Belohnungssystem: Der Dopamin-Mythos

Kann man eine toxische Affäre mit einem Botenstoff im Gehirn haben? In ihrem Song »Dopamine« schmachtet die Sängerin Madelline das Hormon an wie einen gefährlichen Verführer, von dem sie nicht loskommt: »Du bist alles, was ich will, aber nichts, was ich brauche«, singt sie auf Englisch. Der Stoff würde sie bis drei Uhr nachts wachhalten und mehr anmachen, als es alle ihre Ex-Liebhaber je getan haben. Auch sonst zieht Dopamin derzeit viele Menschen in den Bann – selbst jene, die mit Hirnforschung wenig am Hut haben. Längst ist der Begriff in die Alltagssprache eingegangen: Wer beim Tanzen gute Laune bekommt, freut sich über eine »Dopamindusche«. Nach einem durchfeierten Wochenende muss man seine »Rezeptoren wieder auffüllen«. Im Netz kursieren Warnungen vor einer »Dopaminsucht«: Social Media, Pornos, Videospiele und deftige Snacks würden für schnelle Kicks sorgen – und einen so träge und lustlos machen.
Dopamin-Detox fürs Gehirn?
Abhilfe verspricht ein »Dopamin-Detox«. Bei dieser Fastenkur soll man eine Auszeit von allen Vergnügungen nehmen. »Der Sinn der Sache ist, so wenig Spaß wie möglich zu haben«, erklärt ein millionenfach geklicktes Video des Youtube-Kanals ImprovementPill. Sprich: Waldbaden und Yoga statt Pizza und Netflix. In extremen Varianten sind sogar Bücher und Plaudereien mit Freunden verboten. Das programmiert angeblich das Hirn um – und soll so für gesunden Schlaf und gesteigerte Produktivität sorgen. Um den Hype ist inzwischen ein Markt entstanden: Das Thema füllt die Kanäle von Wellness-Influencern. Ratgeber verheißen die ideale Dopamindiät. Auf Instagram präsentieren User stolz ihre Tattoos mit der chemischen Strukturformel. Onlinedrogerien verkaufen Vitaminkapseln als »Dopamin-Booster«. Mal soll der Spiegel sinken, mal steigen: Dass das nicht zusammenpasst, dürfte den Verkaufszahlen keinen Abbruch tun. Doch wie kam Dopamin überhaupt zu seinem zwiespältigen Image? Was steckt hinter der Panik um die Hormonkicks? Und wie blickt die Forschung auf die Substanz?
»Nicht das Mögen, sondern das Wollen beruht auf Dopamin«Lieneke Janssen, Neurowissenschaftlerin
Vom Mauerblümchen zum Superstar
Wer sich durch die wissenschaftliche Literatur wühlt, merkt schnell: Viele der Gerüchte um Dopamin sind blanker Unfug. Dennoch hat der Botenstoff allerhand zu bieten. Springen wir ein gutes Jahrhundert in der Geschichte zurück. Im Jahr 1910 entdeckt, hielt man das Molekül für eine bloße Vorstufe des Hormons Noradrenalin – und ließ es links liegen; vier Jahrzehnte lang. Das änderte sich in den 1950er Jahren, als der schwedische Pharmakologe Arvid Carlsson etwas Faszinierendes beobachtete: Seine Laborkaninchen konnten sich nicht mehr bewegen, nachdem er ihren Dopaminfluss chemisch blockiert hatte. Erst als sie den Stoff L-Dopa gespritzt bekamen (einen chemischen Vorläufer von Dopamin), ließ die Lähmung nach. Carlsson hatte einen neuen Neurotransmitter entdeckt. Dieser Durchbruch brachte ihm und seinen Kollegen im Jahr 2000 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ein.
Kurz erklärt:
Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die Reize von einer Nervenzelle zu einer anderen Zelle weitergeben, verstärken oder abändern. So steuern sie den Informationsfluss im Nervensystem.
Für Menschen hat ein Dopaminmangel ähnliche Folgen: Bei der Parkinsonkrankheit kommt es zu degenerativen Prozessen im Gehirn. Vor allem sterben Dopamin produzierende Zellen in einem Teil des Mittelhirns ab, in der Substantia nigra. Daraufhin sinkt der Dopaminspiegel. Den Betroffenen fällt das Laufen zunehmend schwer. Auffällig sind vor allem ihre gekrümmte Körperhaltung und ihr Muskelzittern. Die Beschwerden lassen sich mit L-Dopa lindern – bis heute ein wichtiges Medikament gegen Parkinson.
