Homo sapiens in Europa: Ein Häuflein Unerschrockener
Manchmal muss man einfach Glück haben. So wie das Team um Kay Prüfer und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig. Wer konnte schon ahnen, dass die Steinzeitfrau aus der Zlatý-kůň-Höhle in Tschechien eine Verwandte der Toten aus der Ilsenhöhle im heutigen Thüringen war? Immerhin liegen 230 Kilometer zwischen den beiden Fundorten.
Doch das Erbgut aus den Knochen lieferte ein eindeutiges Ergebnis. Zugegeben: Die Verwandtschaft bestand vermutlich über etliche Ecken, bis zu sechs Generationen oder rund 150 Jahre könnten zwischen beiden gelegen haben. Doch rein rechnerisch ist ebenso gut möglich, dass beide denselben Urgroßvater oder dieselbe Urgroßmutter hatten. Dann hätten sie ungefähr zur gleichen Zeit gelebt.
Ob 150 Jahre oder weniger, beides ist nur ein Wimpernschlag angesichts des Zeitraums, der uns heute von den beiden trennt: etwa 45 000 Jahre. Es sind die Überreste der Menschen, die das erste Kapitel in der Geschichte von Homo sapiens in Europa schrieben.
Oder genauer noch: das Vorwort dazu. Denn richtig Fuß fassen konnte der moderne Mensch erst später. Die Bewohner der Ilsenhöhle und von Zlatý kůň mögen miteinander verwandt gewesen sein – mit den heutigen Deutschen, Tschechen oder sonst einem lebenden Homo sapiens verbinden sie keine Blutsbande mehr. Ihre Nachfahren starben entweder aus, ausgelöscht vielleicht von einer harschen Umwelt, oder sie wurden im Genpool der Europäer bis zur Unkenntlichkeit verdünnt. Vor vielleicht 40 000 Jahren hatten sich die genetischen Spuren dieser Gruppen in Europa verloren.
Früheste Epoche des modernen Menschen in Mitteleuropa
Auf die Spur der steinzeitlichen Bewohnerinnen und Bewohner der Ilsenhöhle unterhalb der Burg Ranis in Thüringen war das EVA-Team schon früher gekommen. Bei Grabungen und in Museumsbeständen hatten die Fachleute ein Dutzend Knochenfragmente gefunden. Allerdings waren die Stücke zu fragmentiert, um mit anatomischen Methoden zu ermitteln, zu welcher Menschenform die Gebeine gehört hatten. Daher untersuchten die Forscher zunächst die in den Knochen vorhandenen Proteine. Das Ergebnis erschien Anfang 2024 in drei Studien in »Nature« und »Nature Ecology & Evolution«: Einige Knochensplitter waren sicher menschlich, aber ob sie von einem Homo sapiens oder einem Neandertaler stammten, blieb unklar.
Daher werteten die Genetiker die mitochondriale DNA aus. Sie liegt in einer Probe sehr viel häufiger vor als Genschnipsel aus dem Zellkern, aussagekräftige Treffer sind damit wahrscheinlicher. Und in der Tat bestätigte die Genanalyse: Die Knochen stammen von modernen Menschen.
Die Erkenntnis lieferte die Antwort auf ein lang ungelöstes Rätsel. Denn in der Ilsenhöhle wurden auch Steinklingen gefunden. Deren Machart kam den Wissenschaftlern bekannt vor. Sie waren auf beiden Seiten fein bearbeitet und wurden einst wohl als Speerspitzen verwendet. Man kennt diese Werkzeugkultur von anderswo. In einem großen Gebiet vom Süden des heutigen Polen über Thüringen und Belgien bis in den Süden von England findet sie sich. Ihr Name verrät die weit reichende Verbreitung: »Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Technik«, LRJ im Fachjargon. Der Bestandteil »Ranisian« bezieht sich auf die Burg Ranis mit der darunter gelegenen Ilsenhöhle in Thüringen.
Lange war unklar, ob die Urheber jener Spitzen nun Neandertaler oder moderne Menschen waren. Nach der Analyse der mitochondrialen DNA gab es keine Zweifel mehr – Homo sapiens hatte sie gefertigt. Dennoch waren noch viele Fragen offen. Welchen Platz nahmen diese Erstankömmlinge im Stammbaum des Menschen ein, mit wem waren sie verwandt und hatten sie sich bei ihrer Ankunft in Mitteleuropa mit Neandertalern vermischt? In solchen Situationen richten sich die Blicke auf Paläogenetiker wie Kay Prüfer, deren Erbgutanalysen im besten Fall verraten, was die Funde bisher nicht preisgaben.
