Extrem altes Erbgut: DNA aus der Neandertaler-Frühzeit
Die Funde aus der Sima de los Huesos, der "Kochenhöhle", im spanischen Atapuerca-Gebirge geben einen einzigartigen Einblick in die Welt einer Menschenart, die einige Forscher als Homo heidelbergensis bezeichnen. Mit einem Alter von über 400 000 Jahren stammen sie noch aus einer Zeit, bevor der klassische Neandertaler Westeuropa bevölkerte.
Aus vier Knochen- und Zahnfragmenten der Sima-de-los-Huesos-Bewohner haben Forscher um Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig nun Erbgut gewonnen und analysiert. Bereits 2013 hatten sie sich Fundstücke aus der spanischen Höhle vorgenommen und dabei die (leichter zu isolierende) DNA der darin enthaltenen Mitochondrien extrahiert. Schon damals bewegten sie sich an der Grenze des Machbaren. Nun jedoch gewannen sie sogar Bruchstücke der so genannten Kern-DNA aus dem Zellkern – eine außergewöhnliche technische Leistung, die zuvor von vielen Fachkollegen für praktisch unmöglich gehalten wurde.
Von ihren Ergebnissen berichteten sie am 10. September 2015 auf der 5. Jahrestagung der "European Society for the study of Human Evolution" in London (Abstract, S. 162), das Magazin "Science" fasst die Ergebnisse zusammen.
Die Kern-DNA ist wesentlich besser dazu geeignet, Aussagen über Artverwandtschaften zu treffen, als die so genannte mtDNA der Mitochondrien, die im Fall der spanischen Fossilien 2013 für eine Überraschung gesorgt hatte: Laut der mtDNA waren die Sima-de-los-Huesos-Bewohner eng mit den ominösen Denisova-Menschen aus Sibirien verwandt; ihre Anatomie hatte dagegen nahegelegt, dass sie Vorfahren der späteren Neandertaler waren. Dieses Rätsel scheint sich nun dank der neuen Analyse in Wohlgefallen aufzulösen: Soweit sich die Bruchstücke der Kern-DNA interpretieren ließen, sprächen sie eindeutig dafür, dass die Sima-de-los-Huesos-Gruppe evolutionär in einer Abstammungslinie mit den Neandertalern steht, so die Wissenschaftler.
Klare(re) Verhältnisse
Dass Meyer und Team im Jahr 2013 bei ihnen auf unerwartete Denisova-mtDNA stießen, lässt sich am ehesten mit einer Vermischung beider Gruppen erklären, wie sie für Neandertaler, moderne Menschen und Denisova bereits belegt ist. Da jeder Mensch die mtDNA praktisch unverändert von seiner Mutter übernimmt, bleiben solche Einsprengsel über die Generationen hinweg stabiler erhalten als jene in der Kern-DNA. Dadurch könnte den Wissenschaftlern eine engere Verwandtschaft zu den Denisova-Menschen vorgetäuscht worden sein.
Die Ergebnisse lassen außerdem den Schluss zu, dass sich die Entwicklungslinien von modernen Menschen und Neandertalern früher voneinander abspalteten, als manche Forscher dachten. Je nachdem, welche Mutationsrate man zu Grunde lege, könne diese Trennung schon vor 550 000 bis 765 000 Jahren stattgefunden haben, zitiert "Science" den Erstautor Matthias Meyer. Das sind bis zu 400 000 Jahre früher, als Erbgutanalysen nahegelegt hatten. Sollten sich diese Ergebnisse bestätigen, hieße das, dass die beiden Populationen länger als vermutet voneinander isoliert waren.
Einige Szenarien über den Ursprung und die evolutionäre Geschichte unserer eigenen Art müssen infolge dieser Ergebnisse wohl erneut überdacht werden. So verträgt sich die lange Isolation etwa nicht sonderlich gut mit einer vor allem von Chris Stringer vom Natural History Museum in London vertretenen Theorie, der zufolge sich Neandertaler und moderner Mensch aus einer großen, in Europa und Afrika beheimateten Homo-heidelbergensis-Population entwickelt haben sollen.
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