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Entwicklungspsychologie: Die Suche nach einem sicheren Hafen

Vor 70 Jahren revolutionierte der britische Psychiater John Bowlby mit seiner Bindungstheorie die damalige Erziehungspraxis. Den Grundstein dazu legten vermutlich auch seine eigenen emotionalen Entbehrungen.
Ein kleiner Junge spielt mit einem Papierboot im Wasser

Zur Teestunde, um 17 Uhr, durfte John seine Mutter für eine Stunde sehen. Den übrigen Tag war er seiner Amme Minnie anvertraut. Der eingeschränkte Kontakt zur Mutter war damals so üblich in den gesellschaftlichen Kreisen der Bowlbys, eines gut situierten Paars des Londoner Bürgertums. Um 1910 glaubte man, übertriebene Gefühlsbekundungen seitens der Eltern würden den Charakter der Kinder verweichlichen und verderben.

Glücklicherweise war Kindermädchen Minnie dem kleinen John zugetan, und so konnte er sein Bedürfnis nach mütterlicher Zuwendung zunächst bei ihr stillen. Doch sie verließ den Haushalt, als er gerade einmal vier Jahre alt war. Diesen ersten Verlust einer geliebten Bezugsperson beschrieb er später als ähnlich tragisch wie den mangelnden Kontakt zur Mutter. Und er hatte noch mehr Pech: Die Hausangestellte, die Minnie ersetzte, hatte mit dieser nichts gemeinsam. Sie war hartherzig, sarkastisch und unsensibel.
Mit sieben Jahren wird der Junge in ein Internat geschickt, lebt unter Bedingungen, die er keinem Hund hätte zumuten wollen

Damit war es noch nicht genug des Unglücks für den kleinen John. Mit sieben Jahren wird der Junge in ein Internat geschickt, lebt unter Bedingungen, die er keinem Hund hätte zumuten wollen. Im Verlauf dieser Jahre verliert er auch seinen Patenonkel, einen Mann, den er von Herzen liebte.

Ein Verlust nach dem anderen kennzeichnet die Kindheit von John Bowlby. Seit dem jüngsten Alter leidet er unter dem Mangel an Nähe zu Menschen, die ihm Bindung und Geborgenheit hätten bieten können. Ob Zufall oder schicksalhafte Fügung: Ein halbes Jahrhundert später begründet er eine der bedeutendsten psychologischen Theorien, die Bindungstheorie. Sie revolutioniert die Erziehung, indem sie aufzeigt, dass Nähe und liebevolle Zuwendung seitens der Eltern oder anderer Bezugspersonen bei der Kindesentwicklung eine tragende Rolle spielen.

John Bowlby vor seinem Haus in der Nähe von London

Als er das Gymnasium verlässt, wird der junge Bowlby von seinem Vater, einem renommierten Londoner Chirurg, zum Medizinstudium gedrängt. Während eines Praktikums entdeckt er seine Leidenschaft für die Entwicklungspsychologie und entscheidet sich, in Cambridge zu studieren. Obwohl seine intellektuellen Fähigkeiten durchaus erkannt werden, verzichtet er auf eine prestigeträchtige Karriere und arbeitet als Lehrer an einer Schule für schwierige Kinder. Zu seinen Schützlingen zählen vorwiegend Jugendliche aus zerbrochenen Familien, die Verhaltensprobleme oder kriminelle Neigungen zeigen. So kommt er bald auf die Idee, dass eine Verbindung bestehen könnte zwischen der Entwicklung der Kinder und der Umwelt, in der sie aufwachsen.

Daraufhin spezialisiert sich Bowlby auf die Psychiatrie. 1944 beginnt er zu erforschen, welche Rolle frühe Trennungserfahrungen bei Kindern spielen. Er beobachtet, dass die mütterliche Abwesenheit bei ihnen kurzfristig einen Zustand der Traurigkeit hervorruft, der in drei Phasen abläuft: Zuerst protestiert das Kind gegen die Trennung, dann fällt es in tiefe Traurigkeit und schließlich in Gleichgültigkeit.

