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Artenvielfalt: Rätselraten im Regenwald

Die tropischen Regenwälder sind jedem ein Begriff – und gelten dennoch als kaum erforscht. Noch immer sind vier von fünf der hier lebenden Tierarten unbekannt.
Käfersammlung

Um den Wunschtraum vieler Feldbiologen zu erleben, muss Kelly Swing nur den Fuß vor die Tür setzen. Der Zoologe ist Professor an der Boston University und der Universidad San Francisco de Quito. Zwei Monate im Jahr verbringt er mitten in der Wildnis Ecuadors in der Tiputini Biodiversity Station. "Noch immer kann ich hier keine paar Minuten durch den Wald laufen, ohne etwas zu finden, was ich noch nie gesehen habe – und in den meisten Fällen weiß ich, dass ich es nie wieder sehen werde", schildert der Wissenschaftler.

Als Swing vor rund 20 Jahren einen Standort für die Station suchte, wählte er den Nationalpark Yasuni, etwa 300 Kilometer östlich von Quito. Er hatte die Gegend auf einer Expedition als besonders artenreich kennen gelernt. Die Nachweise vor Ort überbieten seine ersten Eindrücke bei Weitem: Auf einem Hektar wachsen hier mehr Baumarten als in ganz Nordamerika. 400 Fischarten leben in den Gewässern – mehr als im gesamten Süßwasser Europas. Sie bieten Nahrung für den sechs Meter langen Schwarzen Kaiman und den einzelgängerischen, rosafarbenen Amazonasdelfin. Dazu kommen etwa 600 Vogelarten, darunter die seltene Harpyie, die als wohl stärkster Greifvogel der Welt Faultiere, Affen und Nasenbären erbeutet. Unmengen an teils hochgiftigen Amphibien und Reptilien leben zwischen Säugetieren wie dem Zwergameisenbär und dem farbenfrohen Goldmanteltamarin. Einige Fledermäuse leben vegetarisch, andere erbeuten Fische, manche schlafen völlig untypisch mit dem Kopf nach oben. Und zwischen alldem krabbeln und fliegen zahllose Kleintiere: Nach Schätzungen sind es allein 100 000 Insektenarten pro Hektar. Das wäre ein Rekordwert für den gesamten Planeten.

Papageien | So offen sieht man Vögel im Amazonasgebiet eher selten – meist schallt nur ihr Rufen und ihr Gesang durch die Bäume.

Swing ist Experte für tropische Wirbeltiere, insbesondere für Fische. Doch im Austausch mit Fachleuten kann er auch für andere Bereiche oft komplett neue Spezies beschreiben: "Allein für die Familie der Buckelzikaden habe ich einige Dutzend Arten gefunden." Eine eigentümlich aussehende Blume ohne sichtbare Stängel und Blätter, die zwischen Labor und Mensa blühte, hat sich als neue Gattung herausgestellt: "Jeder Botaniker kann bestätigen, dass dies heutzutage selten vorkommt – zumal ich keine entsprechende Qualifikation habe." Das Phänomen dieses Ortes unterstreicht Swing mit einer Karte Südamerikas, auf der die Biodiversität einzelner Regionen dargestellt ist. Zwei winzige Flecken in Teilen Perus und Ecuadors gelten als Orte mit der höchsten Artenvielfalt weltweit – und einer von ihnen überlappt mit dem Yasuni-Nationalpark, der 1989 von der Unesco auch zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Tatsächlich könnte es nach derzeitigem Stand der Wissenschaft auf nur 9820 Quadratkilometern 15 Prozent aller Spezies weltweit beherbergen.

Hotspots der Biodiversität

Dies ist der dritte und letzte Teil unserer Serie über "Die letzten weißen Flecken" der Erde.
  1. Der Mikrokosmos als Maximalprojekt
  1. Die Tiefsee
  1. Rätselraten im Regenwald

Dass diese Orte im tropischen Regenwald liegen, ist kein Zufall – denn dieser Lebensraum gilt als artenreichste Region der Erde. Zwar gibt es auch hier Unterschiede. So schildert der Tierökologe Marcell Peters aus der Arbeitsgruppe Tropenbiologie an der Universität Würzburg: "In den Regenwäldern Südamerikas sind etwa 90 000 Pflanzenarten dokumentiert, in den südostasiatischen 60 000 und in jenen Afrikas und Madagaskars etwa 30 000." Die Neotropen – die Tropen der "Neuen Welt" – sind also Spitzenreiter in Sachen Biodiversität, Afrika das Schlusslicht. Doch wenn Peters die Forschungsstation am Kilimandscharo besucht, ist sein erster Eindruck der unbändiger Fülle: "In Deutschland stehen meist zwei Bäume derselben Art nebeneinander – beispielsweise in einem Buchenwald. Im Regenwald ist schon der nächste Baum eine andere Art." Die zahlreichen Vögel hört man mehr, als dass man sie in den dichten Baumkronen sieht. Die Insekten dagegen schwirren und krabbeln überall: "Allein auf einem Quadratmeter finden wir 20 verschiedene Arten von Ameisen. Dazu kommen Bienen und Wespen, Fliegen, Käfer, Schmetterlinge und Nachtfalter. Diese Gruppen stellen mit Abstand den größten Teil des Artenreichtums."

