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»Multiple Persönlichkeit«: Die wichtigsten Fakten zur dissoziativen Identitätsstörung

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Was steckt dahinter?
Eine stilisierte Illustration von fünf abstrakten Figuren in verschiedenen Farben und Formen, die auf einem zweifarbigen Hintergrund stehen. Die Figuren sind in Rot, Grau, Gelb, Rosa und Blau gehalten und haben keine Gesichtszüge. Der Hintergrund ist in einem hellen Türkis mit zwei weißen Wolken gestaltet. Die Szene vermittelt Vielfalt und Individualität durch die unterschiedlichen Farben und Formen der Figuren.
Um das Ensemble an Figuren, die bei der dissoziativen Identitätsstörung reihum die Bühne betreten, ranken sich einige Mythen.

Gespaltene Persönlichkeit und rituelle Gewalt

Hinter der Diagnose »dissoziative Identitätsstörung«, früher »multiple Persönlichkeitsstörung«, stehen oft Menschen, die von extremer Gewalt in der Kindheit berichten – auffallend viele sprechen von Misshandlungen durch satanistische Geheimbünde. Während einige Psychotherapeuten darin den Grund für die innere Spaltung sehen, zweifeln andere Fachleute die Geschichten an und warnen vor falschen Erinnerungen. Spektrum.de widmet der Debatte ein zweiteiliges Dossier:

Multiple Persönlichkeit: Die wichtigsten Fakten zur dissoziativen Identitätsstörung

Rituelle Gewalt: Zwischen Trauma und Trugbild

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Was ist Dissoziation?

So mancher vergisst beim Lesen völlig die Welt um sich herum: Das Handy klingelt, jemand spricht ihn an – aber er nimmt es kaum wahr. Dieses kurze Abschalten ist eine harmlose Form der Dissoziation. In der Psychologie bezeichnet Dissoziation allgemein eine Unterbrechung grundlegender psychischer Abläufe, die normalerweise reibungslos zusammenwirken: Wahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein und Identität. Meistens geschieht dies nur kurz und ohne nennenswerte Folgen. In schweren Fällen können sich jedoch zum Beispiel große Erinnerungslücken auftun. Betroffene finden sich mitunter plötzlich an fremden Orten wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt sind.

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Was sind dissoziative Störungen?

Dissoziative Störungen beeinträchtigen grundlegende psychische Funktionen auf unerwünschte Weise. Sie sind eine eigenständige Gruppe psychischer Störungen in international anerkannten Klassifikationssystemen wie dem ICD. Fachleute sprechen von einer »Störung der normalen Integration«, weil Bereiche des Erlebens nicht mehr wie gewohnt ineinandergreifen, sondern von der Person als unwillkürliche Unterbrechung erlebt werden. Die Störungen können sich unterschiedlich äußern: Manche Menschen fühlen sich losgelöst vom eigenen Körper (Depersonalisation) oder erleben ihre Umgebung als unwirklich (Derealisation). Andere geben an, sich plötzlich nicht mehr an bestimmte Episoden in ihrem Leben (dissoziative Amnesie) zu erinnern, oder empfinden ihre Identität als verschwommen (Identitätsverwirrung) oder gar gespalten (Identitätsfragmentierung). Je nach Ausprägung lassen sich diese Symptome verschiedenen Diagnosen zuordnen, etwa der Depersonalisations-/Derealisationsstörung oder der dissoziativen Identitätsstörung.

Solche Diagnosen dürfen allerdings nicht vorschnell gestellt werden. Manche Menschen glauben, an einer dissoziativen Störung zu leiden, erfüllen aber nicht die nötigen Kriterien. Um Verwechselungen zu vermeiden, braucht es strukturierte Interviews, die von entsprechend geschulten und erfahrenen Psychologen oder Ärzten durchgeführt werden. Dissoziative Störungen sind selten, zugleich jedoch mit hohem Leidensdruck verbunden: Betroffene kämpfen mit Problemen im Beruf und in Beziehungen, häufig kommen selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche oder Begleiterkrankungen wie Traumafolgestörungen und Persönlichkeitsstörungen hinzu. Die Therapie erstreckt sich bislang meist über Jahre und erfordert spezialisierte Angebote, die aktuell leider kaum in der Breite verfügbar sind. Studien zeigen, dass viele Erkrankte große Hürden überwinden müssen, um überhaupt Zugang zu geeigneter Behandlung zu finden.

