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Drogen: Immun gegen Sucht

Manche Menschen konsumieren Drogen, ohne je süchtig zu werden. Andere hingegen verfallen ihnen schnell. Was unterscheidet sie?
Eine Gruppe von vier Personen sitzt an einer Bar in einem Klub oder einer Lounge. Die Szene ist in gedämpftem Licht gehalten, mit einer warmen, gemütlichen Atmosphäre. Zwei Personen unterhalten sich, während eine andere auf ihr Handy schaut und lächelt. Auf der Theke stehen Getränke, darunter Bierflaschen und Gläser. Im Hintergrund sind bunte Lichter und eine Diskokugel zu sehen, die auf eine entspannte, gesellige Umgebung hinweisen.
Viele Menschen können regelmäßig Alkohol trinken oder andere Drogen einnehmen, ohne je die Kontrolle über ihren Konsum zu verlieren.

Bei vielen Menschen gehören Drogen zum Alltag: ein Glas Wein am Abend, eine Zigarette in der Pause und am Wochenende ein Joint zum Entspannen. Auch »harte« Drogen sind durchaus kein Tabu.

Dabei wissen die meisten Konsumenten um die Gefährlichkeit der Mittel. Schnell erwächst aus dem gelegentlichen Kick die Lust auf mehr, bis man sein Verlangen irgendwann nicht mehr im Griff hat. Man nimmt den Stoff selbst dann noch, wenn die Freude daran längst erloschen ist, man sozial isoliert oder wirtschaftlich ruiniert ist. Der Drogenkonsum ist zwanghaft geworden, man ist süchtig.

Was entscheidet darüber, ob jemand süchtig wird? Da ist natürlich zunächst die Droge selbst: Das Feierabendbier wird einem bei Weitem nicht so schnell zum Verhängnis wie eine tägliche Dosis Heroin. Dann kommt es auf die Person an, die die Droge konsumiert. Denn längst nicht jeder wird süchtig – im Gegenteil: Die meisten Menschen verlieren selbst über lange Zeit nicht die Kontrolle über ihren Konsum. Warum eigentlich nicht?

Schon lange sind Mediziner und Hirnforscher auf der Suche nach Antworten. Erste Versuche unternahmen Ende der 1980er Jahre Assunta Imperato und Gaetano Di Chiara in ihrem Labor auf Sardinien. Die Pharmakologen hatten die Technik der Mikrodialyse perfektioniert, die es ihnen erlaubte, die Konzentration des Botenstoffs Dopamin in winzigen Hirnproben zu messen. Dabei stellten sie fest, dass Kokain die Dopaminmenge im Gehirn um das Dreifache ansteigen ließ. Der Effekt war am stärksten im Nucleus accumbens, einem Kern des Belohnungssystems. Ähnliches passierte nach der Einnahme von Nikotin, Alkohol, Amphetaminen und Morphium. Das Fazit der Forscher: Die belohnende Wirkung aller Drogen beruht auf der Ausschüttung von Dopamin im Gehirn. Die Experimente sind die Geburtsstunde der sogenannten »Dopaminhypothese« der Sucht.

Rund 40 Jahre später wiederholte ich mit meinem Team an der Universität Genf die Versuche von Imperato und Di Chiara mit einem anderen Messverfahren. Wir nutzten sogenannte dLight-Sensoren; das sind Proteine, die die Hirnzellen gentechnisch veränderter Labormäuse selbst herstellen. Sobald die Dopaminkonzentration steigt, beginnen die Sensoren im Gehirn zu fluoreszieren, was sich unter dem Mikroskop beobachten lässt. So konnten wir nicht nur die Ergebnisse der Italiener bestätigen, sondern zudem zeigen, dass der Effekt über mehrere Drogeninjektionen hinweg anhält.