Erbgut aus dem Zellkern
In der Tat gelang es dem EVA-Forscher und seinem Team, den Knochen weitere Geheimnisse zu entlocken: Von sechs Individuen aus der Ilsenhöhle, darunter eine Mutter und ihre Tochter, erhielten sie gute Erbgutdaten aus dem Zellkern, von einem sogar sehr gute. Vergleichbar hohe Qualität ergab auch die Probe aus dem Schädel von Zlatý kůň. Zusammen stellen sie den bislang genauesten DNA-Datenschatz moderner Menschen dieses Alters dar, schreibt das Team in seiner neuen Publikation im Fachblatt »Nature«.
Da die LRJ-Steinwerkzeuge den modernen Menschen zugeordnet waren, hat diese Kultur ein Gesicht bekommen – und das im wahrsten Sinn des Wortes, denn die Gendaten liefern sogar Anhaltspunkte über das Aussehen der Menschen. Bei modernen Menschen rufen die dort gefundenen Erbanlagen braune Augen und eine dunkle Haut hervor. Bei den Mitteleuropäern der Steinzeit dürfte es nicht anders gewesen sein.
»Das passt hervorragend dazu, dass die Vorfahren dieser Gruppe vor nicht allzu langer Zeit aus Afrika in den Rest der Welt gekommen waren«, meint Prüfer. Tatsächlich sitzen sie im Stammbaum des Homo sapiens sogar auf dem ältesten bekannten »europäischen« Zweig der Out-of-Africa-Gruppe.
Pioniere in einem unwirtlichen Land
Als eine Art Völkerwanderung darf man sich dieses Vordringen wohl nicht vorstellen. Zeigen die Erbgutanalysen doch klar, dass die Ranis-Leute aus der Ilsenhöhle und Zlatý kůň zu einer Gruppe gehörten, der niemals viel mehr als 200 oder 300 Personen zugleich angehörten.
Bei ihren Wanderungen nach Mitteleuropa hatten sie wahrscheinlich gar kein festes Ziel, vermutet der Paläogenetiker Leonardo Vallini von der Universität Mainz, der an der aktuellen Studie nicht beteiligt war: »Sie schauten einfach, ob es sich hinter dem nächsten Hügel besser leben ließ als in ihrer bisherigen Heimat.«
Zu Lebzeiten der Ranis-Gruppe lag die große Zeitenwende – die eiszeitliche Vergletscherung halb Europas – noch in weiter Zukunft. Das Maximum der letzten Eiszeit datieren Fachleute auf eine Zeit gut 20 000 Jahre später. Dennoch war das Klima rau. Auf jeden Fall, wenn man es mit dem Nahen Osten vergleicht, den die Ahnen der Ranis-Leute auf ihrer Wanderung aus Afrika heraus als Erstes bevölkert hatten. Hier, weiter im Norden, »brauchte es vielleicht einige Anläufe, bis es eine Gruppe schaffte, sich an diesen harschen Lebensraum anzupassen«, überlegt Vallini.
Von solchen letztlich glücklosen Vorstößen berichten ebenso andere Erbgutproben. Wissenschaftler haben sie aus Funden im heutigen Bulgarien, Rumänien und dem Westen Sibiriens entnommen. Auch eigenständige Werkzeugkulturen, die auftauchen und dann wieder verschwinden, komplettieren dieses Bild eines fast unbesiedelten Kontinents, der sich ein ums andere Mal als zu ungastlich erwies.
Einer jedoch hatte sich hier seit Hunderttausenden von Jahren gut eingerichtet: der Neandertaler beziehungsweise sein weiter östlich lebender Cousin, der Denisovaner.
Der Neandertaler war nur noch ein Phantom
Ob die Ranis-Leute allerdings überhaupt je einen dieser Zeitgenossen zu Gesicht bekamen, ist ungewiss. Sicher ist, dass sie sich nicht mit ihnen vermischten: Die Neandertaler-Gene, die sie in ihrem Erbgut trugen, sind alt. Sie stammten allesamt aus einer bereits damals weit zurückliegenden Vergangenheit.
Wie weit zurückliegend, das hat sich ein Forscherteam in einer weiteren aktuellen Veröffentlichung angesehen. Kay Prüfers Leipziger Institutskollege Ben Peters und sein Team wirkten daran zusammen mit einer Gruppe der University of California in Berkeley mit. Die Ergebnisse erschienen im Fachblatt »Science«.
»Die Länge dieser im Erbgut eingestreuten Segmente wird mit der Zeit kürzer«, erklärt Kay Prüfer. Lange Fragmente findet man also bei Menschen, deren Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit Sex mit Neandertalern gehabt hatten. Kurze Fragmente bei jenen, die lange nach diesem Vermischungsereignis lebten. Bei uns heutigen Menschen beispielsweise sind diese Einsprengsel extrem kurz geworden, wenn auch nicht komplett verschwunden: Alle Menschen, deren Vorfahren nicht aus Afrika stammen, haben noch immer rund ein bis zwei und manchmal sogar bis zu drei Prozent Neandertaler-Gene in ihrem Erbgut.