Wo liegt die Ursache dieser Vielfalt? "Dazu gibt es verschiedene Erklärungsmodelle", schildert Peters. Definitiv liegt es zum Teil am Klima: Wärme, Wasser und konstante Temperaturen begünstigen generell alles Leben. Insekten und Vögel ziehen mehr Generationen pro Jahr heran. Und da höhere Temperaturen biologische Prozesse anregen, mutiert auch die DNA schneller, was insgesamt die Evolution vorantreibt und neue Arten entstehen lässt.

Und Vielfalt fördert Vielfalt: Die Bäume und Sträucher in den Tropen wachsen im so genannten Stockwerkbau und bieten weit mehr Nahrung, Verstecke oder Brutplätze als eine Steppe. Viele Tiere finden ihre Nischen im 35 bis 50 Meter hohen, geschlossenen Kronendach, andere in einer lückigen, darunter liegenden Baumschicht, in Sträuchern oder Kräutern und im fast lichtlosen Waldboden. Auf Bäumen wachsende Pflanzen schaffen weiteren Lebensraum. Und bis zu 60 Meter hohe Einzelbäume, so genannte Überständer, überragen das dichte Blättergewirr. So leben hier nicht nur mehr Arten, sondern auch mehr Individuen insgesamt. Und je mehr Tiere und Pflanzen es gibt, desto mehr haben sie miteinander zu tun: Durch die Interaktionen spezialisieren sie sich immer weiter und bilden beispielsweise Gifte aus.

Auch ihre schiere Größe hat die Tropen zu solch wertvollen Lebensräumen werden lassen: "Nördlich und südlich des Äquators liegen die gleichen Klimazonen – diese große Fläche fördert die Artenbildung", erläutert Peters. Und sogar die Erdgeschichte zeigte sich den Tropen gefällig: Weite Flächen haben über die letzten 50 Millionen Jahre nur geringe klimatische Veränderungen erfahren, dadurch sind weniger Tiere und Pflanzen ausgestorben. Doch obwohl die tropischen Regenwälder für Wissenschaftler ein El Dorado verkörpern, sind sie noch immer weiße Flecken auf der Landkarte. Denn wer hier forscht, sieht sich einer geradezu überwältigenden Fülle gegenüber.

Giraffenhalskäfer | Die Vielfalt der tropischen Regenwälder unterscheidet sich von Kontinent zu Kontinent: Die höchste Biodiversität weist Südamerika auf, gefolgt von Südostasien. Das Schlusslicht bildet Afrika. Die Wälder sind die reinsten "Evolutionsschmieden", die auch ungewöhnliche und teils skurril anmutende Formen hervorbringen – hier ein Giraffenhalskäfer aus Madagaskar.

"Man sollte es nicht erwarten, dass der Mensch den Weltraum erkundet und dabei die Vielfalt auf der Erde noch so unbekannt ist", so Peters. Aber im komplexen System des Regenwalds die Übersicht zu behalten, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die zahllosen Tiere und Pflanzen unterscheiden sich oft nur in wenigen Merkmalen – dadurch sind neue Spezies schwer zu beschreiben. Vermutlich haben 80 Prozent der Insekten noch keine wissenschaftlichen Namen. Noch weniger weiß man, wie weit sie verbreitet sind und welche Funktionen sie im ökologischen Netz innehaben.

Eine Frage der Infrastruktur

Peters und seine Kollegen untersuchen die Auswirkungen des Klimawandels und der Landnutzung auf den Regenwald: "Entweder spezialisiert man sich auf die Artenbestimmung oder auf ökologische Studien. Und auch wenn ich 20 Arten beschreibe, ist das nur die Spitze des Eisbergs." So teilen die Forscher Insekten einiger großer Familien lediglich in unterscheidbare Einheiten ein. Dadurch wissen sie jedoch nicht immer, ob das Tier einen Artnamen hat: "Und so können wir nicht sagen, ob die in Kamerun gefundene Spezies die gleiche ist, die in Tansania vorkommt."