Obwohl süchtig machende Drogen zu teils völlig unterschiedlichen pharmakologischen Substanzklassen gehören, entfalten sie im Gehirn alle dieselbe Wirkung: Sie erhöhen die Dopaminkonzentration im Nucleus accumbens. Nur der Weg dorthin unterscheidet sich. So bindet etwa Kokain an das Protein, das das freigesetzte Dopamin normalerweise wieder in die Zelle aufnimmt, und verhindert damit die Rückführung des Botenstoffs. Opiate wie Heroin, Morphium und Fentanyl dagegen stimulieren den sogenannten µ-Opiatrezeptor, der die Aktivität der Zielzelle drosselt. Da es sich dabei um ein hemmendes Neuron handelt, das den dopaminproduzierenden Zellen vorgeschaltet ist, werden diese durch die Drogen letztlich enthemmt – sie setzen sehr viel von dem Botenstoff frei. Nikotin schließlich aktiviert die Dopaminneurone direkt.

Sehr eindrücklich sind die Folgen süchtig machender Drogen für das Verhalten. Erhalten Labormäuse eine Kokaininjektion, werden sie unruhig und rennen durch ihren Käfig. Kokain zählt schließlich zu den Psychostimulanzien. Bekommen die Tiere nach Abklingen der Wirkung eine zweite Dosis, zeigen sie einen noch stärkeren Bewegungsdrang als beim ersten Mal.

Schon in den 1990er Jahren hatten Terry Robinson und Kent Berridge an der University of Michigan beobachtet, dass sich die psychomotorische Stimulation nach fünf bis zehn Injektionen verdoppelt oder sogar verdreifacht. Sie nannten das Phänomen »lokomotorische Sensibilisierung«.

Ermöglicht man es den Versuchstieren, sich die Droge über einen Schalter selbst zu injizieren, tun sie das mit der Zeit öfter – ihr Verhalten wird durch die angenehme Wirkung des Stoffs also verstärkt. Auch die verabreichte Dosis steigt weiter an, wenn die Tiere unbegrenzten Zugang zu der Substanz haben. Das fanden Serge Ahmed und George Koob im Jahr 2000 an der University of California in San Diego heraus.

Abhängig oder süchtig?

Forscher verwenden die beiden Begriffe nicht synonym. Wenn eine Droge beim Absetzen zu Entzugserscheinungen führt, spricht man von Abhängigkeit, was früher oder später bei jedem Konsumenten passiert. Doch längst nicht alle werden süchtig. Denn Sucht ist definiert durch die zwanghafte Einnahme des Stoffs, ungeachtet der negativen Konsequenzen.

Die Situation kippt allerdings rasch, wenn die Drogenzufuhr abrupt abbricht: Vor allem nach der längeren Einnahme von Opiaten stellt sich ein unangenehmes Entzugssyndrom ein, bei Menschen ebenso wie bei Labortieren. Es äußert sich unter anderem durch Unruhe, Schwitzen, Übelkeit und Herzrasen. Ratten und Mäuse schütteln sich beim Entzug von Morphium auf charakteristische Weise und springen fluchtartig umher. Dieses stereotype Entzugssyndrom definiert die Abhängigkeit und stellt einen ersten Schritt in Richtung Sucht dar.

Ein plötzlicher Stopp der Kokainzufuhr führt beim Menschen zwar nicht unbedingt zu vergleichbar schweren Symptomen, allerdings tun Süchtige alles, um das aufkommende Stimmungstief zu vermeiden. Sowohl wegen dieser negativen als auch der oben erwähnten positiven Verhaltensverstärkung gelingt es manchen Menschen nicht, von dem Stoff loszukommen.

Hauptakteur Dopamin

Die Neurobiologin Brigitte Kieffer stellte bereits 1996 an der Universität Straßburg fest, dass gentechnisch veränderte Mäuse ohne µ-Opiatrezeptoren weder durch die Einnahme von Morphium positiv verstärkt wurden noch Entzugserscheinungen beim Absetzen zeigten.