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Was ist die dissoziative Identitätsstörung?

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist die schwerste, aber auch die umstrittenste unter den dissoziativen Störungen. Früher war sie als »multiple Persönlichkeitsstörung« bekannt, denn Betroffene erleben wechselnde Persönlichkeitszustände, sodass es wirkt, als »wohnten« verschiedene Menschen in einem Körper. Betroffene berichten, sich oft abrupt wie ein anderer Mensch zu fühlen: mit anderem Namen, anderen Vorlieben, teils sogar anderer Stimme und anderem Geschlecht. Dieser Symptombereich ist als »Identitätsfragmentierung« bekannt. Zugleich scheinen immer wieder Gedächtnislücken aufzutreten, etwa für alltägliche Erlebnisse, belastende Ereignisse oder persönliche Informationen. Oft erinnert sich laut eigener Aussage ein innerer Anteil, auch »Innenperson« genannt, nicht daran, was ein anderer Anteil getan oder erlebt hat. Dieses Phänomen heißt »Interidentitätsamnesie«.

Das aktuelle Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-5) definiert die DIS durch »das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Persönlichkeitszuständen oder einem Erleben von Besessenheit und wiederholten Episoden von Amnesie«. Laut der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) ist sie eine »Identitätsstörung, bei der zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) mit je eigenem Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehung zu sich selbst, dem Körper und der Umwelt vorliegen, die mit deutlichen Unterbrechungen des Selbst- und Handlungsgefühls einhergehen«.

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Wie viele Menschen sind betroffen?

Exakte Zahlen zur Häufigkeit der DIS sind schwer zu ermitteln – und selbst Teil der Debatte um die Störung. Die Angaben schwanken sehr stark je nach Land und Untersuchung. In den USA sind laut Schätzungen etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Jahres von einer DIS betroffen. Ob die wahre Prävalenz wirklich so hoch ist, bleibt jedoch umstritten. In psychiatrischen US-Stichproben reichten die Werte gar von 5 bis 29 Prozent, wobei hier allerdings teils andere Formen dissoziativer Störungen mitgezählt wurden. In europäischen Ländern fielen ähnliche Schätzungen niedriger aus. So deutet eine Erhebung in den Niederlanden darauf hin, dass dort zwei Prozent der Psychiatriepatientinnen und -patienten die Kriterien für eine DIS erfüllen.

Warum diese starken Unterschiede? Zum einen wurden je nach Studie unterschiedliche Diagnoseinstrumente verwendet – mit mal großzügigeren, mal strengeren Auslegungen der Kriterien. Zum anderen hängt die Diagnoserate stark davon ab, wie vertraut Fachleute mit den entsprechenden Symptomen sind und wie offen in der jeweiligen Gesellschaft über Dissoziation gesprochen wird. Auch die Auswahl der untersuchten Gruppen spielt eine Rolle: So zeigen sich etwa höhere Raten in Stichproben von Menschen, die von sexuellem Missbrauch im Kindesalter berichten. Zwar wird die DIS häufiger bei Frauen diagnostiziert, in repräsentativen Umfragen geben Männer und Frauen jedoch gleich häufig dissoziative Symptome an. Wie sich die DIS in verschiedenen Kulturen zeigt, ist bislang kaum erforscht.

Auch dazu, wie sie beim Einzelnen verläuft, ist wenig bekannt. Erste Symptome treten vermutlich schon im Kindesalter auf, laut Berichten von Patienten meist zwischen dem fünften und dem achten Lebensjahr. Viele Erkrankte erhalten aber erst viel später die korrekte Diagnose, oft nach einer langen Odyssee durch das psychiatrische Versorgungssystem.

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Wie entsteht die dissoziative Identitätsstörung?

Die Ursachen der DIS werden äußerst kontrovers diskutiert. Einige Theorien sehen die Symptomatik als Schutzsystem der Psyche, das nur unter extremen traumatischen Erlebnissen aktiv wird, während andere Modelle den Einfluss von Kultur, Medien und suggestiven Therapietechniken betonen.