Angesichts dieser Sisyphusaufgabe bräuchte man weltweit viel mehr Ressourcen: mehr Forscher, mehr Geld, mehr Zeit. Für westliche Nationen sind die tropischen Regenwälder schwer zu erreichen, die Länder vor Ort stehen finanziell schwächer da. Mit dem jetzigen Aufwand können Wissenschaftler nur kleine Schritte gehen, beschreibt Peters: "Für Afrika fallen mir nur eine Hand voll gut ausgerüsteter Forschungsstationen ein." Eine professionelle Ausstattung mit Labor, Bibliothek und Seminarräumen bedingt eine gewisse Infrastruktur – ein menschlicher Einfluss, den man hier eigentlich gar nicht haben möchte. Für die Station im Yasuni-Biosphärenreservat hat Kelly Swing einen Königsweg gefunden: Die letzte Etappe kann nur auf dem Wasserweg zurückgelegt werden.

Vor Ort bekommt dann auch eine Entfernung von nur 50 Metern eine ganz neue Dimension: "Die Baumkronen sind für uns ähnlich erreichbar wie Tiefseegräben", formuliert Swing drastisch. Wer im Kronendach forschen möchte, benötigt spezielle Kräne oder Netze, doch die sind teuer und wenig beweglich. Und nur besonders abenteuerlustige Forscher nutzen die preiswerte Alternative: "Wie viele Menschen riskieren ihr Leben und baumeln an einem Seil zehn Stockwerke über dem Erdboden zwischen stacheligen Bromelien? Über Stunden unablässig umschwärmt von Hunderten von Insekten, die Mineralstoffe aus ihrem Schweiß tanken und über Hände und Gesicht, in Ohren und Nasenlöcher kriechen?" Insektenforscher lösen die Krux zum Teil, indem sie die Bäume räuchern und bestimmen, was herunterfällt.

Kronendach | Den Artenreichtum des Kronendachs zu ermitteln, gehört zu den größten Herausforderungen für Tropenökologen: Um dorthin zu gelangen, braucht man entweder eine aufwändige Infrastruktur oder gute Kletterkünste. Manche nebeln daher die Baumkronen ein und schätzen anhand der zu Boden fallenden Tiere die Artenzahl der unerreichbaren oberen Stockwerke des Regenwalds.

Viele engagierte Forscher stellen sich den Herausforderungen und liefern immer neue Erkenntnisse über Ökologie und Zusammensetzung der Tiere und Pflanzen in den Regenwäldern. Dennoch artet ihre Arbeit zunehmend in einen Wettlauf aus: Derzeit verliert die Erde alle fünf Jahre Waldflächen von beinahe der Größe Deutschlands. Die Bäume weichen Agrarflächen oder werden der Gewinnung von Edelmetallen, Holz oder Öl geopfert. Die Straßen leisten der Wilderei und illegalem Holzabbau Vorschub. Eine Renaturierung würde Jahrhunderte dauern: "Und wir verlieren Arten, die wir niemals kennen werden", schildert Swing. Neben ihrer Funktion im ökologischen Netz ist das auch ein Verlust für die Wissenschaft: Ihr genetisches Material könnte Heilmittel für Krankheiten bergen./p>

Die Zeit drängt

Eine weitere Bedrohung für den Regenwald ist der Klimawandel. Vielerorts sind die Temperaturspitzen ohnehin sehr hoch: "Man geht davon aus, dass bei einer weiteren Erhöhung die Grenze zum Leben erreicht sein kann", gibt Marcell Peters zu bedenken. Gerade Insekten leben in den Tropen ohnehin häufig nahe am Maximum und könnten eine weitere Erwärmung vermutlich kaum verkraften. Hier könnten also mehr Arten aussterben als in gemäßigten Regionen.

In der Gegend um Yasuni soll der Klimawandel eher gemäßigt ausfallen: Das Klima ist besonders stabil und gemäßigt, die Regenfälle hoch. Die Frage ist, in welchem Maße die derzeit unberührte Natur noch davon profitieren wird. Denn Kelly Swing kämpft seit Jahren um den Erhalt des Schutzgebietes. Etwa 80 Kilometer nördlich lag Mitte der 1970er Jahre ein wahrscheinlich noch vielfältigerer Regenwald. Dann wurde mit der Förderung von Öl begonnen. Eine Stadt ist entstanden, und die Landschaft ist zerstückelt. Ausgedehnte Öllachen vergiften das Grundwasser, die indigene Bevölkerung musste weichen. Neue Förderungslizenzen sind bereits vergeben worden, in diesem Jahr soll der Abbau beginnen. Die Gebiete umfassen ein Drittel des Yasuni-Biosphärenreservats.

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