Das frühere Mauerblümchen Dopamin wurde allmählich zum Superstar – mit vielseitigen Talenten. Es ist nicht nur für die Motorik wichtig, sondern auch für das Belohnungslernen: In einem berühmten Versuch aus dem Jahr 1954 implantierte der Psychologe James Olds zusammen mit seinem Kollegen Peter Milner winzige Elektroden in das Hirn von Ratten. Drückten die Nager einen kleinen Hebel, konnten sie die sogenannte Septumregion ihres eigenen Gehirns durch einen schwachen Stromstoß stimulieren. Das zog die Tiere derart in den Bann, dass sie den Hebel teils hunderte Male pro Stunde betätigten. Ein Vierteljahrhundert später schlussfolgerte der Neurobiologe Roy Wise, dass dopaminerge Zellen im Gehirn für diesen Effekt verantwortlich waren. So festigte sich der Ruf vom Dopamin als »Glückshormon«, das für wohlige Gefühle sorgen soll.
Wollen geht auch ohne Mögen
Je mehr Dopamin, desto mehr Genuss? Bald kamen Zweifel an dieser Formel auf. Zerstört man bei Ratten die Dopaminzellen im nigrostriatalen und mesolimbischen System, reagieren sie auf Süßes trotzdem erfreut. Auch Menschen mit Parkinson können trotz ihres niedrigen Spiegels Freude empfinden. Umgekehrt sorgen Arzneien, die den Dopaminspiegel erhöhen, bei diesen Patienten nicht gleich für Anfälle guter Laune. Dafür haben die Tabletten in hoher Dosis eine andere Nebenwirkung, nämlich impulsives Verhalten: Die Betroffenen gehen auf ausgedehnte Shoppingtouren, verlieren sich in obsessiven Hobbys oder verhalten sich sexuell unangemessen. Diese und ähnliche Befunde brachten Forscher zum Umdenken.
»Dopamin ist wichtig für die Motivation. Es beeinflusst, wie sehr wir uns anstrengen, um etwas zu erreichen«Lieneke Janssen, Neurowissenschaftlerin
Auch Roy Wise glaubt nicht mehr an seine frühere These. »Inzwischen wissen wir: Nicht das Mögen, sondern das Wollen beruht auf Dopamin«, erklärt die Neurowissenschaftlerin Lieneke Janssen, die an der Universität Magdeburg und am Leipziger Max-Planck-Institut zu Dopamin forscht. Sie sieht diesen Kurswechsel als gelungenes Beispiel für Selbstkorrektur in der Wissenschaft. »Dopamin ist wichtig für die Motivation. Es beeinflusst, wie sehr wir uns anstrengen, um etwas zu erreichen«, so Janssen. Das Gehirn verarbeitet Antrieb und Freude getrennt – auch, wenn beides gern miteinander verwechselt wird. Doch Wollen geht auch ohne Mögen. Das zeigt sich gut beim Essen: Die halbe Tüte Nachos vom Vortag leert sich auf dem Sofa selbst dann, wenn die Tortilla-Chips nur noch fad und labbrig schmecken.
Das Gehirn verarbeitet Antrieb und Freude getrennt. Die halbe Tüte Nachos vom Vortag leert sich auf dem Sofa selbst dann, wenn die Tortilla-Chips nur noch fad und labbrig schmecken
Ein extremes Beispiel sind aufputschende Drogen wie etwa Amphetamin, das auch Speed oder Pep genannt wird. Anfangs lösen sie Euphorie aus. Später kann das in Rastlosigkeit und Getriebenheit umschlagen. So mancher Nutzer ist auch dann noch auf Achse, wenn es längst keinen Spaß mehr macht. In den 1990er Jahren gelang erstmals der Beweis, dass Dopamin hinter der stimulierenden Wirkung dieser Drogen steckt. Dafür nutzten Fachleute neue Verfahren wie die Positronenemissionstomografie (kurz PET). Über schwach radioaktive Markierungsmittel lassen sich damit Stoffwechselprozesse auf dem Bildschirm sichtbar machen. In der Folge kam es zu einer regelrechten Flut neuer Studien. Man verstand das Zusammenspiel von Sucht und Dopamin immer besser: Kokainsüchtige besitzen etwa weniger Rezeptoren (Andockstellen) für Dopamin im Striatum, einem Kerngebiet im Inneren des Gehirns. Außerdem schüttet ihr Gehirn beim Konsum einer stimulierenden Substanz weniger Dopamin aus als das gesunder Vergleichsprobanden. Nach zahlreichen drogenbedingten Dopaminschüben regelt das Gehirn offenbar die Rezeptoren im Striatum herunter, sodass eine geringere Menge des Neurotransmitters ausgeschüttet wird. Das könnte erklären, warum Abhängige mit der Zeit immer höhere Dosen für die gleiche Wirkung benötigen – der berühmte Toleranzeffekt.
