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Kulturgeschichte: Die tausendundein Gesichter des Antisemitismus

Judenfeindlichkeit ist ein opportunistisches Chamäleon: Sie tarnt sich, taucht ab und in veränderter Form wieder auf. Aktuelle Studien zeigen, wie antisemitische Ideologien miteinander verwoben sind und wie sie sich in jüngster Zeit gewandelt haben.
Eine israelische Flagge in Rauch und Flammen

Wenn in Berlin, wie Mitte Dezember 2017, eine israelische Fahne verbrannt wird, dann macht das betroffen. Und es macht deutlich: Antisemitismus ist mitten unter uns und so lebendig wie eh und je.

Manche Kommentatoren sehen das freilich anders. Mit Antisemitismus habe das allenfalls am Rand zu tun, Kritik am Staat Israel müsse doch noch erlaubt sein, tönt es von der einen Seite. Von einer anderen Seite kommt der Hinweis, dass ein Großteil der antisemitischen Parolen und Diffamierungen doch von Personen mit muslimischem Hintergrund stamme, es sich somit allerhöchstens um islamischen Antisemitismus handele. Wie valide sind diese Argumente? Sind solche Hinweise nicht selbst antisemitische Reflexe? Und ist es überhaupt möglich, einen europäischen von einem arabisch-islamischen Antisemitismus zu unterscheiden?

Vorweg: »Antisemitismus« ist ein furchtbarer Begriff. Und das nicht allein wegen der schrecklichen Dinge, die er bezeichnet, sondern auch, weil er so schrecklich unpräzise ist. Er bezeichnet sowohl die deplatzierte Karikatur als auch den systematischen Mord an Millionen europäischer Juden. Gehört das wirklich in die gleiche Schublade? Ja, sagen (die allermeisten) Fachleute, die sich damit beschäftigen.

Und sie haben Recht damit. Denn so unterschiedlich die einzelnen Sachverhalte auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf ein Gerücht berufen. Die schlechte Karikatur und der Genozid: Hinter beiden steckt das »Gerücht über die Juden«, wie der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno feststellte.

Eine Schattenseite christlich-abendländischer Tradition

Seit rund 2500 Jahren werden nun also Gerüchte über Juden kolportiert. Und seitdem werden sie diskriminiert, verfolgt und ermordet. »Wir haben bereits in der Antike eine Judenfeindschaft gehabt, und es gab auch Pogrome vor der christlichen Zeitrechnung«, erklärt die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin. Mit dem Aufkommen des Christentums verschärfte sich allerdings die Tonlage; neue negative Vorurteile über die Juden wurden erfunden, die Konflikte nahmen zu. Die junge christliche Kirche versuchte sich mit allen Mitteln abzugrenzen.

Seitdem zieht sich eine Spur der Judenfeindschaft durch das Christentum und somit durch die europäische Geschichte. Immer wieder wurden neue Gerüchte geschürt und Anlässe erfunden, um Juden zu diskriminieren. Im Rahmen der Kreuzzüge wurde mit ganzem missionarischem Eifer gegen die »übelsten Feinde Gottes vorgegangen«; später wurden Pogrome angezettelt oder die Aussonderung der Juden in Gettos vollzogen. Immer und immer wieder wurden antijüdische Klischees reaktiviert, mit Inbrunst gegen »die Wucherjuden« gehetzt, sie wurden als »Brunnenvergifter« für Pest und Seuchen verantwortlich gemacht und als »Ritualmörder« und »Kinderschlächter« denunziert.

Im Vergleich dazu hatten die Juden in der arabischen Welt etwas mehr Glück, denn ihnen waren immerhin Verschnaufpausen vergönnt. Phasen massiver Diskriminierung, in denen es (wie 1066 in Granada) vereinzelt auch zu Pogromen kam, wechselten sich mit Phasen ab, in denen Juden als Minderheit immerhin geduldet waren. Die Erklärung dafür ist freilich banal: Juden waren in islamischen Gesellschaften bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schlicht zu unbedeutend, zu marginalisiert, als dass sich eine intensivere politische oder theologische Auseinandersetzung mit ihnen gelohnt hätte.

