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Molekularbiologie: Die raffinierte Bauweise der RNA

In jeder Zelle schwappt ein Ozean voller rotierender, sich windender RNA-Moleküle. Ihre Struktur und Bedeutung tüfteln Forscher gerade erst heraus.
RNA-Strukturen

Als sich Philip Bevilacqua damals entschied, alles über die Formen der RNA-Moleküle in lebenden Pflanzenzellen herauszufinden, sah er sich prompt mit zwei Problemen konfrontiert: Zunächst einmal hatte er seit der Schulzeit kein Buch mehr über die Biologie der Pflanzen aufgeschlagen, außerdem beschäftigten sich Biochemiker ohnehin meist eher damit, nur einzelne RNA-Moleküle zu untersuchen. Es sollte sich als weitaus kniffliger herausstellen, stattdessen die ganze Vielfalt des herumschwappenden Molekülschwarms einer Zelle ins Visier zu nehmen.

Bevilacqua, Chemiker an der Pennsylvania State University in University Park, ließ sich davon nicht abschrecken. Ihm war bekannt, dass RNA-Moleküle unverzichtbare Regulatoren der Zellbiologie sind und dass ihre Struktur womöglich viel über ihre Funktionsweise verrät. Also frischte er seine Kenntnisse in einem Bachelorkurs für Pflanzenanatomie auf und arbeitete gemeinsam mit der Pflanzenmolekularbiologin Sarah Assmann an der Entwicklung einer Methode, die mit Massen von RNA-Molekülen zurechtkommt.

Im November 2013 waren beide Wissenschaftler mit ihrem Team die Ersten, die die Strukturen tausender RNA-Moleküle in der lebenden Zelle beschrieben – und einen Blick auf die veritable Vielfalt von Skulpturen und unterschiedlichen Konfigurationen eröffneten, die allein die unkrautartige Acker-Schmalwand Arabidopsis thaliana bevölkern. Einen Monat später veröffentlichte eine Gruppe der University of California in San Francisco eine vergleichbare Studie an Hefe- und Menschenzellen. Die Menge an RNA-Strukturen, die dabei entschlüsselt wurden, war "beispiellos", so Alain Laederach von der University of North Carolina in Chapel Hill.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sicht der Wissenschaft auf RNA-Moleküle deutlich verändert. Früher hielt man RNAs für eine Art relativ uninteressanter weicher Spagettifäden, die zwischen den wichtigen Molekülen DNA und Proteinen Informationen transportieren. Mittlerweile wissen Biologen, dass RNAs vielen anderen grundlegenden Funktionen dienen: Sie helfen bei der Proteinsynthese, kontrollieren die Genaktivität und modifizieren andere RNAs. Mindestens 85 Prozent des menschlichen Genoms werden in RNA umgeschrieben – was diese dann genau tut, wenn überhaupt etwas, ist heftig umstritten.

Ein Schlüsselrätsel bleibt dabei ungelöst: die verschachtelten Strukturen der RNA. Im Gegensatz zur DNA mit ihrer berechenbaren Doppelhelixform besteht RNA aus nur einem einzigen Molekülstrang, der sich in allerlei komplexe Spiralen, Ausbuchtungen, Pseudoknoten, Hammerköpfe, Haarnadeln und andere 3-D-Motive faltet. Diese RNA-Strukturen rotieren zwischen verschiedenen Formationen hin und her – ein Umbau, der bis heute als zentral für den RNA-Betrieb gilt, ohne dabei ganz durchschaut zu sein. "Zu verstehen, wie die RNAs wirklich funktionieren, ist natürlich ein wichtiges fehlendes Puzzlestück", meint Jonathan Weissman, ein Biophysiker und Leiter der Studie über menschliche und Hefen-RNA.

