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Thailand: Digitaler Schutz vor dem Vergessen

In den Klöstern Nordthailands lagert ein umstrittenes Erbe: zigtausende Texte in Sprache und Schrift der Lanna. Nun wurden sie digital konserviert - auch dank deutscher Hilfe.
Manuskripte im Tempel Wat Pa Sak Noi

Im Wat Duang Dee, zu Deutsch etwa »Tempel des Glücks«, lassen sich Thais gerne selbst segnen, aber auch ihrem Hab und Gut, etwa dem neuen Moped, soll der Abstecher zum Tempel aus dem 16. Jahrhundert zugutekommen. Glück brachte er offenbar auch dem literarischen Erbe der alten Lanna-Kultur Nordthailands: Hier, in einer kleinen Kapelle im historischen Zentrum von Chiang Mai, lagern in dunkelrot-goldenen Truhen hunderte alte, auf Blättern der Lontarpalme geschriebene Manuskripte. Sie enthalten in der alten Schrift und Sprache der Lanna sowie auf Pali verfasste buddhistische Lehren, aber auch Gedichte, Gesetzestexte und Wissen über die Heilkunst.

Vorsichtig hebt Harald Hundius eine dieser Schriften aus einer Truhe. »Diese stammt aus dem Jahr 1786«, erklärt der emeritierte Professor von der Universität Passau, der sich seit über 40 Jahren der Erforschung und dem Erhalt der alten Lanna-Schriften widmet. Der 79 Jahre alte Leiter des Projekts »Digital Library of Northern Thai Manuscripts« (DLNTM) zieht eine Schrift, die auf den ersten Blick wie ein braunes Holzscheit anmutet, wie eine Jalousie auseinander. »Das ist ein achtbändiges Werk. Jeder Band besteht aus 16 beidseitig beschriebenen Blättern«, erklärt Hundius der kleinen Schar Zuhörer, zu der neben thailändischen Journalisten auch Deutschlands Botschafter in Thailand Peter Prügel zählt.

Literatur in nordthailändischer Lanna-Schrift | Die ältesten Manuskripte sind auf Blättern der Lontarpalme festgehalten und zu Bündeln verschnürt. Als Schreibmaterial dienten aber auch Papier und Seide sowie in der Neuzeit Notizbücher.

In Hunderten von Tempeln in den acht Provinzen Nordthailands und dem angrenzenden Myanmar ruhen Zigtausende solcher bis zu 500 Jahre alten Schriften, in diversen Regionalsprachen abgefasst. Tausende davon wurden in den letzten Jahrzehnten gesichert – dem jeweiligen wissenschaftlich-technischen Knowhow und Finanzrahmen entsprechend zunächst auf Mikrofilm, später auch digital. Für das DLNTM-Projekt steuerte das Außenministerium in Berlin zuletzt 352 000 Euro bei. Seit 1987 sind es sogar insgesamt 850 000 Euro, die das Außenministerium im Rahmen des Kulturerhaltungsprogramms in die Sicherung des literarischen Erbes des alten Lanna-Reiches steckte. Auch US-amerikanische Stiftungen sowie Universitäten im In-und Ausland beteiligten sich an der Finanzierung.

Vom Jahr 2013 an und bis in den März 2018 wurden so etwa 1500 Palmblattbücher auf rund 64 000 digitale Fotos gebannt. Zur Kamera griffen auch die Einheimischen: »Wir haben den Mönchen und Dörflern die Benutzung von Digitalkameras und die Übertragung der Bilder auf Computer beigebracht«, erzählt der Technische Direktor des DLNTM-Projekts David Wharton.

Lanna-Sprache steht vor dem Verschwinden

In den meisten Tempeln verrotten die historischen Manuskripte in tropischer Schwüle, fallen Termiten zum Opfer, sind Regen ausgesetzt, werden unter der Hand an Antiquitätenjäger verhökert oder für wundertätige Amulette zermahlen. »Man sollte meinen, Schriften mit den Lehren Buddhas würden die Leute mit Respekt behandeln, statt sie zerfleddert und dreckig rumliegen zu lassen«, seufzt Wharton verwundert. »Oft haben die Mönche uns gesagt, sie könnten die Lanna-Schrift nicht lesen.« Wharton kennt den Grund dafür: »Seit 1916 darf die buddhistische Literatur nur noch in zentralthailändischer Sprache abgefasst werden. Dadurch ist die Lanna-Sprache weitgehend verschwunden.«

Fortschrittliche Kräfte ersetzten 1932 zunächst die absolute Monarchie im Königreich Siam durch eine konstitutionelle Monarchie. Die Restauration folgte auf dem Fuße und mit ihr eine »Thaiisierungspolitik«, die den Nationalismus förderte. Aus Siam wurde Thailand, das »Land der Freien«, in dem alle Ethnien zu »Thais« wurden.