Dopamin ist entwicklungsgeschichtlich ein alter Botenstoff, er kommt bereits in Fadenwürmern vor. Der Mensch hat rund eine Million dopaminerge Zellen im Mittelhirn, dem obersten Teil des Hirnstamms. Diese Nervenzellen nutzen Dopamin als Neurotransmitter und sind mit anderen Hirnbereichen verschaltet. Eine einzelne Dopamin produzierende Zelle im Mittelhirn kann dabei mehrere hunderttausend Verzweigungen ausbilden.
Es gibt verschiedene dopaminerge Systeme im Gehirn, die unter anderem motorische und kognitive Funktionen beeinflussen. Viele Zellkörper dopaminerger Neurone liegen in der Substantia nigra, einem Gebiet mit vielen Nervenzellkörpern im Mittelhirn. Von dort ziehen die Nervenfasern vor allem zum Striatum. Dieses Kerngebiet spielt bei der Ausführung von Bewegungen eine entscheidende Rolle. Bei Morbus Parkinson sterben Dopaminneurone in der Substantia nigra ab, weswegen es zu einem Dopaminmangel kommt, vor allem im Striatum (nigrostriatales System).
Daneben gibt es das mesolimbisch-mesokortikale Dopaminsystem. Es beginnt im sogenannten ventralen tegmentalen Areal (VTA) im Mittelhirn. Die Axone erreichen zum einen Strukturen des limbischen Systems wie den Nucleus accumbens, die Amygdala und den Hippocampus (mesolimbisches System). Zum anderen ziehen die Bahnen zum Stirnhirn, vor allem in den präfrontalen Kortex (mesokortikales System). Auf diese Weise beeinflusst Dopamin, was wir fühlen, denken, wahrnehmen und erwarten – und spielt beim Belohnungslernen und bei der Entwicklung von Süchten eine Rolle. Beispielsweise setzt das Gehirn bei der Einnahme von Drogen wie Kokain Dopamin frei. Bei chronischem Konsum verändert sich allerdings das Rezeptorsystem, was die Entstehung von Sucht begünstigt.
Andere Zellkörper der dopaminergen Zellen liegen in einem Teil des Hypothalamus. Diese Hirnregion beeinflusst verschiedene vegetative Funktionen wie die Nahrungsaufnahme oder den Schlaf-wach-Rhythmus. Die Nervenfasern ziehen in kurzen Bahnen in eine Übergangszone zwischen Hypothalamus und Hypophyse (tuberoinfundibuläres System). Dort hemmt Dopamin die Freisetzung verschiedener Hypophysenhormone, insbesondere von Prolaktin. Dieses Hormon ist etwa entscheidend für die Milchproduktion.
Böhm, S.: Dopaminerge Systeme. Pharmakologie und Toxikologie: Von den molekularen Grundlagen zur Pharmakotherapie. Springer, 2024
Süchtig nach der Dopamintheorie?
War Dopamin das fehlende magische Puzzleteil, um die tückische Wirkung von Drogen zu verstehen? Die Befunde ließen so manchen Forscher auf eine universelle Suchtformel hoffen. »Bei Sucht dreht sich alles um Dopamin«, wiederholte Nora Volkow, eine weltweit führende Drogenexpertin, bei früheren Auftritten gern. Ihr Kollege David Nutt wehrt sich gegen solche Verallgemeinerungen. Provokant fragt er, ob die Forschung selbst süchtig nach der Dopamintheorie geworden ist. In einem 2015 im Journal »Nature Reviews Neuroscience« erschienenen Artikel verdeutlicht Nutt, dass der Botenstoff Süchte nicht vollständig erklären kann. So würden Kokain und Speed zwar den Dopaminfluss im Striatum erhöhen. Aber das ist längst nicht bei allen Drogen, die abhängig machen können, so eindeutig. Auch manche Arzneien lassen das Dopamin nach oben schnellen, obwohl ihr Suchtpotenzial eher gering ist, zum Beispiel Methylphenidat, das als Ritalin zur Behandlung bei ADHS bekannt ist.
