Neuvermessung der Natur: Auf der Datenspur der Tiere

Die Galapagosinseln sind ein echtes Vogelparadies. Keine Ratten, keine Katzen – nur Wind, Wellen und Wildnis. Von den 13 größeren Inseln, die zu dem Atoll vor der ecuadorianischen Küste gehören, sind gerade einmal fünf von Menschen bewohnt. Und trotzdem schwinden die Bestände der in dem riesigen Nationalpark beheimateten Albatrosse. Schuld daran könnten die Langleinen von Fischern sein. Bloß: Wo genau sich ihre Wege kreuzen, blieb lange unklar.
Um das Rätsel zu lösen, braucht es Daten. Zwölf der rund 35 000 gelbschnabeligen Albatrosse wurden deshalb im Jahr 2024 von ecuadorianischen Forschern eingefangen und mit einem kleinen, 50 Gramm schweren Peilsender ausgestattet. Der auf die Federn geklebte Chip erkennt Sonnenauf- und -untergänge und ermittelt darüber seine geografische Position. Er registriert Bewegungen, misst die Umgebungstemperatur und empfängt Radarsignale von Schiffen. Ist der Vogel zurück im Nest, liest eine Antenne die Daten aus.
Methoden wie diese sind längst unverzichtbar im modernen Naturschutz. Sei es, um Gefahren für Tiere zu identifizieren oder ihr Verhalten besser zu verstehen. Möglich wird das durch einen Digitalisierungsschub, der die Naturforschung auf ein neues Level hebt – vom Waldboden bis ins Weltall. Satellitenmissionen wie das deutsche Environmental Mapping and Analysis Program, kurz EnMAP, erfassen heute aus einer Höhe von 650 Kilometern die Vegetation des Planeten in nie dagewesener Präzision. Gleichzeitig kommen Forscherinnen und Forscher den Tieren mit technischen Hilfsmitteln immer näher: Sensoren zeichnen Tierbewegungen auf, akustische Geräte erkennen ihre Stimmen, Kamerafallen registrieren ihre Präsenz. Anschließend übernimmt künstliche Intelligenz die Auswertung – schnell, effizient und lernfähig. In der Summe entstehen Datenmengen in einem extremen Ausmaß.
Gefährliches Festmahl
Im Fall der Galapagosalbatrosse verfolgen die Forscher die Nahrungsflüge der Eltern während der Aufzucht ihrer Jungen, erzählt Martin Schaefer. Der deutsche Biologe hat die Vögel gemeinsam mit seinen Kollegen von der ecuadorianischen Umweltorganisation Jocotoco besendert und die Daten mit »Spektrum« geteilt: »Es lässt sich gut erkennen, wie sie in nur zwei Tagen mehr als 1000 Kilometer an die Festlandküste und zurück fliegen – genau dorthin, wo der kalte Humboldtstrom von Süden nach Nordwesten abbiegt.« Der Grund für die weite Reise: Das kalte Wasser ist extrem nährstoffreich und ein Festmahl für die gefederten Fischliebhaber.
Doch die Albatrosse sind im kühlen Humboldtstrom nicht allein unterwegs. Immer wieder meldet ihr Sensor ein Radarsignal. Das heißt: Es ist ein Schiff in der Nähe, wahrscheinlich ein Fischerboot.
Für die Albatrosse ist es lebensgefährlich, in die Nähe der Boote zu kommen. Das Glitzern der Langleinen in der Sonne sieht schillernden Fischschuppen zum Verwechseln ähnlich. Verheddern sich die Vögel in den Haken, enden sie als Beifang. »Seit wir die Flugrouten kennen, wissen wir, wo die Konflikte mit der Fischerei entstehen: hauptsächlich vor der peruanischen Küste«, sagt Schaefer.
Das macht die Sache kompliziert. Wären die Albatrosse im Schutzgebiet rund um die Galapagosinseln auf Fischer gestoßen, hätte die Naturschutzorganisation, die Schaefer leitet, mit den ecuadorianischen Behörden und den Fischern reden können. Gespräche über Alternativen zu den gefährlichen Langleinen laufen dort bereits. »Jetzt aber wissen wir, dass der Ursprung des Problems die Sardinenfischerei vor Peru ist«, sagt Schaefer. »Dabei geht es um sehr viel Geld.« Sie müssen also über Landesgrenzen hinweg mit den peruanischen Behörden Lösungen suchen.
Tiere mit Sendern auszustatten, gehört zu den ältesten und aufwändigsten Methoden, sie digital zu verfolgen. Doch der Einsatz lohne sich, sagen manche Wissenschaftler: Die Trackingmethode habe teils bahnbrechende Erkenntnisse zutage gefördert So weiß man inzwischen, dass Haie von Australien bis nach Südafrika ziehen – viel weiter, als man zuvor angenommen hatte. Das verändert auch die Schätzung ihrer Bestände: Die sind offenbar viel kleiner, als man dachte.
