianten des Cytosins, und das Formylcytosin wäre nur ein Intermediat auf dem Weg zurück.
Ist das nur ein allgemeiner Mechanismus zur Reaktivierung ausgeschalteter Gene, oder gibt es tatsächlich Basen im Genom, die diesen Zyklus kontinuierlich durchlaufen?
Das weiß man nicht, aber ich glaube schon, dass es einzelne Positionen im Genom gibt, die sich ständig verändern. Das ist zwar reine Vermutung im Moment, aber zum Beispiel könnte es so ablaufen, dass bei Lernprozessen zuerst in Neuronen bestimmte Gene ausgeschaltet sind, also Cytosin methyliert ist. Wenn das Gehirn dann lernt, werden neue Synapsen gebildet – man muss Gene anschalten, so dass Neuronen neu verbunden werden. Dazu wird das Methylcytosin zu Hydroxymethylcytosin oxidiert, das schaltet Gene an, die synaptische Plastizität erzeugen. Dann ist das abgeschlossen, dann muss an der Stelle wieder ein Methylcytosin eingebaut werden. Dazu wird das Hydroxymethylcytosin oxidiert, zum Formylcytosin, dann wird die Formylgruppe abgespalten, dann haben wir ein Cytosin und dann wird wieder methyliert zum Methylcytosin. So können Gene an- und ausgeschaltet werden.
Ist es vorstellbar, dass diese Vorgänge auch an andere Zyklen wie den zirkadianen Rhythmus gekoppelt sind und man an einigen Stellen auch zeitliche Zyklen beim An- und Ausschalten von Genen hat?
Das kann man nicht ausschließen. Proteine wie PARP synthetisieren an cytosinmodifizierter DNA ein Polymer, und wir wissen wiederum, dass dieses Polymer und auch das Protein mit dem Cryptochrom-1 assoziieren. Ich habe früher viel mit Photolyasen gearbeitet und deren Strukturen analysiert; deswegen interessieren mich die Cryptochrome sehr. Und in diesem Bereich sieht man so eine gewisse, sagen wir mal schemenhafte Korrelation. Vielleicht ist das nicht so abwegig, wie wir jetzt denken, dass auf diesem Wege eine Art zeitliche Dynamik reinkommt.
Denken Sie, dass diese zyklischen Prozesse evolutionär alt sind?
Ich vermute, das ist später dazu gekommen, denn Bakterien und Archaeen haben diese modifizierten Basen nicht. Das sind nun Einzeller, die keine Spezialisierung haben, aber man findet das auch bei niederen Eukaryoten nicht, und Pflanzen haben die modifizierten Basen überhaupt nicht. Also glaube ich, das ist erst später gekommen.
Beim Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren drängt sich das Nervensystem auf.
Ja, genau so ist es. Ich denke, die veränderten Basen hängen stark mit der Entwicklung des Nervensystems zusammen.
Sie arbeiten außerdem an präbiotischen Synthesewegen für die Basen der DNA. Wie weit ist man bei diesen Bausteinen des Lebens?
2009 ist eine sehr einflussreiche Arbeit von John Sutherland erschienen, die einen denkbaren präbiotischen Zugang zu den Pyrimidinbasen, also Cytosin, Thymin und Uracil aufzeigt. Und seit dieser Zeit richtet sich der Blick auf mögliche Wege zu den Purinen, zum A, zum G, aber da ist man eigentlich nicht weitergekommen. Vor einigen Jahren haben wir uns dann gefragt: Wir arbeiten mit modifizierten Basen, können wir da nicht einen Beitrag leisten?
Dann kam die Rosetta-Mission, und auf der Oberfläche des Kometen Tschurjumow-Gerasimenko wurde ein Massenspektrometer abgesetzt. Dabei wurden Moleküle gefunden wie Ameisensäure und Formamid, und wir haben dann beschlossen, mit diesen Molekülen eine Purinsynthese zu versuchen. Das hat sehr gut geklappt, und die Arbeit ist 2016 in »Science« erschienen. Jetzt haben wir also die Pyrimidinsynthese von Sutherland und die Purinsynthese von uns, und dann haben wir das Ganze noch ein bisschen weitergetrieben und eine neue Arbeit eingereicht, die noch im Gutachterprozess ist.