Die Länge der übernommenen Abschnitte lässt sich darum wie eine Uhr nutzen, die den Zeitraum der Vermischung anzeigt. Für die Ranis-Leute aus der Ilsenhöhle und Zlatý kůň war es bereits rund 80 Generationen her. In den Jahren danach scheinen sich ihre Vorfahren und die Neandertaler nicht mehr näher gekommen zu sein, zumindest nicht auf intime Weise.
Den Mainzer Forscher Vallini überrascht das. Bei anderen europäischen Pioniergruppen dieser Epoche war das durchaus anders. Sie tragen die Spuren eines zweiten Vermischungsereignisses, das bei den Ranis-Leuten fehlt. »Vielleicht lebten die Neandertaler damals gar nicht mehr in dieser recht unwirtlichen Gegend der Ranis-Menschen«, sagt der Genetiker.
7000 Jahre Vermischung
Und noch ein weiteres unerwartetes Resultat ergab die neue »Science«-Studie: »Wir wollten herausfinden, wann diese Vermischungen stattfanden und wie lange sie dauerten«, erklärt der Erstautor der Studie Leonardo Iasi vom Leipziger EVA. Dazu analysierte die Gruppe auch noch die DNA von 59 Individuen, die vor 45 000 bis vor 2200 Jahren starben, sowie von 275 heute lebenden Menschen. »Dabei haben wir untersucht, wie sich die Häufigkeit, Länge und Verteilung der Neandertaler-Einsprengsel im Laufe der Jahrtausende verändert haben.«
Erstes Ergebnis: Die Vermischung der beiden Menschengruppen war kein punktuelles Ereignis, sondern zog sich über einen Zeitraum von 7000 Jahren hin. Der Genfluss, der vor 50 500 Jahren begann, entsprang dabei einer einzigen oder vielleicht auch mehreren, allerdings eng miteinander verwandten Neandertaler-Gruppen.
»Vielleicht trafen die modernen Menschen nur selten auf Neandertaler-Gruppen, deren Population damals schon recht klein war«, überlegt Vallini. Wo genau die beiden Menschengruppen aufeinandertrafen, bleibt erst einmal unbekannt. Gut möglich, dass das im Mittleren Osten geschah, erklärt der Mainzer Paläogenetiker. Dort überlappten sich die Verbreitungsgebiete der soeben aus Afrika ausgewanderten modernen Menschen und der Neandertaler, die hier untypisch weit in den Süden vorgestoßen waren.
Zweites Ergebnis: Nicht alle Neandertaler-Gene waren gleichermaßen gut für den modernen Menschen oder auch nur unproblematisch. Das zeigt der Umstand, dass einige Bereiche des Erbguts binnen weniger Generationen von fremden Einsprengseln regelrecht leergefegt wurden.
Bereits jene allerersten Europäerinnen und Europäer der Ranis-Gruppe wanderten ohne diesen genetischen Ballast ein. Ihr X-Chromosom ist schon sehr früh weitgehend frei von Neandertaler-Erbgut. Welche Probleme die ausselektierten DNA-Abschnitte verursacht hatten, ist unbekannt. Doch das Genmaterial der alteingesessenen Neandertaler brachte auch einige Vorteile. Varianten etwa, die mit der Immunfunktion, der Hautpigmentierung und dem Stoffwechsel zusammenhängen, könnten den Wanderern ein wenig bessere Voraussetzungen für ihren Neuanfang mitgegeben haben.
Dauerhaft geholfen hat es anscheinend nicht. Am Ende waren es andere, die den Homo sapiens in Europa und der Welt etablierten. Die Bewohner der Ilsenhöhle und von Zlatý kůň waren da schon lange Geschichte. Wie lange sie sich hielten? »Ob einige hundert oder sogar wenige tausend Jahre, das weiß man leider noch nicht«, sagt Vallini. Vielleicht wird eines Tages der Fund eines weiteren Familienmitglieds mehr darüber verraten.
Anmerkung der Redaktion am 3. Januar 2025: Zuvor hieß es in diesem Artikel, dass unbekannt war, ob die Knochen aus der Ilsenhöhle zu Neandertalern oder anatomisch modernen Menschen gehörten. Das war nicht korrekt, da eine Studie von Anfang 2024 bereits bestätigt hatte, dass es sich um Überreste von Homo sapiens handelte. Wir haben diese Stelle korrigiert.
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