Das bekannteste Erklärungsmodell ist die Traumatheorie, auch posttraumatisches Modell genannt. Sie geht davon aus, dass frühkindliche Traumata – schwere Misshandlung, sexueller Missbrauch oder extreme Vernachlässigung – das Ich-Gefühl destabilisieren können, vor allem bei Menschen, die ohnehin zu dissoziativen Reaktionen neigen. Um zu überleben, »spaltet« die Psyche unterschiedliche »Anteile« ab, die jeweils mit bestimmten Erinnerungen, Gefühlen oder Verhaltensweisen verknüpft sind. Diese Anteile könnten sich fortan im Alltag abwechseln, mit eigenem Habitus und eigener Sicht auf die Dinge – manche Vertreter sehen sie als tatsächlich eigenständige Persönlichkeiten an.

Kritiker der Traumatheorie gehen hingegen davon aus, dass viele der typischen DIS-Symptome auch bei Menschen ohne nachgewiesenes Trauma auftreten können. Sie warnen davor, Selbstaussagen Betroffener automatisch als Beweis für vergangene Missbrauchserfahrungen zu werten. Die Frage nach der Echtheit schrecklicher Erinnerungen dominiert auch die aktuelle Debatte um die Existenz ritueller Gewalt – eines angeblich systematischen Missbrauchs in Form kultischer Zeremonien durch geheime, gesellschaftlich gut situierte Täternetzwerke mittels Methoden der Gedankenkontrolle. Unabhängig davon lässt sich oft im Einzelfall schwer überprüfen, ob die berichteten traumatischen Erlebnisse in der Kindheit tatsächlich so stattgefunden haben. Dabei geht es nicht darum, individuelle Erfahrungen vorschnell und unsensibel infrage zu stellen. Bei der Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie zur Entstehung der DIS gilt es jedoch, nicht alle Berichte unkritisch zu glauben und sowohl die Aussagen von Betroffenen ernst zu nehmen als auch andere mögliche Ursachen in Betracht zu ziehen.

Das soziokognitive Modell erklärt DIS als ein Phänomen, das durch eigene Erklärungsversuche, mediale Vorbilder oder Suggestion durch Psychotherapeutinnen und -therapeuten verstärkt werden kann. Die zentrale Idee dabei: Menschen, die nach einem Sinn für ihr Leiden suchen, die versuchen, ihre wechselnden Gefühle und Verhaltensmuster zu erklären, greifen auf das Bild der »gespaltenen Persönlichkeit« zurück, weil es ihnen aus Filmen, aus den sozialen Medien oder an sie herangetragenen Therapiemodellen vertraut ist. Dieses Modell wird von Vertretern der Traumatheorie, aber auch von vielen Betroffenen kritisiert, weil es die reale Belastung durch die DIS aus ihrer Sicht herunterspielt. Allerdings sagt das soziokognitive Modell anders als häufig behauptet nicht aus, die Erkrankung sei nur eingebildet oder gar vorgetäuscht – auch hier wird das Leid als echt anerkannt. 

Ein dritter Ansatz, das Schema-Modus-Modell, stellt sich die Psyche als ein Mosaik verschiedener sogenannter Modi vor, die letztlich in einer Störung der Persönlichkeit zum Vorschein kommen können. Gemeint sind damit innere Zustände oder Rollen, die bei Menschen je nach Situation aktiviert werden können – zum Beispiel der Patient im Modus des »verletzten Kindes«, das sich hilflos fühlt, des »inneren Kritikers«, der stets alles abwertet, oder des »vermeidenden Erwachsenen«, der auf Rückzug setzt. Jeder Modus sei mit gewissen Mustern aus Gedanken, Gefühlen und einem bestimmten Verhalten verknüpft und spiegle meist früh erlernte Reaktionen auf schwierige Erfahrungen in der Kindheit wider. Aber auch eine erbliche Anfälligkeit und das persönliche Temperament spielten eine Rolle. Menschen mit DIS wechseln laut dieser Theorie besonders abrupt zwischen diesen Modi, teilweise so stark, dass sie sich selbst nicht wiedererkennen. Anders als Befürworter der Traumatheorie vertreten Anhänger dieses Modells jedoch nicht die Auffassung, dass es sich bei den inneren Anteilen um völlig getrennte Identitäten handelt, die wirklich keinen Zugriff auf ein gemeinsames Gedächtnis haben. Stattdessen geht das Schema-Modus-Modell davon aus, dass Erkrankte (unbewusst) der Überzeugung sind, es sei besser, bestimmte Erinnerungen, besonders an schmerzhafte Erlebnisse, nicht abzurufen – dass es aber grundsätzlich möglich ist. Das Modell betont Gemeinsamkeiten zwischen der DIS und anderen Störungen, bei denen Menschen verstärkt zwischen unterschiedlichen psychischen Zuständen wechseln, etwa der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der (komplexen) Posttraumatischen Belastungsstörung.