Nach diesen ersten Erkenntnissen forscht Bowlby bei jungen Delinquenten nach frühen Erfahrungen von »Deprivation«, einem Entzug von oder Mangel an emotionaler Zuwendung. Er entdeckt, dass mehr als die Hälfte von ihnen innerhalb der ersten fünf Lebensjahre mindestens sechs Monate von ihrer Mutter getrennt waren. Manche von ihnen zeigen sogar schwere Störungen, von Bowlby bezeichnet als »gefühllose Psychopathie« oder Unfähigkeit, sich um andere Menschen zu sorgen. Er vermutet, dass das Entbehren der Mutter in den ersten Lebensjahren schwere Folgen nach sich zieht.

Spitz und die Kriegskinder

Als der Zweite Weltkrieg endet, nehmen die Kliniken Kinder auf, die von ihren Eltern getrennt, deren Familien zerrissen wurden – infolge von Krieg, Deportation, Vertreibung. Immer mehr Daten sammeln sich an. 1945 führt der Psychoanalytiker René Spitz einen neuen Begriff in die klinische Terminologie ein: Hospitalismus. Dieser gründet sich auf die Beobachtung, dass einige in Institutionen untergebrachte Kinder nach frühzeitiger Trennung von ihrer Mutter depressiv erscheinen, geradezu verkümmern, obwohl es ihnen weder an Nahrung noch an Hygiene mangelt. Offenkundig fehlt ihnen auf emotionaler Ebene etwas.

Bowlby sieht in diesen Befunden seine eigenen Hypothesen bestätigt und beginnt 1946 für die Tavistock Clinic zu arbeiten, das erste englische Zentrum für psychoanalytische Therapie. Auf Anfrage der Weltgesundheitsorganisation beginnt er dort die Bedürfnisse von Waisenkindern in der Nachkriegszeit zu untersuchen, um mehr über die langfristigen Folgen mütterlicher Abwesenheit zu erfahren.

Nachdem er sich ein Bild von der Intelligenz und emotionalen Verfassung der Kinder gemacht hat, besteht für ihn kein Zweifel mehr. Der Verlust der Mutter mindere Konzentrationsvermögen und Intelligenz der Kinder, erschwere den Zugang zu den eigenen Emotionen und das emotionale Mitschwingen mit anderen, so Bowlby. In vielen Fällen stellt der Psychiater auch eine erhöhte Aggressivität und kriminelle Neigungen fest.

Lorenz und die Gänschen

Noch war unklar, was der Bindung physiologisch zu Grunde liegt und wie sie sich auswirkt. Bowlby wartet ab, um eine gute Hypothese entwickeln zu können. Wir befinden uns im Jahr 1950, und ein österreichischer Zoologe, Konrad Lorenz, hat gerade spannende Erkenntnisse über das Verhalten junger Aschegänse gewonnen. Er beobachtete, dass der Nachwuchs systematisch jedem von Geburt an vertrauten Artgenossen folgte, sei es die Mutter oder nicht. In seinen Experimenten gelingt es Lorenz sogar, sich den kleinen Gänsen selbst als Mutterfigur anzudienen, indem er sich ab dem Moment ihrer Geburt in ihrer Nähe aufhält. So entwickelte er das Konzept der Prägung, hier im engeren Sinn: der Nachfolgeprägung.

Harlow und die Affenbabys

Dass sich der biologische Prozess der Bindung nicht auf Gänse beschränkt, zeigte zur gleichen Zeit die Arbeit eines anderen Forschers, Harry Harlow. Der amerikanische Ethologe führt Experimente an Affenbabys durch, die von Geburt an von ihrer Mutter getrennt werden. Er beobachtet, dass es ihnen später nicht gelingt, sich in Gruppen von Artgenossen einzufügen und mit ihnen zu interagieren. Die Verhaltensprobleme werden besonders deutlich, wenn sie direkt von Geburt an isoliert leben, was darauf hindeutet, dass die entscheidende Störung schon sehr früh stattfindet. Um festzustellen, was genau den Äffchen fehlt, führt Harlow ein Experiment durch, bei dem er ihnen die Wahl zwischen zwei »Ersatzmüttern« lässt: einem warmen, weichen Stofftier oder einer Saugflasche mit Nahrung an einem kalten, harten Metallgestell. Die Kleinen verbringen Stunden damit, sich an den weichen, warmen Stoff zu kuscheln. Demnach, so schließt Harlow, sind es emotionale Wärme und Nähe, welche die spätere Sozialisationsfähigkeit bestimmen.