»In den traditionellen islamischen Gesellschaften galten die Juden als ›schwach‹ und ›ängstlich‹. Das Narrativ des allmächtigen jüdischen Verschwörers wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Fundus des modernen europäischen Antisemitismus entnommen«
Michael Kiefer, Islamwissenschaftler

Den Boden für das erneute Aufflammen des Antisemitismus in der arabischen Welt bereitete schließlich ein Import aus dem europäischen Repertoire der judenfeindlichen Einstellungen. Es war in Damaskus im Jahr 1840, als (von dort ansässigen Christen wohlgemerkt!) behauptet wurde, Juden hätten einen Kapuzinerpater ermordet. Doch damit nicht genug: Mit dem Blut ihres Opfers hätten sie ihre traditionellen Matzen (Brot) gebacken. Damit war der klassisch-europäische Vorwurf des Ritualmords also in der arabischen Welt angekommen. Und die Affäre schlug hohe Wellen. Es wurde Anklage gegen die vermeintlichen Täter erhoben, es kam zu diplomatischen Verwicklungen, und – schlimmer noch – das importierte Gerücht setzte sich im kollektiven Gedächtnis fest. In der Folgezeit wurden im ganzen arabischen Raum wiederholt ähnliche Beschuldigungen erhoben. Bis heute ist der Ritualmordvorwurf präsent, für den die erfundene Geschichte des Jahres 1840 der Präzedenzfall war.

Zu einem solchen ideologischen Transfer von Europa in die islamische Welt kam es ein weiteres Mal, wie der Islamwissenschaftler Michael Kiefer von der Universität Osnabrück erläutert: »In den traditionellen islamischen Gesellschaften galten die Juden als ›schwach‹ und ›ängstlich‹. Das Narrativ des allmächtigen jüdischen Verschwörers wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Fundus des modernen europäischen Antisemitismus entnommen.«

Vor dem Hintergrund des beginnenden Palästinakonflikts wurde das Gerücht von der »jüdischen Weltverschwörung« schnell populär. »Einen noch größeren Einfluss übten die Nationalsozialisten aus, die gezielt antisemitische Propaganda in der arabischen Welt verbreiteten und auch direkt mit arabisch-muslimischen Führern zusammenarbeiteten«, ergänzt der deutsche Historiker Günther Jikeli, der an der Indiana University und der Universität Potsdam seit vielen Jahren zum islamischen Antisemitismus forscht.

Der Großmufti von Jerusalem: Hitlers glühender Verehrer

Jikeli spielt damit auf die schillernde Biografie von Mohammed Amin al-Husseini an. Dieser wurde 1921 Mufti von Jerusalem und später Präsident des Obersten Islamischen Rats. Er diente als Galionsfigur all derer, die von einem panarabischen Staat träumten. Und er verband den europäischen und den arabischen Antisemitismus: Er propagierte die These von der jüdischen Weltverschwörung und machte auch sonst aus seiner Bewunderung für Hitler keinen Hehl.

Als ihn die Briten aus Palästina verbannten, fand er 1941 in Berlin Zuflucht. Dort wurde er von Adolf Hitler persönlich hofiert und betätigte sich aus der Distanz weiterhin als Aufwiegler der arabischen Bevölkerung gegen die britischen Besatzer. Er mobilisierte muslimische Einheiten für die Waffen-SS, die – so der Plan – die Endlösung der Judenfrage in Palästina selbst übernehmen sollten.

Wer sich heute über die augenfälligen Gemeinsamkeiten zwischen ideologischem Judenhass der Nazizeit und dem islamistischen Antisemitismus unserer Tage wundert, der findet in der Person al-Husseinis ein Bindeglied. Denn zusammen mit seinem politischen Netzwerk gelang es dem Mufti in der Nachkriegszeit, Elemente der nationalsozialistischen Ideologie in der arabischen Welt zu etablieren. Auswirkungen hatte das etwa auf die Lehrpläne in vielen arabischen Ländern. »In syrischen Schulbüchern findet sich ein Geschichtsbild von Deutschland, mit dem deutsche Neonazis sehr zufrieden wären: Die Juden hätten sich in der Weltwirtschaftskrise 1929 bereichert, und Hitler, der als starker Führer dargestellt wird, wehrte sich gegen die Juden, wobei der Holocaust nicht erwähnt wird«, erläutert Günther Jikeli.

Reimport der antisemitischen Ideologie

Solche Positionen wurden nun mit dem Zustrom von Zuwanderern quasi wieder nach Deutschland reimportiert. Was Geflüchtete aus Syrien und dem Irak über Juden denken, hat Jikeli in einer Pilotstudie im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) untersucht. Die Ergebnisse der Interviews mit 68 geflüchteten Personen wurden im Dezember 2017 vorgestellt.