Eine Sucht lässt sich nicht einfach beenden, indem man den Betroffenen Medikamente gibt, die das Dopaminlevel erhöhen oder verringern. »Bezeichnenderweise hat die Dopamintheorie zu keinen neuen Therapieansätzen gegen Sucht geführt«, schreibt Nutt. Zum Beispiel wirkten Arzneien, die die Konzentration von Dopamin erhöhen, bei Kokainabhängigkeit nicht besser als ein Placebo.
Nutt warnt davor, Sucht mit einem einzigen Botenstoff erklären zu wollen: Nicht nur prägen auch andere Neurotransmitter die Wirkung von Drogen, etwa Gamma-Aminobuttersäure (GABA) oder Noradrenalin. Ein verengter Blick auf neurochemische Vorgänge vernachlässigt zudem, wie persönliche und soziale Probleme zu Süchten beitragen. Auch Nora Volkow schlägt inzwischen andere Töne an. Sie betont, wie Missstände in Gesundheitswesen und Wohnungsmarkt die Opioidkrise in den USA befeuerten.
Menschen werden nicht abhängig, weil sie nach immer mehr Spaß lechzen. Typisch für Sucht ist vielmehr, Dinge zu wiederholen, die keine Freude mehr bereiten
Noch unklarer ist die Situation bei pathologischen Angewohnheiten: Einige Menschen neigen zu exzessivem Shopping oder kommen nicht von Spielautomaten los. Diese Schwierigkeiten werden gern als Verhaltenssüchte bezeichnet. Doch mit Substanzproblemen lassen sie sich nicht völlig gleichsetzen. »Während Drogen direkt an Rezeptoren im Gehirn andocken, geht das bei Verhaltensweisen so nicht«, sagt Lieneke Janssen. »Es gibt Hinweise, dass Dopamin auch hierbei eine Rolle spielt. Wir wissen aber häufig nicht, ob die Änderungen im Dopaminsystem Ursache oder Folge des Problems sind.« So etwa in einer Studie, die Janssen zusammen mit anderen Forschern 2018 veröffentlichte: Das Team verglich PET-Scans von 13 männlichen Spielsüchtigen mit solchen von gesunden Personen. In einem Teil des Striatums maß das Team bei den pathologischen Spielern eine deutlich erhöhte Dopaminproduktion. Der Botenstoff ist offenbar auch für Spielprobleme relevant – aber wie? Macht ein verändertes Dopaminsystem Menschen anfälliger für diese Störung? Oder haben die vielen Stunden vorm Spielautomaten allmählich den Stoffwechsel im Gehirn verändert? Das lässt sich mit Studien dieser Art nicht zuverlässig beantworten.
Ein Neurotransmitter mit Rockstar-Status
Jenseits der Forschung führt Dopamin ein erstaunliches Eigenleben. Hier gilt das Molekül als Platzhalter für schlechte Angewohnheiten aller Art. Prominentes Beispiel ist das Dopaminfasten: Der kalifornische Psychologe Cameron Sepah präsentierte es 2019 in einem Blogartikel – und war wohl selbst überrascht, als Zeitschriften und Influencer weltweit seine Idee verbreiteten. Beim Dopaminfasten gehe es gar nicht darum, Dopamin zu reduzieren, so seine kuriose Richtigstellung. Er hätte nur nach einem griffigen Titel für seine Kur gesucht. Andere Programme werben damit, den Dopaminspiegel zu »hacken«. Beliebt ist das unter Selbstoptimierern, die ein Maximum an Arbeitskraft aus sich herauspressen wollen. Was sie dabei übersehen: Der Dopaminhaushalt reguliert sich im gesunden Gehirn von allein, ganz ohne äußeres Zutun.
»Diese Gerüchte kriegen wir kaum los«, klagt Janssen. »Leider missbrauchen auch einige Fachleute den Rockstar-Status von Dopamin, um ein Publikum zu erzeugen. Damit setzen sie das Vertrauen in die Wissenschaft aufs Spiel.« Laien können kaum erkennen, wo Forschende ihre Expertise mit privater Agenda vermengen. Ein spannender Fall ist der Bestseller »Die Dopamin-Nation« aus dem Jahr 2022. Die Autorin ist Ärztin und Professorin an der renommierten Stanford University in Kalifornien. Sie nutzt Dopamin als Chiffre für eine umfassende Kulturkritik: Die heutige Welt biete eine Überfülle schneller Verlockungen, die uns von einem erfüllten Leben abhalten würden. »Das Smartphone ist die moderne Injektionsnadel«, schreibt Anna Lembke. In ähnlicher Tonlage wettert sie gegen Videospiele, Fast Food, Cannabis und Pornokonsum.