Schließlich gibt es noch das transtheoretische Modell, eine Rahmentheorie, die viele dieser Ansätze auf Grundlage der belastbarsten Forschungsergebnisse vereint. Laut ihr entstehen dissoziative Störungen durch das Zusammenspiel mehrerer biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Das Modell versteht dissoziative Störungen nicht als Folge eines einzelnen Auslösers, sondern als Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung. Es geht davon aus, dass wichtige psychische Prozesse aus dem Gleichgewicht geraten. So könnten etwa gestörter Schlaf, überfordernde Gefühle oder Schwierigkeiten, Erlebnisse als Teil der eigenen Biografie einzuordnen, zu einem instabilen Selbstempfinden führen. Anders als frühere Modelle, die klar definierte Ursachen betonen, begreift dieser Ansatz dissoziative Störungen als Phänomene auf einem Spektrum – mit fließenden Übergängen zu anderen psychischen Erkrankungen.

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Ist die Ursache immer ein Trauma?

Ob ein Trauma immer die Ursache für eine DIS ist, lässt sich wissenschaftlich nur schwer belegen. Oft wird sie als Folge schwerer Kindheitstraumata verstanden – und tatsächlich berichten viele Betroffene von sexuellem Missbrauch, körperlicher Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung in jungen Jahren. Doch nicht alle Erkrankten schildern solche Erfahrungen, und umgekehrt entwickeln viele traumatisierte Menschen keine DIS. Wahrscheinlicher ist, dass es eine Vielzahl von Risikofaktoren gibt, die zusammenwirken. Dazu gehören nicht nur Erlebnisse, die laut der psychiatrischen Definition ein Trauma darstellen, also zum Beispiel schwere sexualisierte Gewalt oder lebensgefährliche Situationen, sondern auch instabile familiäre Beziehungen, emotionale Kälte oder widersprüchliches und orientierungsloses Verhalten von Bezugspersonen – oder auch das Miterleben dissoziativer Symptome bei Familienmitgliedern.

Genetische Faktoren scheint es ebenfalls zu geben: Vergleiche zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen legen nahe, dass der Hang zu dissoziativen Symptomen zum Teil vererbt wird. Auch das Gehirn Betroffener zeigt Auffälligkeiten. Neuere Studien fanden bei Menschen mit dissoziativen Symptomen bestimmte Muster neuronaler Aktivität – allerdings nicht in abgrenzbaren Hirnarealen, sondern in komplexen Netzwerken. Die Forschung dazu steckt noch in den Anfängen, ein klarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang lässt sich bisher nicht ableiten.

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Wer sind die »Innenpersonen« wirklich?

Manche nennen ihre wechselnden Identitäten »Innenpersonen«, andere sprechen von »Alters« (aus dem Englischen: »alternate identities«). Von diesen Alters trinkt zum Beispiel einer seinen Kaffee schwarz, ein anderer mit Milch und Zucker, einer liebt Rockmusik, der andere hört nur Klassik. Sie haben verschiedene Namen und sind unterschiedlich alt – für Betroffene fühlt es sich so an, als würden ganz verschiedene Personen in ihnen leben. Aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich dabei jedoch nicht um distinkte Persönlichkeiten, sondern um psychologische Zustände – etwa Ausdrucksformen bestimmter Gefühle oder Selbstanteile.

Eines der einflussreichsten Modelle über das Wesen dieser »Innenpersonen« ist gleichzeitig empirisch nicht gestützt: Laut dem Modell der strukturellen Dissoziation (einer Unterform der Traumatheorie) gliedert sich die Persönlichkeit durch besonders frühe und schwere Kindheitstraumata dauerhaft in souveräne »alltagsfähige Anteile« (auch: anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil) und »traumagebundene Anteile« auf, die mit starken Emotionen verbunden sind (auch: emotionaler Persönlichkeitsanteil). Diese Teilpersönlichkeiten sind laut dem umstrittenen Modell strukturell voneinander getrennt – also grundlegend unterschiedlich organisiert und nicht miteinander vernetzt. Diese veraltete Idee von »abgespaltenen Persönlichkeiten« hat jedoch viele Therapieansätze geprägt. Manche Psychotherapeuten gehen so weit, in den Sitzungen jede »Innenperson« als eigenständigen Menschen anzusprechen – in der Hoffnung, durch Anerkennung der Spaltung Vertrauen aufzubauen. Diese sogenannte Reifikation, also das Behandeln der Anteile als real existierende Personen, kann jedoch die Identitätsverwirrung sogar verstärken und zur Herausbildung neuer »Anteile« führen.