Wenig überraschend ist der grundsätzliche Befund, dass antisemitische Vorstellungen für viele Geflüchtete selbstverständlich sind. Die bittere Ironie dabei: Ein zentraler Bezugspunkt sind ausgerechnet Positionen, die im arabischen Raum bis vor kurzer Zeit nahezu unbekannt waren. »Weit verbreitet ist die Ansicht, Juden regierten die Welt, seien reich, mächtig, skrupellos und würden absichtlich Kinder ermorden«, berichtet Studienautor Jikeli. Ein ähnlich ernüchterndes Bild zeichneten freilich auch schon andere Studien, etwa jene von Sina Arnold und Jana König im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus für den Deutschen Bundestag.

Bemerkenswert bei der jüngsten Studie ist die riesige Bandbreite von Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden. Neben wildesten Weltverschwörungsfantasien, Bagatellisierungen des Holocaust und bitterem Hass finden sich auch reflektierte Positionen und Sympathien für die Juden. Die Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung im jeweiligen Herkunftsland sind häufig deutlich antisemitisch geprägt; Angehörige von Minderheiten (insbesondere einige Kurden) äußerten jedoch projüdische und proisraelische Einstellungen.

Insgesamt macht die Studie deutlich, dass die Verquickung von Nationalismus und äußerst selektiver historischer (Schul-)Bildung eine fatale Mischung ist. Wobei Günther Jikeli betont: »Verschwörungsfantasien gehen durch alle Schichten. Klassiker, wie die ›Protokolle der Weisen von Zion‹, waren unter den Interviewpartnern aber vor allem bei gebildeteren Menschen bekannt. Ein ehemaliger Schuldirektor und Professor beispielsweise erklärte damit die Kriege der letzten 100 Jahre im Nahen Osten.«

In gebildeten Milieus hier zu Lande wäre das heute eher schlecht vorstellbar. Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin, die sich seit Langem intensiv mit den verbalen Mustern des Antisemitismus beschäftigt, stellt fest: »Seit 1945 ist bei uns ein expliziter Vulgärantisemitismus tabuisiert und wird sanktioniert.« Judenfeindliche Botschaften würden quasi getarnt und in Form von so genannten Umweg-Kommunikationen artikuliert. »Statt explizit auf Juden zu verweisen, werden Paraphrasen wie ›jene einflussreichen Kreise‹ benutzt. Und ›Rothschild‹ ist eine bekannte Chiffre für das Stereotyp des jüdischen Wuchers und Finanzwesens.«

»Etwas verklausuliert wird anstatt von Juden auch von Freimaurern, Illuminaten, Zionisten oder Israel gesprochen. Antisemitische Denkmuster werden so versucht zu verstecken, oftmals auch vor sich selbst, denn nahezu alle Antisemiten weisen Antisemitismus weit von sich«
Günther Jikeli, Historiker

Ähnliche Beobachtungen machte auch Jikeli bei den Flüchtlingen aus dem arabischen Raum: »Etwas verklausuliert wird anstatt von Juden auch von Freimaurern, Illuminaten, Zionisten oder Israel gesprochen. Antisemitische Denkmuster werden so zu verstecken versucht, oftmals auch vor sich selbst, denn nahezu alle Antisemiten weisen Antisemitismus weit von sich.« Die Ahnung, dass sich manche Antisemiten offensichtlich zu solchen kognitiven Kapriolen genötigt sehen, ist freilich ein schwacher Trost.

Einen kleinen positiven Befund will Jikeli natürlich nicht verschweigen: Nach seiner Beobachtung signalisierten einige jüngere Zuwanderer, dass sie prinzipiell bereit seien, ihre eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Und manche seien ehrlich überrascht, wenn sie hörten, wie viele Millionen Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen sind.

Zwar gibt es erste Ansätze und Programme, wie dem höchst einseitigen Geschichts- und Weltbild, das jahrzehntelange Propaganda in den Herkunftsländern hinterlassen hat, entgegengesteuert werden soll. Doch viele Fragen sind hier noch vollkommen unbeantwortet. Jikeli bedauert: »Antiantisemiten sind nahezu unerforscht. Ihre Rolle ist aber oft entscheidend dafür, ob sich Antisemitismus weiter ausbreitet oder ob ihm Einhalt geboten wird. Was sind Faktoren, die Menschen zu Antiantisemiten machen, und wie können diese gestärkt werden?«

Solange jedoch auf solche Fragen keine Antworten gefunden sind, bleibt wohl leider weiterhin gültig, was die jüdische Soziologin Hannah Arendt 1941 niederschrieb: »Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher.«

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