In der westlichen Schreibweise des Landesnamens spielt das »h« dabei eine entscheidende Rolle. Vermutlich um das 11. Jahrhundert herum wanderten Tai-Völker – ihr Name schreibt sich ohne »h« – aus China nach Süden, besiedelten die Gebiete des heutigen Thailands und Laos sowie von Teilen Birmas, Chinas, Vietnams und Assams. Sie gründeten Städte und Königreiche. Die Tai-Völker waren Theravada-Buddhisten, hatten verwandte Sprachen und eine ähnliche Kultur.

Bei der Digitalisierung | Die fotografische Erfassung übernahmen auch Einheimische und Mönche, so wie hier im Tempel Wat Chedi Luang in Chiang Mai.

Im Norden des heutigen Thailands entstand etwa im 13. Jahrhundert das Königreich Lanna, zu dessen Einflussbereich auf dem Höhepunkt seiner Blüte auch Teile der chinesischen Provinz Yunnan, der Nordosten Birmas und Laos gehörten. Dann ging es mit Lanna bergab, das Königreich wurde zu einem Vasallenstaat von Siam, bis es Ende des 19. Jahrhunderts in den siamesischen Zentralstaat integriert wurde. Lanna hatte eine eigene Sprache und Schrift, und die Bevölkerung wurde bis ins 19. Jahrhundert als eigene Ethnie, wahlweise als Yuan oder als Lao, angesehen.

Jenseits der Grenze

Doch mit der kulturellen Selbstbestimmung schwand auch das Bewusstsein um das eigene Erbe. Die Manuskripte in den Klöstern des nördlichen Thailands fielen der Vergessenheit anheim. »Es machte sich ein Desinteresse an den alten Schriften breit«, sagt Wharton. Wenn eines der diversen Tai-Völker auf die eigene Sprache und die eigene Kultur beharrte, konnte dies zudem leicht von den Siamesen als Akt des Widerstands aufgefasst werden. Damit waren Lanna-Schrift und -Sprache politisch keineswegs unbedenklich.

Einen völlig entgegensetzten Umgang mit der eigenen Kultur, Sprache und Literatur beobachtet Wharton im Shan-Staat, einer Region, die unmittelbar an Nordthailand grenzt und heute zu Myanmar, dem alten Birma, gehört. Auch die Shan sind ein Tai-Volk. Tausende buddhistische Shan, so Wharton, könnten die alte Palmblattliteratur noch lesen. Anders als in Thailand seien es die Äbte der buddhistischen Klöster, die als Hüter der Schriften und der Sprache eine zentrale Rolle spielten. »Jedes Jahr im Dezember veranstalten die Shan eine große Konferenz zu diesen alten Schriften. Ich durfte 2017 dabei sein und war einer von 2381 Teilnehmern.«

Mehr als ein Drittel der digitalisierten Schriften sind in den letzten 30 Jahren verschwunden

Die Bewahrung von Schrift und Sprache ist im Shan-Staat hochpolitisch. Das sagt Wharton aber nicht und wenn, dann höchstens durch ganz viele Blumen. Ob in Thailand oder Myanmar – als Wissenschaftler hält man sich besser aus der Politik raus. Myanmar ist ein seit über 60 Jahren von ethnischen Konflikten gebeuteltes Land. Völker wie die Shan und die Kachin kämpfen mit hochgerüsteten Armeen gegen die Dominanz der Birmanen und für eine Autonomie. Die Bewahrung der alten Schriften, die Weitergabe der alten Sprache, ihrer Kultur sind für die Shan ein Mittel, sich als eigenes Volk zu behaupten, Widerstand gegen die »Birmanisierung« zu leisten.