Um zu verstehen, welche Rolle das Dopamin dabei spielt, sollten wir einen Blick auf die Nervenzellen des Belohnungssystems werfen. Ende der 1990er Jahre beobachtete Wolfram Schultz an der schweizerischen Universität Freiburg die Aktivität von Dopaminneuronen im Gehirn von Rhesusaffen, und zwar im ventralen Tegmentum (VTA), einem Teil des Belohnungssystems. Ohne besondere Stimulation feuern diese Zellen spontan etwa vier- bis sechsmal pro Sekunde. Erhielten die Tiere nun aber einen Schluck süßen Fruchtsaft, erhöhte sich die Aktivität kurzzeitig. Das geschah jedoch nur, wenn die Tiere zuvor nichts von der Belohnung geahnt hatten. Lernten sie hingegen, dass dem Fruchtsaft ein Ton vorausging, reagierten die VTA-Neurone statt auf das süße Getränk nun auf den Ton, der somit die Rolle eines konditionierten Stimulus spielte. Wenn sie dann den Saft erhielten, blieb die Grundaktivität unverändert. In einer letzten Versuchsbedingung ließen die Forscher wieder den Ton erklingen, gaben den Tieren anschließend aber keinen Fruchtsaft. Jetzt verstummten die VTA-Zellen.

Wie Sucht im Gehirn entsteht | Die meisten Erkenntnisse darüber, was bei Drogensucht im Gehirn geschieht, stammen von Experimenten an Mäusen. Es ist ein ganzes Netzwerk von Hirnregionen beteiligt, die es in ähnlicher Form auch beim Menschen gibt. Zwar greifen verschiedene Drogen auf unterschiedlichen Wegen ins Dopaminsystem ein, doch alle erhöhen die Konzentra­tion des Botenstoffs im ventralen Tegmentum und im Nucleus accumbens. Das verstärkt die Synapsen im ventralen und im dorsalen Striatum, wodurch das typische Sucht­verhalten entsteht.

Aufgrund dieser Beobachtungen formulierten Wolfram Schultz und seine Kollegen 1997 die sogenannte Reward-Prediction-Hypothese: Wann immer unsere Erwartungen bezüglich einer Belohnung nicht erfüllt werden, verändert sich die Dopaminfreisetzung im Gehirn und ein Lernprozess beginnt. Wir verknüpfen die Prämie folglich mit bestimmten Hinweisen aus der Umgebung (im Affenexperiment war das der Ton). Diese machen sie vorhersehbar, woraufhin die Dopaminneurone wieder in den normalen Feuerrhythmus zurückfallen.

Was aber, wenn es sich statt um Fruchtsaft um Drogen handelt? Das untersuchten 2015 Patricia Janak und ihr Team von der Johns Hopkins University in Baltimore (USA). Das Ergebnis: Weil die Substanzen direkt auf das Belohnungssystem wirken, erhöht sich der Dopaminspiegel auch dann, wenn die Verabreichung vorher angekündigt wird. Zudem ist der Effekt stärker und hält länger an als eine Belohnung durch Fruchtsaft.

Jeglicher Hinweis auf die Droge erhält einen besonders hohen Stellenwert

Jeglicher Hinweis auf die Droge erhält damit einen besonders hohen Stellenwert. Begibt sich ein Süchtiger beispielsweise an einen Ort, an dem er schon einmal Drogen genommen hat, kann sich ein starkes Verlangen nach der Substanz einstellen; selbst Menschen, die ihre Sucht bereits überwunden haben, erleben in einer solchen Situation bisweilen einen Rückfall.

Ähnliches beobachteten Neurowissenschaftler an Nagetieren: Hat eine Ratte oder Maus die Wahl zwischen zwei Käfigabteilen, sucht sie jenes auf, in dem sie vorher Drogen erhalten hat. Und wenn während der Verabreichung des Stoffs ein Ton erklingt, wird sie später nach der Droge suchen, sobald sie das Geräusch hört – selbst wenn die Substanz schon längst nicht mehr verfügbar ist.

Was stellen Drogen mit dem Dopaminsystem an, dass sie unser Verhalten dermaßen »umkrempeln«? Wie Robert Malenka mit seinem Team von der Stanford University um die Jahrtausendwende beobachtete, verstärken alle süchtig machenden Drogen bereits nach der ersten Einnahme die neuronalen Verbindungsstellen – die Synapsen – im ventralen Tegmentum. Die Nervenfortsätze von Hirnstammkernen reichen bis in das Areal hinein, wo sie sich über Synapsen mit den Dopaminneuronen verbinden. Diese setzen bei Aktivierung den Botenstoff Glutamat frei, was die nachgeschaltete Zelle erregt.