In den letzten Jahren entwickelten Forscher allmählich Ansätze, um das Problem aufzudröseln. Bevilacqua, Weissman und andere Kollegen entwarfen Techniken, die Momentaufnahmen der RNA-Konfigurationsvielfalt einer Zelle erlauben. Dabei wurde deutlich, dass sich RNA in der Zelle oft gar nicht so sehr anders als unter künstlichen Laborbedingungen verhält – eine Erkenntnis, die helfen dürfte, Regelsätze aufzustellen, die die RNA-Struktur bestimmen. Am Ende ermöglicht das Genetikern vielleicht, die Grundlage individueller Unterschiede zwischen Menschen zu verstehen – oder zum Beispiel Medizinern jene vieler Krankheiten und Agrarbiologen die von schwankenden landwirtschaftlichen Ernteerträgen.

"Das berührt grundlegende Fragen der Entwicklung von Lebewesen und des molekularen Regelsatzes, der beeinflusst, wie wir aussehen und funktionieren", erklärt Laederach. "Eine spannende Sache, gerade für uns Biologen."

Die am besten beschriebenen RNA-Strukturen sind jene, die Kevin Weeks, ein Biochemiker an der UNC, als "RNA-Felsen" bezeichnet: Moleküle, deren Sequenz oder Struktur sich im Lauf der Evolution nur wenig verändert hat. Zu ihnen gehören unter anderem Transfer- und ribosomale RNAs (beide an der Proteinsynthese beteiligt) sowie die enzymatischen RNAs, die auch als Ribozyme bekannt sind. "Aber in der Welt der RNA", so Weeks, "sind das wahrscheinlich ganz gewaltige Sonderfälle."

Vor allem ist die RNA-Welt quecksilberartig wandlungsfähig: "Wir wissen fast gar nichts über die Struktur der meisten RNAs", erzählt Robert Spitale, ein Chemiker an der University of California, Irvine. RNA-Moleküle existieren üblicherweise nur unmittelbar nach ihrer Entstehung als lineare Kette aus Nukleotiden (oder Basen). Rasch formen sie sich dann um, wobei komplementäre Nukleotide sich annähern. Hierdurch entstehen schließlich komplexe 3-D-Konfigurationen, die dann mit Proteinen interagieren oder ihre Gestalt weiter verändern, während sie den unterschiedlichsten Beschäftigungen nachgehen.

Meist wird die Reaktivität der Nukleotide oder ihre Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Enzymen ausgenutzt, um etwas über die Struktur der RNA zu erfahren. So reagieren gepaarte Abschnitte etwa tendenziell anders als Einzelstrangreste. Daraus kann mit Hilfe von Computeralgorithmen rückgeschlossen werden, wie das Molekülgerüst insgesamt aussehen dürfte – ein zunächst mühsames und arbeitsaufwändiges Geschäft, weil Forscher nur jeweils ein Molekül untersuchen können. Das änderte sich vor fünf Jahren mit dem Erscheinen der so genannten PARS-Technologie (parallel analysis of RNA structure; Parallelanalyse der RNA-Struktur), die vom Genomforscher Howard Chang an der Standford University in Kalifornien und vom Biologen Eran Segal vom israelischen Weizmann Institute of Science in Rehovot entwickelt wurde. PARS nutzt ein Enzym, das die RNA an ihren einzelsträngigen Abschnitten schneidet, sowie ein anderes, das sie an doppelsträngigen Stellen spaltet. Wissenschaftler behandeln eine RNA-Probe mit jedem Enzym einzeln, um Bibliotheken zerkleinerter RNA herzustellen; dann sequenzieren und analysieren sie die beiden Sammlungen, um herauszufinden, welche Nukleotide sich gepaart haben – und können dasselbe für tausende RNA-Typen auf einmal tun.