Moderne Modelle legen dagegen nahe, die Überzeugung verschiedener »Innenpersonen« als Schutzmechanismus zu verstehen, der sich in schwierigen Situationen gebildet hat – mit dem Ziel, diese ungünstigen Mechanismen im Lauf der Behandlung mit gesünderen Bewältigungsstrategien zu ersetzen. Und das, ohne die einzelnen Anteile als getrennte Persönlichkeiten zu adressieren und damit die Schutzstrategie womöglich noch zu befeuern.

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Können sich die »Innenpersonen« tatsächlich nicht erinnern?

Immer wieder kursiert die Annahme, einige Innenpersonen würden belastende Erinnerungen in sich tragen – etwa an traumatische Ereignisse –, während andere davon nichts wüssten. Die Forschung zur Interidentitätsamnesie zeigt ein gemischtes Bild. Ältere Untersuchungen bestätigen zwar, dass Betroffene subjektiv Erinnerungslücken haben. Ob das tatsächlich auch objektiv der Fall war, wurde in früheren Studien dabei selten getestet. In neueren, sorgfältig kontrollierten Experimenten, die das taten, zeigte sich jedoch: Alle Informationen, auch solche über schlimme autobiografische Erlebnisse, sind im Prinzip zugänglich – auch wenn Betroffene das anders empfinden. So testete ein Team um Rafaële Huntjens von der Universität Groningen, ob Menschen mit einer DIS wirklich keinen Zugriff auf Inhalte haben, die ein anderer Persönlichkeitsanteil erlebt hat. Dazu wurde eine zusammenfassende Auswertung von Studien durchgeführt, bei denen Erkrankten in verschiedenen Identitätszuständen kurze Geschichten vorgelesen wurden, die sie sich einprägen sollten. Später, wenn sie zu einer anderen »Innenperson« gewechselt hatten, wurde in den einzelnen Studien überprüft: Konnten sie sich noch an Details aus der Story erinnern?

Zwar gaben die Erkrankten häufig an, keinerlei Erinnerung an das zu haben, was der andere Anteil gehört hatte. Doch bei objektiven Tests – etwa zur Wiedererkennung einzelner Sätze aus den Geschichten – schnitten sie deutlich besser ab, als man erwarten würde, wenn die Annahme stimmen würde. Die Betroffenen erkannten die Inhalte signifikant häufiger wieder als Teilnehmende aus den Kontrollgruppen, denen diese Informationen tatsächlich unbekannt waren. Das spricht für die Annahme, dass die Erinnerungen im Prinzip zugänglich sind – auch wenn sich Betroffene dessen nicht bewusst sind. Die Forschenden folgern daraus, dass die oft berichteten Erinnerungslücken bei DIS eher ein subjektives Erleben als eine echte Gedächtnisstörung darstellen.

Führende Experten vermuten, dass hier keine tatsächliche Amnesie, sondern eine Art innere Vermeidung vorliegt: Bestimmte Gedächtnisspuren werden nicht abgerufen (oder abgerufen, aber dann nicht anerkannt), weil sie zu schmerzhaft erscheinen. Dahinter stecken oft übergeordnete Überzeugungen wie »Es ist besser, schmerzhafte Erlebnisse zu vergessen« oder »Wenn ich mich an alle schlimmen Dinge aus meiner Vergangenheit erinnern würde, würde ich verrückt werden«. Solche (unbewussten) Denkweisen könnten dazu führen, dass Menschen mit einer DIS Erinnerungen nicht abrufen, obwohl ihr Gedächtnis grundsätzlich funktioniert; Fachleute sprechen von »Interidentitätsvermeidung«.

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Welche neuen Behandlungsansätze gibt es?