Da haben wir uns zu Herzen genommen, dass es auf der frühen Erde kein Chromatografiesystem gab, das die verschiedenen Stoffe getrennt hat. Die Stoffe müssen durch verschiedene Zyklen, Kalt-Warm-Zyklen, Nacht-Tag-Zyklen, Kristallisation, Auflösung und Wegschwemmen, angereichert worden sein, um reagieren zu können. Wir haben unsere Purinsynthese so verändert, dass sie allein mit solchen physikalischen Anreicherungen als Aufreinigungsschritte auskommt.
Außerdem konnten wir zeigen, dass dabei neben den klassischen Basen eine Reihe aus der Biochemie bekannter modifizierter Basen entsteht. Wir haben bisher außerdem nur in der DNA über diese modifizierten Basen gesprochen. Aber die RNA ist auch voll davon. Von der RNA weiß man schon sehr lange, dass es über 120 modifizierte Basen gibt. Die tRNA ist voll davon; 15 bis 20 Prozent der Basen in der tRNA sind modifizierte Basen. Auch die ribosomale RNA enthält viele modifizierte Basen. Strukturell ist die Diversität der RNA-Basen viel größer.
Gilt das auch für Archaeen und Bakterien?
Absolut! Viele dieser Modifikationen, die man in der RNA findet, gibt es in allen Organismen. Es gibt spezifische Basen bei höheren Organismen, aber es gibt auch ganz fundamentale Moleküle wie das m6-A, eine methylierte Adeninverbindung, oder auch 2m6-A. Das ist eine polymethylierte Adeninverbindung, die man in allen drei Reichen des Lebens findet. Unsere Purinsynthese, die wir jetzt vorstellen, liefert nicht nur die kanonischen Purine, also Adenin und Guanin, sie liefert auch viele dieser modifizierten Basen. Das stimmt mich ganz zuversichtlich, dass wir da eine realistische präbiotische Synthese gefunden haben.
Das heißt also, bei RNA waren die präbiotischen Basen sehr vielfältig?
Es gibt da unterschiedliche Ansichten. Die einen sagen, die RNA-Welt habe mit wenigen unterschiedlichen Basen begonnen, und als das Leben etwas komplizierter wurde, entstanden Enzyme, die das Repertoire erweitert haben. Andere sagen, dass viele der unkonventionellen Basen präbiotischen Ursprungs und von Anfang an dabei waren, und dass die ersten RNA strukturell viel diverser waren als das, was wir heute sehen. Das können wir nicht beantworten. Die Synthese, die wir entwickelt haben, läuft aber allein mit Tag-und-Nacht-Zyklen und liefert uns kanonische und nichtkanonische Purinbasen. Und alle Basen, die wir da finden, sind auch in der Natur vorhanden – in Archaeen, in Bakterien und in Eukaryoten.
Wie nah ist man dran, die chemischen Grundlagen der Entstehung des Lebens zu verstehen?
Da ist man weit von entfernt. Was wir jetzt können, ist, diese Nukleotide plausibel herzustellen. Dann ist aber noch die Frage, wie man sie phosphoryliert und dann, wie diese Bausteine zu RNA-Strängen polymerisieren, die nach allgemeiner Ansicht am Anfang des Lebens standen. Und schließlich, wie man solche Stränge erzeugt, die Kopien von sich selbst erzeugen. Damit hat man sich lange beschäftigt; in Deutschland war da lange Zeit Günter von Kiedrowski führend. Andere beschäftigen sich wieder mit den Synthesewegen, die Orgel in den 1970er Jahren vorgeschlagen hat. Und dann ist man ja noch wahnsinnig weit entfernt von der Etablierung von Transkription und anderen zellulären Prozessen. Es nützt ja nichts, wenn sich ein paar Moleküle selbst vermehren, sie müssen sich noch mit einer Hülle umgeben und so weiter. Also ich glaube, ich werde das nicht mehr erleben, dass wir diesen Prozess im Reagenzglas nachvollziehen können.
Vielen Dank für das Gespräch!
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