Die Bindungstheorie revolutionierte die damals vorherrschenden Theorien zur kindlichen Entwicklung

All diese Entdeckungen tragen dazu bei, dass Bowlby 1957 seine Bindungstheorie formuliert. Die Grundidee: Um sich sozial und emotional gesund zu entwickeln, muss ein Kleinkind in der Lage sein, eine Bindung zu einem Menschen aufzubauen, seiner primären Bezugsperson. Meist sei das die Mutter oder der Vater beziehungsweise Partner der Mutter. Ihre wesentliche Rolle besteht darin, warm und herzlich auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren, ihm Sicherheit zu vermitteln, einen Rückzugsort zu bieten bei Angst und Traurigkeit und zu helfen, mit Ängsten und Sorgen umzugehen. So bilde sich ein wesentliches neurobiologisches System für die psychische Entwicklung des Kindes heraus – der Garant für seine geistige und körperliche Gesundheit und dafür, ein Leben lang zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen zu können. Die Theorie hat für Bowlby auch eine evolutionäre Komponente insofern, als die Bindung für das Überleben unserer Spezies unverzichtbar ist.

Die Bindungstheorie revolutionierte die damals vorherrschenden Theorien zur kindlichen Entwicklung. Vor allem stellte sie eine von Freuds Theorien in Frage, der zufolge die emotionale Bindung weniger bedeutsam ist als die nährende Rolle der Eltern. Trotz des offenkundigen Fortschritts, den sie bringt, erntet die Theorie einen Sturm kritischer Stimmen. Sie beschuldigen Bowlby, Frauen auf die Rolle der fürsorgenden, gefühlvollen Mutter beschränken zu wollen und dabei keine andere Person neben ihr zu dulden. Die Vorwürfe rühren jedoch viel eher daher, dass Bowlby als Erster vom klassischen psychoanalytischen Modell abweicht, das die mütterliche Rolle als die einer Nahrungsgeberin versteht und dies als Basis der Mutter-Kind-Beziehung definiert.

Der »Fremde Situation«-Test

Bowlbys Bindungstheorie erwies sich als äußerst fruchtbar. Die Ersten, die darauf aufbauten, waren die beiden US-Forscherinnen Mary Ainsworth (1913-1999) und deren Studentin Mary Main (geboren 1943). Mary Ainsworth, eine Entwicklungspsychologin und ehemalige Mitarbeiterin von Bowlby, identifizierte mehrere »Bindungsstile«, als sie erstmals im Jahr 1969 die Mutter-Kind-Bindung in einem standardisierten Experiment untersuchte: dem »Fremde Situation«-Test. Beobachtet wird, wie ein Kleinkind im Alter von 12 bis 18 Monaten reagiert, wenn es von der Mutter getrennt wird: Leistet es Widerstand? Zeigt es Anzeichen von Traurigkeit, Angst oder Sorge? Zunächst befinden sich Kind und Mutter (oder die Person, die sich normalerweise um es kümmert) allein in einem Raum; das Kind wird zum Spielen auf dem Boden animiert. Dann kommt eine Fremde hinzu, spricht mit der Mutter und spielt eine Weile mit dem Kind. Dabei verlässt die Mutter den Raum und kehrt kurz darauf zurück.

Häufigkeit der Bindungsstile im »Fremde Situation«-Test | Rund zwei Drittel der Kinder der 1970er und 1980er Jahre waren im Alter von ein bis zwei Jahren sicher gebunden.

Je nachdem, welches Verhalten das Kind in den verschiedenen Phasen der Situation an den Tag legt, unterscheidet Mary Ainsworth drei Arten der Bindung. Einige Kinder scheint es wenig zu kümmern, wenn die Mutter den Raum verlässt; sie laufen auch nicht zu ihr, wenn sie zurückkehrt. Diesen Bindungsstil, den sie als »unsicher-vermeidend« bezeichnete, beobachtete die Psychologin bei rund jedem fünften Kind. Die meisten hingegen freuen sich, wenn die Mutter wiederkommt, lassen sich schnell von ihr trösten und bei Bedarf auch zuvor schon von der Unbekannten. Sie verfügen über eine »sichere« Bindung und stellen mit rund zwei Dritteln die Mehrheit der Fälle dar. Eine dritte Gruppe von Kindern – mehr als jedes zehnte Kind – beschreibt Ainsworth als »ängstlich-ambivalent«. Diese leiden während der Trennung schwer unter der Abwesenheit der Mutter und bleiben auch nach ihrer Rückkehr verängstigt.