Drogen kehren die Regeln der Plastizität um

2006 stellten wir in unserem Labor in Genf bei Mäusen fest, dass dabei bestimmte Rezeptortypen zwischen den Neuronen ausgetauscht werden, die den Zellen Kalzium zuführen. Gewöhnlich verstärkt sich eine Synapse, wenn das normalerweise negative Membranpotenzial der nachgeschalteten Nervenzelle auf nahezu null Millivolt ansteigt, während das vorgeschaltete Neuron Glutamat freisetzt. Nach Drogenkonsum ist es aber anders: Die Synapse wird nur dann verstärkt, wenn das Glutamat auf stark polarisierte Dopaminneurone trifft, das Membranpotenzial also weit im negativen Bereich liegt. Drogen kehren demnach die Regeln der synaptischen Plastizität im ventralen Tegmentum um.

Formbare Verbindungsstellen

Im Gehirn springen elektrische Impulse nicht von einer Nervenzelle zur nächsten über. An der ­Schnittstelle, der Synapse, wird das elektrische Signal in ein chemisches umgewandelt, indem die vor­geschaltete Zelle Botenstoffe freisetzt. Diese diffundieren durch den synaptischen Spalt zur Zielzelle, wo sie an Rezeptorproteine binden. Das löst einen neuen, postsynap­ti­schen Impuls aus. Der Vorgang dauert etwa eine tausendstel Sekunde und verbraucht viel Energie. Dass sich Synapsen im Lauf der Evo­lution durchgesetzt haben, liegt wohl an einer besonderen Eigenschaft: Sie sind höchst plastisch und passen sich neuen Bedingungen rasch an. So wird die Übertragung verstärkt, wenn die vor- und die nach­ge­schaltete Zelle zugleich aktiv sind. Dann werden zusätzliche Rezeptoren in die Synapse eingesetzt, was den ­»Datenstrom« erhöht.

Bei unseren Labormäusen hatte das nach einigen Tagen Auswirkungen auf den Nucleus accumbens – das Kerngebiet, in dem Nervenverbindungen vom präfrontalen Kortex und vom Hippocampus zusammentreffen. Nach mehreren Kokaininjektionen waren die Synapsen der Neurone im Nucleus accumbens verstärkt, und die Tiere zeigten die erwähnte motorische Unruhe. Sowohl der Bewegungsdrang als auch die synaptische Übertragung waren nach einer Woche erhöht, und beides normalisierte sich nach einem Monat Drogenabstinenz.

Mittels gezielter Intervention gelang es uns jedoch, die Synapsen bereits in den ersten Tagen nach ihrer Verstärkung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzuführen. Damit verschwand auch die motorische Unruhe; die Mäuse verhielten sich nach einer anschließenden Testinjektion, als hätten sie nie zuvor Kokain erhalten. Damit war klar: Das veränderte Verhalten nach Drogenkonsum hängt ursächlich mit dieser ungewöhnlichen Form der synaptischen Plastizität zusammen.

Nachdem auch andere Forschergruppen diesen Zusammenhang beobachtet hatten, erstellte ich mit meinen Kollegen 2016 ein neuronales Schaltkreismodell der Sucht. Man kann sich darunter eine anatomische Karte vorstellen, in die verschiedene Synapsen eingezeichnet sind sowie die entsprechende Verhaltensänderung, die eintritt, sobald die Synapsen verstärkt werden. Zum Beispiel enthält sie die Schaltstellen im Nucleus accumbens, deren Verstärkung mit der lokomotorischen Sensibilisierung einhergeht.

Mit dieser ersten Version des Modells ließ sich jedoch nicht erklären, warum nur ein Teil der Konsumenten süchtig wird. Wo im Gehirn wird die Entscheidung getroffen, immer wieder zur Droge zu greifen, obwohl das ganz offensichtlich schädlich ist? Bereits 2004 beobachteten Pier-Vincenzo Piazza und sein Team vom Neurocenter Magendie der Universität Bordeaux in Frankreich dieses Phänomen an Ratten: Die Tiere hatten über längere Zeit freien Zugang zu Kokain, aber es wurden lediglich etwa 20 Prozent von ihnen süchtig. Dass nur wenige Nager dem Stoff verfallen, erschwert die neuronalen Untersuchungen, denn so braucht man sehr große Versuchsgruppen, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten.