RNA-Gesetze

Chang und Segal setzten PARS als Erstes auf die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae an, um die Strukturen von mehr als 3000 Boten-RNAs offenzulegen, die Bauanleitungen für Proteine enthalten. Die Forscher fanden bizarre und wunderliche RNA-Formen und erste Anhaltspunkte für Regeln, denen die Bauweise der RNA unterliegen könnte: Diejenigen Abschnitte, die Proteine kodieren, enthalten generell mehr Basenpaarungen und besitzen aufwändigere Strukturen als die flankierenden Sequenzen, die als nicht translatierte Bereiche bekannt sind. Dieses Schema ist sinnvoll, so Chang, da nichttranslatierte Bereiche oft mit Regulatorproteinen wechselwirken und sie daher offener und von außen besser zugänglich liegen sollten.

Das Forscherduo verfolgte das Ganze in einer Studie über menschliche mRNA im letzten Jahr weiter. Unter der Federführung von Doktorandin Yue Wan untersuchten die Forscher mehr als 20 000 mRNA-Strukturen aus Zelllinien, die aus dem Blut zweier Eltern und ihres Kindes generiert worden waren. Sie fanden rund 1900 Einzelnukleotidvariationen auf nicht für Proteine kodierenden Abschnitten, die Unterschiede in den RNA-Strukturen hervorriefen. Nun stellt sich natürlich die Frage, ob das dann tatsächlich auch die Funktion dieser RNAs beeinflusst – oder ob das Ergebnis ein funktional unbedeutendes Hintergrundrauschen abbildet.

Ein paar Indizien scheinen nahezulegen, dass die Variationen doch eine Rolle spielen. Im Mai berichteten Laederach und sein Team über Varianten in den nicht translatierten Bereichen einer bestimmten mRNA, die in direktem Zusammenhang mit einer seltenen Form von Augenkrebs steht, dem Retinoblastom. In gesunden Individuen kann diese mRNA drei Strukturen einnehmen, aber in zwei Patienten, die an der Krankheit leiden, beschränken sich die Nukleotidvarianten des Moleküls auf eine einzige dieser Konformationen. Laederach vermutet, dass derartige Abweichungen bei der Faltung von mRNA verschiedene Krankheiten erklären können. Zudem sind sie eventuell die Ursache für Unterschiede von Mensch zu Mensch – etwa im Hinblick auf individuelle Eigenschaften wie die Körpergröße.

Eine wesentliche Einschränkung der PARS-Methode ist, dass die verwendeten Enzyme nicht ohne Weiteres die Zellmembran durchdringen können. Demnach müssen Wissenschaftler die RNA aus den Zellen isolieren, wobei sie deren ursprüngliche Struktur zerstören. Prinzipiell sollte die Basenpaarung dafür garantieren, dass RNAs, wenn sie sich im Reagenzglas neu falten dürfen, beinahe wieder ihre ursprüngliche Gestalt annehmen. Allerdings werden bei dem Verfahren RNA bindende Proteine tatsächlich abgestreift – ein Prozess, der die Struktur des Moleküls durchaus drastisch verändern kann.

Um eine In-vivo-RNA-Struktur aufzuklären, greifen mittlerweile viele Wissenschaftler zu Dimethylsulfat (DMS). Die Chemikalie dringt in die Zellen ein, wo sie dann mit zwei der vier RNA-Nukleotide, Adenin und Cytosin, reagiert – allerdings nur, wenn diese sich in ungepaartem Zustand befinden. Danach wandeln Forscher die RNA in DNA um und sequenzieren sie. Jegliche Nukleotide, die durch das DMS verändert wurden, verhindern eine Umwandlung in DNA, so dass Wissenschaftler anhand verkürzter DNA-Stücke ungepaarte Nukleotide identifizieren können.

Weissman und Kollegen verwendeten diese Methode, um sämtliche RNA-Moleküle von Hefe und Menschen zu untersuchen – und zwar sowohl von jenen in lebenden Zellen als auch von jenen, die erst extrahiert wurden und sich dann wieder zurückfalten durften. Das war "zunächst ganz schön spannend, weil wir wirklich überhaupt nicht wussten, welche Unterschiede in vivo und in vitro zu sehen sein würden", erklärt Silvi Rouskin, eine ehemalige Doktorandin, die ebenfalls an dem Projekt mitwirkte und jetzt am Whitehead Institute in Cambridge, Massachusetts, arbeitet.