Langzeitdaten eröffnen neue Perspektiven
In Radolfzell am Bodensee besendern Forscherinnen und Forscher des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie seit mehr als zehn Jahren Weißstörche. Vertreter einiger nordeuropäischer Populationen legen jährlich 20 000 Kilometer zurück, um ihre afrikanischen Winterquartiere zu erreichen. Die Langzeitdaten eröffnen neue Perspektiven auf die Tiere: »Zum Beispiel lässt sich in den Daten deutlich erkennen, dass menschengemachte Nahrungsquellen wie Müllhalden oder Reisfelder den Zug der Störche beeinflussen«, sagt Andrea Flack, die am Institut die Störche mit Sendern ausstattet und ihr Verhalten erforscht. »Vor allem bei älteren Störchen, die im Lauf ihres Lebens lernen, den Zug zu verkürzen, sieht man, dass sie in Spanien ausreichend Nahrung finden und Temperaturen, die ausreichen, um zu überwintern.«
Dass Störche ihre Reiserouten im Lauf ihres Lebens verändern, ist bekannt. Unklar ist jedoch, warum: Ist ihr Zugverhalten genetisch festgelegt, biografisch erlernt oder sozial geprägt? »Es gibt erste Anzeichen, dass individuelle Erfahrungen eine große Bedeutung haben«, erklärt Verhaltensbiologin Flack. »Offenbar hängt das Zugverhalten stark davon ab, was das Tier in den ersten Lebensjahren erlebt hat.« Gerade erst hat Flacks Arbeitsgruppe einen Storch, der in Freiburg im Breisgau geboren wurde, im Osten von Sachsen ausgesetzt. »Der hat sein neues soziales Umfeld komplett ignoriert und ist sofort zurückgeflogen«, sagt Flack. Das deute darauf hin, dass das früh Erlernte wichtiger ist als die soziale Anpassung. »Ob das auch bei einer größeren Stichprobe so sein wird, müssen wir noch sehen.«
An Ideen, was man mit den Sendern noch alles machen könnte, mangelt es jedenfalls nicht. Martin Wikelski, Professor am Max-Planck-Institut in Radolfzell, schwebt eine Art »Internet der Tiere« vor. Sein Traum: Seuchen oder Erdbeben frühzeitig erkennen – allein durch die Analyse tierischer Verhaltensmuster. Bekannt ist Wikelski mit diesen Ideen aus Talkshows und Interviews. Die vergangenen Jahre verbrachte er damit, eine Antenne auf der Internationalen Raumstation ISS zu installieren, das Icarus-System. Icarus steht als Abkürzung für »International Cooperation for Animal Research Using Space« und damit für einen weltweiten Zusammenschluss von Tierökologen, die Weltraumtechnologie für ihre Forschung einsetzen. Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden alle gemeinsamen wissenschaftlichen Programme eingestellt, auch die Tier-Antenne auf der Raumstation. Nun versuchen Wikelski und sein Team eigene Minisatelliten mit Space X ins All zu befördern.
Martin Schaefer in Ecuador ist zurückhaltender als Martin Wikelski, wenn es um den Nutzen des Trackings geht: »Die Relevanz vieler Anwendungen wird beschönigt. Die gewonnenen Erkenntnisse haben selten zu echten Durchbrüchen geführt«, meint er. Vor allem aber gebe es mittlerweile noch andere, weniger invasive und deutlich günstigere Methoden, um die Bewegung von Tieren zu verfolgen: Mikrofone und Kameras.
Digitalisierung der Tierwelt
Wo die Galapagosalbatrosse ihre Bahnen ziehen, lässt sich nämlich auch mit akustischen und statistischen Verfahren bestimmen. Die Plattform eBird der Cornell University im US-Bundesstaat New York nutzt Tonaufnahmen von Amateurforschern, um die Verbreitungsgebiete von Vögeln zu berechnen. Mit den Daten gefütterte statistische Modelle zeigen, wo sich die Albatrosse wahrscheinlich aufhalten und welche Flugrouten sie nehmen. Das lässt zwar keine Rückschlüsse auf individuelles Verhalten zu, dafür aber lernt man mehr über ganze Bestände.
»Akustische Systeme erlauben es, neue Forschungsfragen zu stellen und Daten in Maßstäben zu erheben, die vorher undenkbar waren«Stefan Kahl, Informatiker
»Akustische Systeme erlauben es, neue Forschungsfragen zu stellen und Daten in Maßstäben zu erheben, die vorher undenkbar waren«, sagt Stefan Kahl, der an der Technischen Universität Chemnitz und der Cornell University KI-Modelle entwickelt, die Vogelstimmen erkennen. Kahl gehört zu einer neuen Generation von Naturvermessern. Er kommt nicht aus der Biologie, sondern aus der Informatik. Mit BirdNET hat er eine App entwickelt, die die Stimmen von mehr als 3000 Vogelarten erkennt. Der Kontrast zur Satellitentechnologie und den Peilsendern, welche die Kosten eines solchen Projekts schnell ins Unermessliche steigen lassen, könnte größer kaum sein: BirdNET läuft auf dem Smartphone. Ein gutes Tonaufnahmegerät kostet weniger als 100 Euro. Mit etwas Programmierkenntnissen und einem Micro-Computer von Raspberry Pi lässt sich sogar recht schnell ein eigenes System bauen. Ob Hobby-Ornithologe, Betreuer von Naturschutzgebieten oder wissenschaftlich interessierter Laie: Jeder kann so zur Digitalisierung der Tierwelt beitragen.