Dopaminfasten: Auszeit von der Dauerstimulation
Mit ihren Thesen trifft die Psychiaterin einen Nerv. Viele hadern mit der Dauerstimulation der modernen Warenwelt. Große Firmen gestalten ihre Produkte gezielt so, dass man schwer von ihnen loskommt: Wer bei Netflix nur mal schnell eine Folge seiner Lieblingsserie schauen will, ist dank technischer Finessen gleich bei der nächsten. Und der nächsten. Industriell hergestellte Snacks sorgen mit einer Extradosis Zucker oder Salz dafür, dass man sie kaum beiseitelegen kann. Es mag eine gute Idee sein, sich hin und wieder eine Auszeit von diesen Verlockungen zu gönnen. Für solche Ratschläge braucht es jedoch keinen Sündenbock Dopamin, dessen Rolle hierbei unzureichend verstanden ist.
Eine Sucht entsteht nicht allein durch das Rauschmittel selbst. Vielmehr kommen in ihr tiefer liegende Lebensprobleme zum Tragen
Sind wir wirklich süchtig nach Dopamin?
Zwar stellt Lembke klar, dass der Stoff kein Glücksmolekül ist, bleibt aber im Windschatten dieser überholten Theorie. Sie prangert eine verweichlichte Gesellschaft an, die süchtig nach »billigem Dopamin« ist – und verlernt hat, für langfristige Ziele auch schmerzhafte Zustände auszuhalten. »Wir alle riskieren, uns zu Tode zu erregen«, warnt sie. Doch werden Menschen nicht abhängig, weil sie nach immer mehr Spaß lechzen. Typisch für Sucht ist vielmehr, Dinge zu wiederholen, die keine Freude (mehr) bereiten. Zahlreiche Menschen nutzen Videospiele, Fast Food, Pornos, Serien oder Social Media. Den meisten gelingt trotz aller Tücken ein gesunder Umgang damit. Beispielsweise untersuchte der Psychologe Florian Rehbein mit seinem Team 2015, wie verbreitet Probleme mit Onlinespielen sind – anhand einer repräsentativen Stichprobe von 11 000 deutschen Neuntklässlern. Rund ein Prozent kam für die Diagnose einer Computerspielstörung infrage. Bei anderen Verhaltensproblemen sind die Zahlen ebenfalls niedrig. Eine Sucht entsteht nicht allein durch das »Rauschmittel« selbst. Vielmehr kommen in ihr tiefer liegende Lebensprobleme zum Tragen. Deshalb ist es verfehlt, das Lustvolle an solchen Aktivitäten zum Problem zu erklären.
Puritanische Weltanschauung in neuem Gewand
Spaß begrenzen, um Dekadenz zu vermeiden: Das erinnert an puritanisches Gedankengut, auch wenn es nun unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit daherkommt. Die Dopamin-Rhetorik befeuert eine moralische Panik rund um die Gefahren moderner Technik. Selbst einige politische Akteure argumentieren neurochemisch. Das soll ihren Zielen die nötige wissenschaftliche Rückendeckung geben. Zwei Beispiele: Die Kampagne »Your Brain On Porn« kämpft gegen Sexvideos im Internet. Sie nutzt Dopamin als Aufhänger, um vor den Gefahren einer Pornosucht zu warnen. In den USA wollen konservative Kräfte soziale Medien für Jugendliche unter 16 komplett verbieten. »Diese Dopaminschübe machen so süchtig, es ist wie digitales Fentanyl«, mahnt die republikanische Abgeordnete Fiona McFarland laut der Zeitschrift »Politico«. In Australien hat das Parlament im November 2024 ein solches Gesetz verabschiedet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnt vor den Folgen eines pauschalen Verbots – und will die Probleme sozialer Plattformen lieber gezielt angehen.