Viele Wissenschaftler hatten erwartet, dass RNA in Zellen eher vielfältiger gefaltet daherkommt – unter anderem, weil zu vermuten war, dass dort Hilfsproteine RNA-Strukturen stabilisieren. Tatsächlich beobachteten Weissman und sein Forscherteam exakt das Gegenteil. Sie vermuten, es liege daran, dass die mRNAs in den Zellen aktiv Proteine herstellen – und ungebundene Moleküle für den Proteinsyntheseapparat der Zelle weitaus zugänglicher sind.

Bevilacqua und Assmann stolperten über eine Auffälligkeit, als sie die DMS-Methode in ihrer Studie über die mRNA in A. thaliana einsetzten: Boten-RNAs aus Genen, die in Stressantworten – ausgelöst zum Beispiel während Trockenperioden – involviert sind, werden innerhalb einer Zelle offenbar eher lockerer gefaltet, als die Computermodellierung prognostiziert. Hingegen stimmten mRNAs der an den wichtigen Wartungsarbeiten in der Zelle beteiligten Proteine mit den Vorhersagen meist überein. Das Forscherteam hält es für wahrscheinlich, dass RNAs während der Stressantwort in der Zelle leicht ihre Gestalt verändern und auf diese Weise die Proteinproduktion schneller auf die umweltbedingt wechselnden Anforderungen anpassen können. Im Gegensatz dazu müssen die Haushalts-RNAs den Proteinspiegel am laufenden Band relativ stabil halten. "Es war einfach ein erstaunlicher Moment, diese Gegensätzlichkeit zu beobachten", erzählt Assmann.

Aus einem Grund ist die DMS-Methode etwas problematisch: Sie informiert nur über die Paarbildung zweier Nukleotidtypen, woraufhin die Computermodellierung den Rest erledigt. Um Informationen zur Paarung eines jeden RNA-Buchstabens in der Zelle zu bekommen, verwendeten Chang und Spitale zur Erforschung der RNA-Struktur eine Methode namens SHAPE. Sie ermöglichte ihnen Anfang dieses Jahres, in embryonalen Stammzellen von Mäusen die Strukturen von mehr als 19 000 RNAs abzuleiten. Die Forscher zeigten, dass eine einfache chemische Modifikation an den RNAs die Molekülstruktur entfaltet. Zudem fanden sie charakteristische strukturelle "Signaturen", die vorausbestimmen, wo Proteine binden, um die Gestalt der RNA zu kontrollieren.

Einige Wissenschaftler denken bereits über Möglichkeiten nach, wie man von diesen Ergebnissen am besten Gebrauch machen kann. Assmann und Bevilacqua untersuchen momentan die RNA-Strukturen im Reis, einem der wichtigsten Grundnahrungsmittel der Welt, und planen dasselbe für weitere landwirtschaftlich bedeutende Pflanzen. Sie würden gerne Mittel und Wege finden, die Gestalt der RNA so zu verändern, dass sie Stresstoleranz und letztendlich Ernteerträge verbessern kann.

Rouskin untersucht inzwischen die RNAs der Taufliegen, um das Verständnis über den Einfluss dieser Molekülstrukturen auf die Embryonalentwicklung zu erhöhen. "Endlich haben wir alle notwendigen Arbeitsmittel", erklärt sie. "Und wir können jetzt all diese Fragen stellen, von denen wir nie gedacht hätten, dass wir sie je würden stellen können."



Der Artikel ist im Original "A Cellular Puzzle: The Weird and Wonderful Architecture of RNA" in "Nature" erschienen.

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