Digitalisierung konserviert die Palmblattschriften

Was Hundius, Wharton und ihre Mitarbeiter digitalisiert haben, steht nun zum weiteren Studium in einer digitalen Bibliothek zur Verfügung, auf einem Server in Berlin. Eingebunden ist auch die Universität von Chiang Mai. »Wir übersetzen vieler dieser alten Schriften, damit möglichst viele sie lesen können«, sagt Phisil Kotsuph von der Universität Chiang Mai.

Mehr als 65 Millionen Euro hat sich das Bundesaußenministerium die Kulturdiplomatie seit 1981 kosten lassen. Und dazu gehöre eben nicht nur der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und den anderen Ländern, sondern auch der Kulturerhalt in den Gastländern, sagt Botschafter Peter Prügel. Zur Feier des erfolgreichen Projektabschlusses tafeln nun auf Einladung seiner Botschaft die Projektwissenschaftler und -mitarbeiter in einem schicken Restaurant in Chiang Mai mit hier lebenden deutschen Geschäftsleuten und Akademikern. »Kulturelle Werte sind das Fundament der Identität und der Selbstachtung von Menschen, ihrer Selbstwahrnehmung und der Wertschätzung ihrer Heimat«, sagt Prügel.

Doch kulturelle Unterschiede zu akzeptieren, ist nicht immer selbstverständlich, wie sich in vielen Ländern in Form gewaltsamer Unterdrückung von Minderheiten zeigt. Kulturförderung und -erhalt wird in solchen Fällen schnell zu einem diplomatischen Balanceakt. »Man muss dann sehr genau schauen, wie und wo man ansetzt«, sagt Prügel. »Trotzdem bleibt das richtig. Das sieht man auch gerade heute, wo Kulturkampf oft ein Teil kriegerischer Auseinandersetzungen ist. Wir sind in den letzten Jahren in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten gerade mit unseren Kulturerhaltprojekten ganz konkret eingeschritten, um unmittelbar von der Zerstörung bedrohte Kultur zu retten.«

Wie es weitergeht, ist offen

In Thailand unterstützt Deutschland seit 37 Jahren Kulturerhaltprojekte wie die Restaurierung der Tempel Suthat in Bangkok und Ratchaburana in Ayutthaya. Prügel räumt ein, dass das Verhältnis von Deutschland und der EU zu Thailand seit dem Militärputsch von 2014 »schwierig« ist. Aber andererseits sei die Beziehung zwischen Thailand und Deutschland über 150 Jahre alt. »Unabhängig vom Politischen haben wir in der Wirtschaft, aber vor allen Dingen im kulturellen Bereich als auch von Mensch zu Mensch über Jahrzehnte gewachsene Beziehungen. Die überstehen auch politische Schwierigkeiten.«

Politisch bedenklich | Ein Beharren auf einer eigenen Kultur in Form von Schrift und Sprache kann im zentralistischen Thailand brisant sein. Darstellung auf einer Truhe zur Aufbewahrung von Lanna-Schriften.

Wie es mit den alten Schriften in den Klöstern weitergehen wird, ist offen. David Wharton schätzt, dass zwischen 30 und 50 Prozent der gesichteten, abgefilmten und jetzt digitalisierten Schriften in den letzten 30 Jahren verschwunden sind. »Wer ist für die Bewahrung dieser alten Schriften verantwortlich? Die Mönche? Die Äbte? Die Universität?«, fragt Wharton. Eine konkrete Antwort gibt der Wissenschaftler nicht. Er sagt nur: »Einer alleine kann diese Aufgabe nicht bewältigen.«

In der Klosterbibliothek des Wat Duang Dee in Chiang Mai werden die uralten Weisheiten immerhin sorgsam aufbewahrt, auch wenn der Mönch Sa-Ngob gesteht, dass er selbst die Schriften kaum lesen kann. »Ich finde es aber gut, dass sie digitalisiert werden«, sagt der 39 Jahre alte Assistent des Abts mit einem abgeklärten Lächeln. »So werden sie endlich wieder zugänglich.«

Kleine Fortschritte bei der Wiedererweckung der alten Lanna-Schrift entdeckt der aufmerksame Beobachter jetzt schon an einigen Tempeln Chiang Mais: »Durch das Lanna-Projekt stehen die Namen der Klöster jetzt wieder in kleinen Lettern auf Nordthai unter dem thailändischen Namen«, freut sich Harald Hundius. »Das ist eine kleine Renaissance.«

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