Die Psychologin Mary Main entwickelte das Modell 1985 weiter, indem sie einen »desorganisierten« Bindungsstil hinzufügte. Er beschreibt das komplexe Verhalten von Kindern, das sich schwer in die drei zentralen Kategorien einordnen lässt und von Angst, Verwirrung oder Verzweiflung geprägt ist. In diese Kategorie fallen häufig Kinder, die Opfer von Missbrauch oder Zeugen von Gewalt geworden sind und ein hohes Risiko für künftige psychische Auffälligkeiten haben.

Heute geben zunehmend Hirnscans Aufschluss über die emotionalen Defizite, die typischerweise mit Bindungsproblemen verbunden sind. Bei vernachlässigten oder missbrauchten Kindern findet man mittels bildgebender Verfahren häufig verkleinerte Mandelkerne, jene Hirnstrukturen, die ganz entscheidend an Lernprozessen und Emotionen beteiligt sind.

Bei früh traumatisierten Kindern ist außerdem die Ausschüttung von Botenstoffen gestört. Beispielsweise produzieren Kinder, die emotional vernachlässigt wurden, vermehrt das Stresshormon Kortisol. Eine massive Kortisolausschüttung kann wiederum Angststörungen, Depressionen, Abhängigkeit sowie Autoimmun- und Entzündungskrankheiten fördern. Umgekehrt hat ein Kind, das liebevoll umsorgt wurde und sich sicher fühlte, einen niedrigeren Kortisolspiegel und bildet mehr Oxytozin, ein Hormon, das Bindung und Vertrauen fördert.

Sollte man ein Kind weinen lassen?

In dieser Debatte gibt es Argumente für beide Positionen. Welche stimmt? Mary Ainsworth und ihre Kollegin Silvia Bell gehörten zu den Ersten, die sich dieser Frage widmeten. Sie konzipierten ein Experiment: Über mehrere Monate beobachteten sie die mütterlichen Reaktionen auf das Schreien ihrer Babys. Zunächst stellten sie fest, dass das Weinen in den ersten Monaten nach der Geburt kaum vorhersehbar war. Doch in der Folgezeit wurde offensichtlich, dass Mütter, die ihre Säuglinge schreien ließen, deren Traurigkeit nur vertieften, während Babys, deren Mütter auf das Schreien mit Zuwendung reagierten, immer weniger weinten. Letztere entwickelten auch breitere kommunikative Fertigkeiten wie Bewegungen, Mimik und Lautäußerungen. Weitere Studien haben inzwischen bestätigt, dass Kinder, die Zuneigung erhalten, wenn sie weinen, als Erwachsene weniger ängstlich und seelisch gesünder sind. Je nachdem, wie viel Aufmerksamkeit ein Säugling in den ersten Monaten seines Lebens bekommt, entwickelt sich sein Gehirn offenbar unterschiedlich, und das beeinflusst sein gesamtes weiteres Leben.

John Bowlby legte den Grundstein für eine neue Perspektive auf die Entwicklung von Kindern und ihre Grundbedürfnisse, die sich inzwischen in weiten Teilen der Welt durchgesetzt hat. Wie wichtig frühe emotionale Bindungen für Kinder sind, haben ihm seine eigenen Erfahrungen womöglich schmerzlich vor Augen geführt. Wie gelang es ihm, das Gefühl emotionaler Entbehrung in eine stichhaltige wissenschaftliche Idee umzuwandeln? Dank gebührt vielleicht seiner Amme Minnie, die ihm die nötigen guten Erfahrungen mit einer liebevollen, verlässlichen Bezugsperson verschaffte. So sehen heute Millionen von Kindern ihre Eltern nicht mehr nur allein zur Teestunde.

Dieser Artikel erschien im Original unter dem Titel »Bowlby: A la recherche de la tendresse« im französischen Psychologiemagazin »Cerveau et Psycho«.

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