Bislang fehlt eine einheitliche Therapieempfehlung. Viele Behandelnde orientieren sich an einem klassischen Drei-Phasen-Modell: Zuerst geht es um Sicherheit und Stabilisierung, dann um die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen und zuletzt um Integration und Alltagsbewältigung. Diese Form der psychodynamisch fundierten Psychotherapie ist aber oft langwierig – sie kann viele Jahre dauern – und basiert meist auf wissenschaftlich überholten Konzepten wie dem Modell der strukturellen Dissoziation, das von einer echten Trennung der verschiedenen Persönlichkeiten ausgeht. Empirische Nachweise für die Wirksamkeit dieser Art der Behandlung sind bisher nicht überzeugend. Studien zeigen zwar eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag, allerdings eine geringe bis gar keine Linderung der dissoziativen Symptome. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Ansatz eher um eine Art Alltagsbegleitung als um eine effektive Therapie – bei Risiken wie die Verstärkung der erlebten Identitätsfragmentierung.

In den letzten Jahren wurden deshalb neue Ansätze entwickelt; viele davon kommen aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Im Mittelpunkt stehen hier nicht die »Innenpersonen«, sondern Denkmuster und Vermeidungsstrategien, die unter Verdacht stehen, die Symptome zu verfestigen. Ziel ist es, ungünstige Denk- und Verhaltensmuster zu verändern und das Vertrauen in das eigene Erleben zu stärken. Im Kern haben diese neuen Methoden eine Haltung gemeinsam: Es gibt keine belastbaren Gründe, die DIS grundsätzlich ganz anders zu behandeln als andere Erkrankungen, etwa Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolgestörungen. Kurze traumabezogene Behandlungen etwa setzen darauf, belastende Erinnerungen gezielt zu bearbeiten – auch wenn das anfangs schwerfällt. Dissoziative Reaktionen gelten dabei nicht als Zeichen einer unüberwindbaren Spaltung, sondern als Formen innerer Vermeidung: Sie lassen sich verändern, wenn es gelingt, die zugrunde liegenden ungünstigen Überzeugungen über Dissoziation und Gedächtnis zu hinterfragen. Erste Fallstudien stimmen vorsichtig optimistisch, auch wenn noch unklar ist, wie zuverlässig dieser Ansatz in der Breite wirkt.

Auch die sogenannte Schematherapie kommt bei der DIS zum Einsatz. Ursprünglich für Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt, behandelt sie die »Innenpersonen« als wiederkehrende und starre momentane Reaktionsmuster im Denken, Fühlen und Verhalten (»Modi«), die sich im Lauf der Therapie immer besser zusammenführen lassen. Die Betroffenen lernen, ihre inneren Zustände zu erkennen, sie zu benennen und gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Auch hier liefert eine Fallberichtsstudie erste Hinweise auf einen positiven Effekt bei der DIS.

Das »Unified Protocol« schließlich ist ein transdiagnostischer Ansatz mit Fokus auf die Verbesserung der Emotionsregulation – unabhängig von der konkreten Diagnose. Die Behandlung kombiniert etablierte Techniken wie Achtsamkeit, kognitive Umstrukturierung und Exposition, um den Umgang mit häufig und intensiv erlebten unangenehmen Gefühlen (beispielsweise Angst und Trauer) zu verbessern. Erste Erfahrungen zur Anwendung bei der DIS sprechen dafür, dass die Behandlung nicht nur dissoziative Symptome, sondern auch häufige Begleitsymptome wie Ängste, Depressionen und Schlafprobleme lindern kann.

Klar ist: Es gibt noch viel Forschungsbedarf. Doch die Richtung hat sich geändert, weg von langjährigen »Identitätsdialogen« hin zu kognitions-, emotions- und verhaltensorientierten Therapien, die die berichtete innere Spaltung zwar ernst nehmen, sie aber nicht als unveränderbar betrachten. Doch es braucht noch mehr als neue Studien: Aufklärung, Austausch und Enttabuisierung – damit Betroffene schneller Unterstützung finden und Fachleute Zugang zu gesichertem Wissen erhalten. Denn eine wirksame Therapie beginnt nicht erst im Behandlungsraum, sondern mit dem Verständnis dafür, dass diese Störung real ist – und Besserung möglich.

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  • Quellen

Herzog, P. et al., Psychotherapeutenjournal 10.1055/s-0043–111296, 2025

Lynn, S. et al., Annual Review of Clinical Psychology 10.1146/annurev-clinpsy-081219–102424, 2022

Nester, M. et al., European Journal of Psychotraumatology 10.1080/20008198.2022.2031594, 2022

Van der Linde, R. et al., Clinical Psychology & Psychotherapy 10.1002/cpp.2892, 2023

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