Daher entwickelten wir in unserem Labor ein neues Suchtmodell. Wir arbeiteten mit Mäusen, die über einen Hebel gezielt Dopaminneurone in ihrem eigenen ventralen Tegmentum stimulieren können. Das geschieht nicht etwa über die Injektion von Kokain, sondern über optogenetische Manipulation. Sobald die Tiere den Hebel betätigen, regt ein Laser über eine optische Faser die Dopaminneurone an. Der Effekt ist der gleiche wie nach einer Drogeninjektion: Die Mäuse drücken immer häufiger auf den Hebel. Etwa bei der Hälfte der Tiere wird das nach rund zwei Wochen zwanghaft – sie können nicht mehr davon lassen. Das sind deutlich mehr als die 20 Prozent, die Kokain verfallen.

Als wir die Hirnaktivität der zwanghaften Tiere mit jener der übrigen verglichen, fiel uns auf, dass bei ersteren der Orbitofrontalkortex stärker aktiv war. Die Zellen dieses Areals feuerten im Moment des Entschlusses, den Hebel zu betätigen, außergewöhnlich stark. Die Region ist an der Entscheidungsfindung beteiligt.

Schließlich überraschten wir die Mäuse mit einem unangenehmen Luftstoß, während sie sich selbst stimulierten. Bei den nicht zwanghaften Tieren sank daraufhin die Aktivität im Orbitofrontalkortex, und sie ließen vom Hebel ab. Die zwanghaften Nager hingegen drückten ihn munter weiter und wiesen eine unverändert hohe neuronale Aktivität in dem Areal auf.

Wer von den Drogen nicht lassen kann

Diese Beobachtung ließ uns zwar die neuronalen Mechanismen hinter der Sucht besser verstehen, doch sie beantwortete nicht, warum manche Menschen eher dazu neigen als andere. Aus der klinischen Forschung ist bekannt, dass gewisse Persönlichkeitsmerkmale damit einhergehen. So sind etwa Personen, die zu voreiligen, impulsiven Entscheidungen tendieren, besonders suchtanfällig. Das ist sogar bei Ratten so, wie Trevor Robbins und Barry Everitt von der University of Cambridge 2008 herausfanden.

Zudem ist Stress ein entscheidender Faktor. Ein aufreibendes Ereignis kann unmittelbar einen Rückfall auslösen. Bei Labormäusen genügt bisweilen die Begegnung mit einem dominanten Genossen, damit ein scheues Tier sich mehr Kokain verabreicht. Die ausgeprägte soziale Hierarchie bei Nagern begünstigt die Neigung zu Sucht.

Ein aufreibendes Ereignis kann unmittelbar einen Rückfall auslösen

Verwunderlich ist indes, dass bei Menschen, Mäusen und Ratten ein jeweils ungefähr gleich großer Anteil an Individuen die Kontrolle über den Konsum verliert: rund 20 Prozent. Die Labortiere sind sich genetisch extrem ähnlich; das Genom menschlicher Probanden hingegen variiert viel stärker. Die Neigung zur Sucht ist daher wohl eher keine Folge vererbter Dispositionen.

Möglicherweise steckt ein anderes Phänomen dahinter, das wir unter dem Begriff »Epigenetik« zusammenfassen können: Die Aktivität der Gene könnte mitbestimmen, ob der Drogenkonsum zwanghaft wird. Wie oft ein Gen abgelesen wird, hängt unter anderem von gewissen Anhängseln an der DNA ab. Das können sogenannte Methylgruppen sein, die das Ablesen erschweren, oder Azetylgruppen, die die Struktur des Erbguts so auflockern, dass es leichter zugänglich wird.

Hirnstimulation gegen das Verlangen

Welche und wie viele Anhängsel ein Gen trägt, bestimmt zudem die individuelle Lebenserfahrung. So prägen ausgesprochen einschneidende Erlebnisse, die mit großem Stress einhergehen, das Epigenom, aber auch die soziale Hierarchie in der Gruppe und andere Umwelteinflüsse. Der Neurowissenschaftler Eric Nestler von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York erforscht, ebenso wie unsere Forschungsgruppe in Genf, ob solche Veränderungen der Genstruktur die individuelle Neigung zur Sucht mitbestimmen. Ein experimenteller Beweis bahnt sich an, und erste Resultate zeigen, dass viele Gene gleichzeitig dazu beitragen (polygenes Risiko).