»Wir versuchen, das jetzt auf große Maßstäbe hochzuskalieren«, sagt Kahl. Im Nationalpark Bayerischer Wald erkennt sein Team mithilfe von zwölf Mikrofonen die Brutplätze von Auerhühnern, um die entsprechenden Areale für Besucher zu sperren. In der Sierra Nevada in Kalifornien lauschen 2000 Geräte den Geräuschen entlang des 650 Kilometer langen Gebirgszugs. Und auch im brasilianischen Pantanal, einem der größten Feuchtgebiete der Erde, soll ein weitgehend unzugängliches Gebiet akustisch überwacht werden.
Ähnliche Entwicklungen gibt es bei Wildkameras. Im März 2025 veröffentlichte die Plattform Wildlabs zusammen mit Google das Programm SpeciesNet. Dabei handelt es sich um eine künstliche Intelligenz, die mit Kamerafallen gefilmte Wildtiere in 2000 verschiedene Kategorien unterteilen kann.
Für Karl-Heinz Frommolt, Leiter des Tierstimmenarchivs des Museums für Naturkunde in Berlin, ist die KI-gestützte Tierstimmenerkennung »ein echter Quantensprung«. Besonders beeindruckend sei, dass sie auch bei störenden Hintergrundgeräuschen funktioniere. »Aber es ist noch eine ganze Menge zu tun«, schränkt er ein. »Man kann der KI-basierten Mustererkennung derzeit noch nicht zu 100 Prozent vertrauen.« Es ergebe sich in der Regel eine lange Liste, mit welcher Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt welche Tierart entdeckt wurde. »Daraus ökologisch sinnvolle Schlüsse zu ziehen, ist noch eine Herausforderung.«
Viele Daten, keine Struktur
Doch so vielversprechend und faszinierend diese neuen Technologien auch sind, so schwierig ist die konkrete Umsetzung und vor allem die Datenauswertung vor Ort. Das zeigt sich etwa in Deutschland, das eigentlich zu den am besten vermessenen Ländern der Welt gehört. Während in den USA etwa die Cornell University Datenbanken aufgebaut und miteinander vernetzt hat, die es erlauben, Vogelzüge fast wie Wetterprognosen zu modellieren, fehlt in Deutschland eine zentrale Struktur. Zwar gibt es reichlich Datenmaterial, doch niemand führt es zu einem großen Ganzen zusammen.
»Wir haben hunderte Millionen Datenpunkte allein aus den vergangenen Jahren, aber das meiste davon liegt ungenutzt auf Festplatten herum«Stefan Kahl, Informatiker
»Es bräuchte Menschen aus verschiedenen Disziplinen, die ausreichend Forschungsmittel haben, um die Daten auszuwerten«, bemängelt Informatiker Kahl: »Wir haben hunderte Millionen Datenpunkte allein aus den vergangenen Jahren, aber das meiste davon liegt ungenutzt auf Festplatten herum.« International dagegen gibt es längst derartige Projekte, sei es eBird für Vögel, Global Forest Watch für Wälder oder neuerdings Blue Corridors für Wale.
Oft steht den Forschenden auch die deutsche Bürokratie im Weg. So werden etliche Umweltdaten zwar von Bundes- und Landeseinrichtungen erhoben, sind allerdings nicht frei zugänglich. Weitere Datenbanken bleiben aus anderen Gründen verschlossen. Hobby-Ornithologen etwa haben »Ornitho.de« aufgebaut, eine Datenbank zum vogelkundlichen Geschehen in Deutschland. Um zu verhindern, dass die Ergebnisse der Ehrenamtlichen etwa in Umweltgutachten einfließen und andere Leute Geld damit verdienen, ist die Datenbank nur für jene verfügbar, die sich mit eigenen Beobachtungen beteiligen.
Dabei wäre jetzt auch politisch der perfekte Zeitpunkt für die digitale Neuvermessung der Natur. Die Vereinten Nationen haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 rund 30 Prozent der weltweiten Landfläche unter Naturschutz zu stellen. Jeder Staat müsste also großes Interesse daran haben, zu wissen, wie sich seine Natur entwickelt. Durch den Klimawandel rücken vor allem die Wälder in den Fokus: Rund um den Globus werden erstmals detailliert die Baumbestände erfasst – und damit die Lebensräume zahlloser Tierarten. Die Daten fließen in Klimabilanzen ein. Neue Konzepte wie Biodiversity Credits sollen den Erfolg oder Misserfolg von Natur- und Tierschutzmaßnahmen messbar machen. Unternehmen könnten so gezielt in den Erhalt von Arten und Ökosystemen investieren. Dann sind künftig nicht mehr nur die abgelegenen Galapagosinseln echte Tierparadiese – sondern auch die Wälder, Feuchtgebiete und Gebirgszüge direkt vor unserer Haustür.
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