Armes Dopamin! Das Molekül muss als Erklärung für allerlei Missstände herhalten – und Agenden rechtfertigen, die mit ihm wenig zu tun haben. Auch Fachleute haben ihre Haltung zum Dopamin bereits mehrfach korrigiert. Es taugt weder als Glückshormon noch als alleinige Erklärung für Sucht. Ähnliches gilt für andere psychische Störungen, etwa die Schizophrenie. In den 1960er Jahren glaubte man, ein Dopaminüberschuss verursache die Symptome. Später änderten Forschende ihre Ansicht: Die Betroffenen hätten in einigen Hirnarealen zu viel, in anderen zu wenig Dopamin. Auf diese Neufassung folgte eine dritte Version. Inzwischen weiß man, dass mehrere Neurotransmitter an der Krankheit beteiligt sind – ebenso wie Traumata und die soziale Umwelt der Betroffenen. Auch bei der Aufmerksamkeitsstörung ADHS lassen sich neurochemische Besonderheiten feststellen. Die genaue Rolle von Dopamin bleibt aber offen.
Überraschungsmomente mit Lerneffekt
Dopamin scheint schwer zu greifen. Manche Wissenschaftler bemühen sich dennoch um ein übergeordnetes Modell für den Neurotransmitter. Ein vielversprechender Ansatz ist der vom »reward prediction error«, übersetzt: Fehler beim Erwarten von Belohnungen. Der deutsch-britische Neuroforscher Wolfram Schultz von der University of Cambridge illustriert es mit einer kleinen Geschichte: Auf einer Japanreise steht er rätselnd vor einem Getränkeautomaten – und drückt mangels Sprachkenntnis eine beliebige Taste. Diese führt überraschenderweise zu seinem Lieblingsgetränk Johannisbeersaft. Beim nächsten Mal führt dieselbe Taste aber zu einer völlig anderen Erfrischung, was ihn enttäuscht. Laut Schultz sind solche Erwartungsbrüche wichtig, um Neues zu lernen. Den mysteriösen Automaten wird er nach einigen Fehltritten und Erfolgen wohl immer besser verstehen.
Dopamin taugt weder als Glückshormon noch als alleinige Erklärung für Sucht, Schizophrenie oder ADHS
Zahlreiche Studien legen nahe, dass Dopamin hinter dieser Art des Lernens steckt: Das Mittelhirn schüttet besonders viel davon aus, wenn ein positiver Erwartungsfehler eintritt – etwa der unverhoffte Johannisbeersaft. Manchmal kommt es hingegen zu kurzen Feuerpausen, bei denen der Dopaminspiegel kurzzeitig absinkt. Das geschieht, wenn eine Belohnung überraschend ausbleibt; das Lieblingsgetränk beispielsweise doch nicht erscheint. Interessanterweise feuern Dopaminzellen nicht erst bei ungeplantem Genuss, sondern schon bei neutralen Reizen, die ihm vorangehen (etwa bei einem blinkenden Licht am Automaten). Wenn ein angenehmes Ereignis wie erwartet eintritt, bleibt die Dopaminspitze jedoch aus. Dank dieser Mechanismen können sich Tiere wie Menschen optimal an ihre Umwelt anpassen und so ihr Überleben sichern. Süchte lassen sich als Schattenseite dieses Systems begreifen: Aufputschende Drogen mimen dank Dopaminschub einen positiven Erwartungsfehler und bringen so das Belohnungslernen durcheinander. Dies könnte es Suchtpatienten erschweren, von der Droge loszukommen.
Von einer abschließenden Formel ist auch diese Theorie weit entfernt. »Dopamin kommt in mehreren Pfaden im Hirn vor. Es hat viele Funktionen – je nachdem, wo es ausgeschüttet wird und mit welchem zeitlichen Verlauf«, erklärt Lieneke Janssen. »Es gibt einen kontinuierlichen Fluss an ›Hintergrund-Dopamin‹. Dieser ist wichtig für die generelle Motivation. Die kurzen Hochs und Tiefs entstehen wahrscheinlich durch Erwartungsfehler beim Belohnungslernen.« Auch in Zukunft wird der Stoff für die Fachwelt wohl einige Überraschungen bereithalten. Janssen warnt vor der Versuchung, nach der einen großen Antwort zu fahnden. »Warum brauchen wir überhaupt eine einheitliche Theorie?«, fragt sie. Stattdessen wirbt sie für ein anderes Bild. Sie sieht Dopamin als faszinierenden Botenstoff mit zahlreichen Facetten: ein Schweizer Taschenmesser im Gehirn.
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