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die Suchttherapie? Das oberste Behandlungsziel sollte sein, die normale Funktion der Hirnschaltkreise wiederherzustellen und damit auch das Verhalten in geregelte Bahnen zu lenken. Das Medikament Baclofen beispielsweise dämpft das Craving, also das starke Verlangen nach der Droge, weil es die Aktivität der Dopaminneurone vermindert. Das kann Alkoholiker vor Rückfällen bewahren. Außerdem gibt es Substanzen, die bestimmte Formen der synaptischen Plastizität rückgängig machen. Im Tiermodell haben sie bereits Wirkung gezeigt, doch noch gibt es keine aussagekräftige Studie an Menschen.

Vielversprechend könnte zudem die direkte Stimulation der Schaltkreise mittels elektrischer oder magnetischer Impulse sein. Die tiefe Hirnstimulation nutzen Mediziner seit den 1990er Jahren zur Behandlung von Morbus Parkinson. Dabei setzen sie eine feine Elektrode ins Gehirn ein, die winzige Stromstöße an einen tiefen Hirnkern abgibt. Ein unter die Haut eingepflanzter batteriebetriebener Stimulator reguliert das System und korrigiert so die krankhafte Hirnaktivität. Dadurch verschwinden die typischen Parkinsonsymptome wie Zittern und Muskelstarre.

Das Verfahren kann auch gegen Sucht helfen, wie ich 2015 mit meiner Arbeitsgruppe an kokainsüchtigen Mäusen herausfand. Uns war es ja bereits gelungen, per gezielter optogenetischer Stimulation die durch Drogenkonsum veränderten Synapsen wieder in ihren Normalzustand zu überführen. Wir versuchten nun, die Neurone stattdessen mit vergleichbaren elektrischen Impulsen anzuregen, da man diese im Gegensatz zur optogenetischen Manipulation auch bei Menschen einsetzen könnte. Und tatsächlich: Die Wirkung war die gleiche; die Tiere verloren ihr ungebremstes Verlangen nach dem Stoff.

Die Methode hat man allerdings bisher noch nicht an Menschen getestet, unter anderem weil ein chirurgischer Eingriff für die wenigsten Süchtigen in Frage kommt. Neuere nichtinvasive Techniken wie Magnet- und Ultraschallstimulation könnten hier zum Durchbruch verhelfen. Aus diesem Grund versuchen sich mehrere Forschungsgruppen an der nichtinvasiven Magnetstimulation über die Schädeldecke. Da die Magnetfelder nicht sehr tief ins Gehirn vordringen, müssen hierbei andere, oberflächlichere Hirnareale angepeilt werden – etwa der präfrontale oder der orbitofrontale Kortex.

Das versuchten 2016 Luigi Gallimberti und sein Team von der Universitätsklinik Padua in Italien bei Kokainsüchtigen. Und sie hatten zumindest teilweise Erfolg: Mehrere der Teilnehmer berichteten, ihr Verlangen nach der Droge habe spürbar nachgelassen. Weitere klinische Tests bestätigten das Resultat.

Nicht zuletzt spielen beim alltäglichen Drogenkonsum von Menschen auch soziale Umstände eine wichtige Rolle. Neben den direkten Eingriffen in die Hirnschaltkreise der Sucht ist es daher geboten, den Betroffenen eine angemessene psychosoziale Unterstützung anzubieten.

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  • Quellen

Lüscher, C. et al., Nature Reviews Neuroscience 10.1038/s41583–020–0289-z, 2020

Lüscher, C., Janak, P., Annual Review of Neuroscience 10.1146/annurev-neuro-092920–123905, 2021

Nestler, E. J., Lüscher, C., Neuron 10.1016/j.neuron.2019.01.016, 2019

Pascoli, V. et al., Nature 10.1038/s41586–018–0789–4, 2018

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